Werner Heisenberg: Verzweifeln über Veränderungen
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Werner Heisenberg
Vielleicht ist es erlaubt, an dieser Stelle eine Geschichte aus der chassidischen Religion* zu zitieren: Es gab einen alten Rabbi, einen Priester, der für seine Weisheit berühmt war und zu dem alle Leute kamen, um Rat einzuholen. Ein Mann besuchte ihn in Verzweiflung über alle die Veränderungen, die um ihn herum vor sich gingen, und beklagte sich über all den Schaden, der durch den sogenannten technischen Fortschritt angerichtet würde. "Ist nicht all dieser technische Plunder völlig wertlos", sagte er, "wenn man an die wirklichen Werte des Lebens denkt?" Aber der Rabbi antwortete: "Von allem vermag man zu lernen, nicht bloß alles, was Gott geschaffen hat, auch alles, was der Mensch gemacht hat, vermag uns zu lehren." "Was können wir," so fragte der Mann zweifelnd, "von der Eisenbahn lernen?" "Dass man um eines Augenblicks willen alles versäumen kann." "Und vom Telegraphen?" "Dass jedes Wort gezählt und angerechnet wird." "Und vom Telephon?" "Dass man dort hört, was wir hier reden." Der Besucher verstand, was der Rabbi meinte, und ging seines Weges.
* Aus: Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim. Manesse-Verlag, Zürich 1949.
In: Werner Heisenberg: Physik und Philosophie. Kapitel 11: Die Rolle der modernen Physik in der gegenwärtigen Entwicklung des menschlichen Denkens. Ullstein-Materialien, 1959