Walter Fabian Schmid: Kommt erst mal selbst aus den Seilen
Walter Fabian Schmid
Kommt erst mal selbst aus den Seilen.
Eine Kritik an Lyrikern zur Lyrikkritik.
Eigentlich könnte man meinen, es stünde gut um die Lyrikkritik. Genauso gut, wie es von der Lyrik von Jahr zu Jahr behauptet wird, nämlich so gut wie nie zuvor. Hat doch gerade erst mit Nico Bleutge ein Lyrikkritiker den begehrtesten Preis seiner Profession bekommen. Rechnet man Insa Wilke noch dazu, die sich auch sehr um die Gattung kümmert, sind das zwei Lyrikkritiker, die in den letzten drei Jahren mit dem Alfred-Kerr-Preis ausgezeichnet wurden. Aber hier bringt sich zum Glück kein Siegeszug in Stellung wie letzten Frühling bei Jan Wagners Bepreisung. Nein, der Lyriker ist mal wieder nicht zufrieden. Er übt die übliche Kritik an der Kritik. Nur geht guter Kritik erst einmal Selbstkritik voraus und so ist auch dieser Text zu lesen.
Kritik von Lyrikern an Lyrikern (nicht für Lyriker)
Ein grosser Kritikpunkt in Tristan Marquardts Rundumschlag ist die Besprechung von Lyrikern durch Lyriker selbst. Kollegenkritik wird immer Thema bleiben und ist es schon spätestens seit Lessing. Das trifft genauso Nico Bleutge, aber wenigstens bespricht der nur mehrheitlich tote oder fremdsprachige Dichter. Damit ist unserem Problem nicht geholfen, denn Marquardt meint wohl Besprechungen innerhalb desselben Sprachraums, innerhalb einer – analog seiner so betont heterogenen Schreibweisen ebenso – heterogenen „Szene“; er hat nur vergessen, es zu schreiben. Was einerseits der „Ethik jeder Journalistenschule“ widerspreche, ist aber andererseits – solange die Ausbildung und Qualität der Kritiker nicht verbessert werde (dazu weiter unten) – anscheinend die beste Lösung, weil sich niemand mit der Lyrik so gut auskenne wie Lyriker selbst. Hmh.
Ich begeb mich in den Spalt des Widerspruchs, wo freilich jedes Reden subjektiv ist. Je besser ich den Dichter kenne, desto besser wird die Besprechung. Ob ich ihn gelesen persönlich, oder gelesen so gut wie persönlich kenne, ist mir egal. Auch egal, ob das ein Freund ist oder nicht, früher oder später – wenn wir im deutschsprachigen Raum bleiben – laufe ich dem sowieso über den Weg. Sich Kennen ist unvermeidbar, und dass man sich gut kennt, aber trotzdem harsch kritisiert, ist vielleicht für jemanden, der auf dem Land aufgewachsen ist, verständlicher (womit ich aber nicht sozialen Druck als Regulativ verteidigen will). Ich meine also: Es gibt gar keine Lyrikkritik, die nicht verschwistert ist mit Lyrikern¹. Zumindest keine ernstzunehmende. Schliesslich geht es in der Lyrik nicht darum, was gesagt wird, sondern wie. Und nur wenn ich die Vorgehensweisen und Intentionen kenne, kann ich sie vermitteln. Soziale Recherche ist da durchaus legitim. Sonst bleibt vieles Ahnung und der Lyriker muss sich zufrieden geben mit Un- und Missverstehen der Kritik. Das tut er aber nicht. In der Regel brodelt mit dem Erscheinen einer Kritik das Piranha-Becken Facebook.
Offener Austausch statt verdeckte Seilschaft
Wenn, dann braucht es eine Neu-Bestimmung dieser faktischen Verflechtung. Es braucht noch mehr Austausch. Vielleicht braucht es analog zu Vertreterkonferenzen auch Kritikerkonferenzen mit den Lyrikern selbst. Das Problem ist ja die Komplexität multipliziert mit den vielen verschiedenen Schreibweisen. Erst wenn ich den Sachverhalt genügend durchdrungen hab, kann ich mir meine eigene Meinung machen und fair beurteilen. Klar. Die Frage ist nur, wie sich das zurückwirken würde auf das Schreiben, wenn sich der Lyriker auf einmal mit ganz anderen Fragen zu seiner Poetologie konfrontiert sieht. Dafür müssten auch erst einmal die beiderseitigen Eitelkeiten abgelegt werden. Als billiger Internetrezensent bin ich dafür, aber viele Kritiker hätten wohl was dagegen, so ein „Briefing“ zu kriegen. Denn letztlich will der gesamte Text Marquardts ja eine Erziehung des Kritikers. Sehr vermessen. Ein intuitives Nein. Bei allem Austausch, bei allem, was Recht ist.
Dort, wo Marquardt die Besprechung von vermeintlich befreundeten Dichtern anklagt, würde ich offen von Seilschaft oder milder von Unprofessionalität sprechen. Aber das betrifft die ganze Bandbreite der Lyrikproduktion, -Rezeption und -Vermittlung. Da ist auch nicht zu trennen zwischen Internet und Holzweg. Wenn ich bei einer Veranstaltung zur Leipziger Buchmesse vom Moderator und Gastgeber höre, ihm gefallen hauptsächlich Gedichte, deren Dichter er auch mag, ist das so gesehen ebenso unprofessionell, weil es Rückschlüsse auf freundschaftliche Einladungsgründe zulässt. Aber genau davon reden wir hier – nämlich nicht von einem Mangel an Distanz, wie Marquardt meint, sondern von einem Mangel an Professionalität. Und unprofessionelle Schreiber wird man nicht hindern können am Schreiben, man kann nur die Herausgeber mahnen, Zweifelsfälle vor der Veröffentlichung gut zu prüfen.
Vielfalt geht nur einzeln
Das einzige, das Marquardt der Kritik wirklich inhaltlich vorwirft, und wo er nicht nur seinen allgemeinen Unmut unspezifisch kundtut, ist ihre mangelnde Aufarbeitung der lyrischen Vielfalt. Nur kann das die Kritik gar nicht leisten. Aus zu geringen Veröffentlichungsmöglichkeiten, aus Platzgründen, die ansonsten in keinem Verhältnis mehr zu anderen Künsten und Literaturgattungen stünden, sowie die Frage nach dem Medium selbst. Lesungen oder Radiobeiträge sind schlichtweg besser geeignet, um Vielfalt, die man primär erleben und nicht verstehen muss, zu vermitteln.
Wenn wir aber mal ins Innere der Zwiebel gehen, macht sogar eine Einzelbandbesprechung schon keinen Sinn. Wenn man Gesamtübersichten kritisiert, muss man auch Einzelbandbesprechungen kritisieren, denn solche sind ebenso eine Gesamtübersicht. Jedes Gedicht, falls nicht gerade ein stringentes und konsistentes Konzeptalbum vorliegt, operiert einzeln für sich auf andere Weise. Das ist ja gerade das Unzufriedenstellende als Lyrikkritiker, dass man in einer normalen Rezension einem Gedichtband nie gerecht werden kann, ihm schlichtweg nicht Herr wird, wenn man ihn in Rezensionsform bringen soll. Insofern ist die Vernachlässigung der Vielfalt seitens der Kritik genrebedingt. Um Vielfalt wirklich vor Augen zu führen eignet sich die Gegenüberstellung einzelner Gedichtbesprechungen besser. Das geschieht etwa in der Frankfurter Anthologie, der Münchner Anthologie oder den beiden Gelben Akrobaten.
Vielleicht wird deswegen auch die Reihe Hundertvierzehn Gedichte von Marquardt gelobt. Das ist schliesslich nur die Fortführung der Frankfurter Anthologie, gedreht ins Interaktive des medialen Zeitalters. Auch hier kommentieren am fleissigsten die Lyriker sich gegenseitig. Ist das kein Verstoss gegen den Pressekodex, wenn ich den Autor hinter dem Gedicht anhand seiner Schreibweise erkannt habe und trotzdem einen Kommentar darunter setze? Auch hier gilt: Man wird die Verflechtung nicht los, man muss nur lernen, sie zu akzeptieren und professionell damit umzugehen. Auf beiden Seiten. Der Dichterkollege als beleidigte Leberwurscht ist ja auch nicht schön.
Das Gefühl, das mich aber hier sowie in den Ausführungen zu „Art und Fokus von Lyrik-Rezensionen“ beschleicht, ist, dass Marquardt Interpretation mit Kritik verwechselt. Er fordert Textimmanenz angereichert mit Kontext (wobei ich mich gerade frage, ob sich das nicht widerspricht). Jedenfalls keine Hermeneutik, auf der doch die meisten Rezensionen aufbauen. Mit Textimmanenz verschärft sich aber obiges Problem, dass man keinen ganzen Gedichtband besprechen kann. Solche Forderungen an die Kritik sind einfach nicht erfüllbar. Das ist ja gerade das Problem: Will ich mich mit dem Gegenstand intensiv auseinandersetzen, dann ist eine Rezension sowieso das falsche Medium, oder will ich vermitteln? Aber Vermittlung ist vereinfachend, wobei das didaktische Gefälle in der Lyrik höher ist als in anderen literarischen Gattungen, um die Komplexität verständlich zu machen. Nur will der Lyriker im Normalfall beides: Eine intensive Auseinandersetzung mit seiner akribischen Arbeit und Vermittlung (die er allzuoft mit grösstmöglicher Aufmerksamkeit verwechselt). Das widerspricht sich. Zumindest innerhalb eines einzigen Aktes der Aufarbeitung. Deswegen zweifle ich auch an dem Vorschlag der Kurzkritiken, der beide Faktoren vernachlässigt. Was da auf Facebook wieder los wär! ... Herrlich.
Ist Lyrikkritik überhaupt erwünscht?
Das Mass der Anmassung ist wieder mal hoch. Professionellen Feuilleton-Kritikern, wozu ja auch Insa Wilke, Ilma Rakusa und Hubert Winkels vom gelobten Hundertvierzehn Gedichte gehören, wird „fehlender Sachverstand und/oder fehlendes Interesse“ vorgeworfen. Generell scheinen Kritiker schlecht qualifiziert oder schlichtweg dämlich zu sein. Gefordert werden eine bessere Ausbildung und Subventionen für das Verfassen von Kritiken. Vielmehr liegen die Probleme aber am Eigeninteresse und Durchhaltevermögen des potentiellen Kritikers und an der Infrastruktur abseits von Fachmedien.
Natürlich gibt es keine eigenen Studiengänge wie etwa für Film- und Theaterkritik, dafür wäre die Bedeutung der Subgattung Lyrikkritik zu hoch angesetzt². Die Rezensionen würde das auch nicht nur positiv verändern³, sondern so kritisch und diskussionsfreudig wie wir sind, müssten wir zum Schluss noch über Institutskritiken streiten. Studentische Proberäume gibt es dafür genug. Von der gedruckten Form, wie etwa das seit fast 30 Jahren existierende Rezensöhnchen der Studierenden an der Uni Bamberg, bis zur digitalen. Man muss sich nur mit ein paar exemplarischen Rezensionen z.B. an Thomas Anz (literaturkritik.de) oder Andreas Heidtmann (poetenladen.de) wenden. Studierende sind dort sehr willkommen. Die entscheidende Frage ist nur ein typisches Problem im Lyrikbetrieb, nämlich die nach einer freiwilligen Erklärung zur Ausbeutung. Nur dass der Kritiker zusätzlich noch Dresche bezieht. Ohne Verhaltensstörung ist das kaum auszuhalten. Da hilft auch keine finanzielle Förderung. Früher oder später ähneln die Gatekeeper-Fragen dann aber jenen, die auch der Lyriker zu hören kriegt: Schreiben Sie auch Romanrezensionen? Oder nicht mal Lust auf eine Kritik über eine „grossartige Dialektdichterin“ vor Ort? Na, eher ned.
Mal ehrlich: Wir sitzen in demselben Boot. Oder besser: Wir sitzen in zwei Booten, die in dieselbe Richtung steuern. Wir stupsen euch dauernd an, ihr tretet zurück. So kommen wir nie ans Ziel. Da muss ich mich bei vielen Reaktion ernsthaft fragen, ob Kritik überhaupt erwünscht ist. Ich habe oft nicht den Eindruck. Die Professionalitätsforderung muss auch für euch gelten. Kein Kritiker hat ernsthaft Lust auf eine E-Mail von einem Lyriker, der ihm aufzählt, was ihm an der Rezension alles nicht passt, am besten noch mit Aufforderung zur Abänderung. Alles schon mehrfach passiert. Ich selbst hab in den letzten acht Jahren schon öfter das Handtuch geschmissen. Leckts me doch am Oasch, mein Ziel ist der Leser und nicht ihr, auch wenn ihr die mehrheitlichen Leser seid. Ich hab nichts dagegen, neue Leser zu erschliessen und deswegen vermeintlich oberflächliche Dinge mit reinzupacken. Selbst in Fachmedien. Wenn, dann sehe ich meine „Dienstleistung“, wie Marquardt Kritiken deklassiert, am Leser, der das Buch noch nicht gelesen hat, aber keinesfalls am Lyriker, der im schlechtesten Fall das Buch bereits kennt oder wiederum mit dem Besprochenen befreundet ist. Die Forderung nach dieser Seite der „Dienstleistung“ steigert nur wieder das Klüngelpotential. Also raunt nur und hegt eure Probleme des Intellektualismus! Wenn auch unbequem, aber letztlich ist dieser auch nur eine Komfortzone.
Solothurn, 25. März 2016
¹ Aber die besten werden oft nicht nur wegen abgewandelten Goethe-Zitaten, sondern auch wegen Selbstinvolvierung gekündigt. So viel zur strikten Unabhängigkeitsdiktion, die ich grundsätzlich in Frage stellen möchte.
² Da lässt sich ja generell fragen, ob geschriebenen Kritiken – zumindest aus Vermittlungssicht – nicht zu viel Bedeutung beigemessen wird. Live mittels Lesungen, Festivals und Radio geht das schlichtweg besser, und wie Marquardt ja auch lobt, steigt dieser Sektor immer noch stetig an Quantität und Qualität.
³ Als Beispiel: Zu Studienzeiten sass ich in einem entsprechenden Seminar – das natürlich geöffnet war für alle Spielarten der Literaturkritik – und stellte eine Kritik zur Diskussion, von der ich meinte, sie sei eigentlich ganz leserfreundlich. Aber eine Kommilitonin, die sich auf Fantasy spezialisiert hat, meinte: „Ganz ehrlich, ich komm mir jetzt ziemlich blöd vor, ich versteh es nicht.“ Verschulte Kritiken würden wahrscheinlich noch mehr in die Didaktik gehen, weil sie anscheinend die allgemeine Leserschaft abseits von Fachmagazinen braucht – und auch Hundertvierzehn Gedichte ist ein Fachmedium. Aber Einfachheit hat nichts mit mangelndem Sachverstand zu tun. Die offene Frage bei zu starker Verschulung wäre dann, ob uns Kritiken, die nach einem gelehrten und beschränkten Methodenkanon funktionieren, nicht über die Zeit langweilen. Mir ist ein freier Umgang lieber, weil sowieso jedes Buch seine eigene Herangehensweise fordert.