Walter Benjamin: Goethes Wahlverwandtschaften
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Walter
Benjamin
Goethes
Wahlverwandtschaften
1924/25
Jula Cohn gewidmet
I
«Wer blind wählet, dem schlägt Opferdampf in die
Augen.»
Klopstock
Die vorliegende Literatur über Dichtungen legt es
nahe, Ausführlichkeit in dergleichen Untersuchungen mehr auf Rechnung eines
philologischen als eines kritischen Interesses zu setzen. Leicht könnte daher
die folgende, auch im einzelnen eingehende Darlegung der Wahlverwandtschaften
über die Absicht irre führen, in der sie gegeben wird. Sie könnte als Kommentar
erscheinen; gemeint jedoch ist sie als Kritik. Die Kritik sucht den
Wahrheitsgehalt eines Kunstwerks, der Kommentar seinen Sachgehalt. Das Verhältnis
der beiden bestimmt jenes Grundgesetz des Schrifttums, demzufolge der
Wahrheitsgehalt eines Werkes, je bedeutender es ist, desto unscheinbarer und
inniger an seinen Sachgehalt gebunden ist. Wenn sich demnach als die dauernden
gerade jene Werke erweisen, deren Wahrheit am tiefsten ihrem Sachgehalt
eingesenkt ist, so stehen im Verlaufe dieser Dauer die Realien dem
Betrachtenden im Werk desto deutlicher vor Augen, je mehr sie in der Welt
absterben. Damit aber tritt der Erscheinung nach Sachgehalt und Wahrheitsgehalt,
in der Frühzeit des Werkes geeint, auseinander mit seiner Dauer, weil der
letzte immer gleich verborgen sich hält, wenn der erste hervordringt. Mehr und
mehr wird für jeden späteren Kritiker die Deutung des Auffallenden und
Befremdenden, des Sachgehaltes, demnach zur Vorbedingung. Man darf ihn mit dem
Paläographen vor einem Pergamente vergleichen, dessen verblichener Text
überdeckt wird von den Zügen einer kräftigern Schrift, die auf ihn sich
bezieht. Wie der Paläograph mit dem Lesen der letztern beginnen müßte, so der
Kritiker mit dem Kommentieren. Und mit einem Schlag entspringt ihm daraus ein
unschätzbares Kriterium seines Urteils: nun erst kann er die kritische
Grundfrage stellen, ob der Schein des Wahrheitsgehaltes dem Sachgehalt oder das
Leben des Sachgehaltes dem Wahrheitsgehalt zu verdanken sei. Denn indem sie im
Werk auseinandertreten, entscheiden sie über seine Unsterblichkeit. In diesem
Sinne bereitet die Geschichte der Werke ihre Kritik vor und daher vermehrt die
historische Distanz deren Gewalt. Will man, um eines Gleichnisses willen, das
wachsende Werk als den flammenden Scheiterhaufen ansehn, so steht davor der
Kommentator wie der Chemiker, der Kritiker gleich dem Alchimisten. Wo jenem
Holz und Asche allein die Gegenstände seiner Analyse bleiben, bewahrt für
diesen nur die Flamme selbst ein Rätsel: das des Lebendigen. So fragt der
Kritiker nach der Wahrheit, deren lebendige Flamme fortbrennt über den schweren
Scheitern des Gewesenen und der leichten Asche des Erlebten.
Dem Dichter wie dem Publikum seiner Zeit wird
sich nicht zwar das Dasein, wohl aber die Bedeutung der Realien im Werke
zumeist verbergen. Weil aber nur von ihrem Grunde das Ewige des Werkes sich
abhebt, umfaßt jede zeitgenössische Kritik, so hoch sie auch stehen mag, in ihm
mehr die bewegende als die ruhende Wahrheit, mehr das zeitliche Wirken als das
ewige Sein. Doch wie wertvoll immer Realien für die Deutung des Werkes sein
mögen – kaum braucht es gesagt zu werden, daß das Goethesche Schaffen nicht wie
das eines Pindar sich betrachten läßt. Vielmehr war gewiß nie eine Zeit, der
mehr als Goethes der Gedanke fremd gewesen ist, daß die wesentlichsten Inhalte
des Daseins in der Dingwelt sich auszuprägen, ja ohne solche Ausprägung sich
nicht zu erfüllen vermögen. Kants kritisches Werk und Basedows Elementarwerk,
das eine dem Sinn, das andere der Anschauung der damaligen Erfahrung gewidmet,
geben auf sehr verschiedene, doch gleichermaßen bündige Weise Zeugnis von der
Armseligkeit ihrer Sachgehalte. In diesem bestimmenden Zuge der deutschen –
wenn nicht der gesamteuropäischen – Aufklärung darf eine unerläßliche
Vorbedingung des Kantischen Lebenswerks einerseits, des Goetheschen Schaffens
andererseits erblickt werden. Denn genau um die Zeit, da Kants Werk vollendet
und die Wegekarte durch den kahlen Wald des Wirklichen entworfen war, begann
das Goethesche Suchen nach den Samen ewigen Wachstums. Es kam jener Richtung
des Klassizismus, welche weniger das Ethische und Historische zu erfassen
suchte als das Mythische und Philologische. Nicht auf die werdenden Ideen,
sondern auf die geformten Gehalte, wie sie Leben und Sprache verwahrten, ging
ihr Denken. Nach Herder und Schiller nahmen Goethe und Wilhelm von Humboldt die
Führung. Wenn der erneuerte Sachgehalt, der in Goethes Altersdichtungen vorlag,
seinen Zeitgenossen entging, wo er nicht wie im Divan sich betonte, so kam
dies, ganz im Gegensatz zur entsprechenden Erscheinung im antiken Leben, daher,
daß selbst das Suchen nach einem solchen denselben fremd war.
Wie klar in den erhabensten Geistern der
Aufklärung die Ahnung des Gehalts oder die Einsicht in die Sache war, wie
unfähig dennoch selbst sie, zur Anschauung des Sachgehalts sich zu erheben,
wird angesichts der Ehe zwingend deutlich. An ihr als einer der strengsten und
sachlichsten Ausprägungen menschlichen Lebensgehalts bekundet zugleich am
frühesten, in den Goetheschen Wahlverwandtschaften, sich des Dichters neue, auf
synthetische Anschauung der Sachgehalte hingewendete Betrachtung. Kants
Definition der Ehe aus der »Metaphysik der Sitten«, deren einzig als Exempel
rigoroser Schablone oder als Kuriosum der senilen Spätzeit hin und wieder
gedacht wird, ist das erhabenste Produkt einer ratio, welche, unbestechlich
treu sich selber, in den Sachverhalt unendlich tiefer eindringt, als
gefühlvolles Vernünfteln tut. Zwar bleibt der Sachgehalt selbst, welcher allein
philosophischer Anschauung – genauer: philosophischer Erfahrung – sich ergibt,
beiden verschlossen, aber wo das eine ins Bodenlose führt, trifft die andere
genau auf den Grund, wo die wahre Erkenntnis sich bildet. Sie erklärt demnach
die Ehe als »die Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum
[lebenswierigen] wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften. – Der
Zweck Kinder zu erzeugen und zu erziehen mag immer ein Zweck der Natur sein, zu
welchem sie die Neigung der Geschlechter gegen einander einpflanzte; aber daß
der Mensch, der sich verehelicht, diesen Zweck sich vorsetzen müsse, wird zur
Rechtmäßigkeit dieser seiner Verbindung nicht erfordert; denn sonst würde, wenn
das Kinderzeugen aufhört, die Ehe sich zugleich von selbst auflösen«. Freilich
war es der ungeheuerste Irrtum des Philosophen, daß er meinte, aus dieser
Definition, die er von der Natur der Ehe gab, ihre sittliche Möglichkeit, ja
Notwendigkeit durch Ableitung darlegen und dergestalt ihre rechtliche
Wirklichkeit bestätigen zu können. Ableitbar aus der sachlichen Natur der Ehe
wäre ersichtlich nur ihre Verworfenheit – und darauf läuft es bei Kant
unversehens hinaus. Allein das ist ja das Entscheidende, daß niemals ableitbar
ihr Gehalt sich zur Sache verhält, sondern daß er als das Siegel erfaßt werden
muß, das sie darstellt. Wie die Form eines Siegels unableitbar ist aus dem
Stoff des Wachses, unableitbar aus dem Zweck des Verschlusses, unableitbar
sogar aus dem Petschaft, wo konkav ist, was dort konvex, wie es erfaßbar erst
demjenigen ist, der jemals die Erfahrung des Siegelns hatte und evident erst
dem, der den Namen kennt, den die Initialen nur andeuten, so ist abzuleiten der
Gehalt der Sache weder aus der Einsicht in ihren Bestand, noch durch die
Erkundung ihrer Bestimmung, noch selbst aus der Ahnung des Gehalts, sondern
erfaßbar allein in der philosophischen Erfahrung ihrer göttlichen Prägung,
evident allein der seligen Anschauung des göttlichen Namens. Dergestalt fällt
zuletzt die vollendete Einsicht in den Sachgehalt der beständigen Dinge mit
derjenigen in ihren Wahrheitsgehalt zusammen. Der Wahrheitsgehalt erweist sieh
als solcher des Sachgehalts. Dennoch ist ihre Unterscheidung – und mit ihr die
von Kommentar und von Kritik der Werke – nicht müßig, sofern Unmittelbarkeit zu
erstreben nirgends verworrener als hier, wo das Studium der Sache und ihrer
Bestimmung wie die Ahnung ihres Gehalts einer jeden Erfahrung vorherzugehen
haben. In solcher sachlichen Bestimmung der Ehe ist Kants Thesis vollendet und
im Bewußtsein ihrer Ahnungslosigkeit erhaben. Oder vergißt man, über seine
Sätze belustigt, was ihnen vorhergeht? Der Beginn jenes Paragraphen lautet:
»Geschlechtsgemeinschaft (commercium sexuale) ist der wechselseitige Gebrauch,
den ein Mensch von eines andern Geschlechtsorganen und -vermögen macht (usus
membrorum et facultatum sexualium alterius), und entweder ein natürlicher
(wodurch seinesgleichen erzeugt werden kann) oder unnatürlicher Gebrauch und
dieser entweder an einer Person ebendesselben Geschlechts oder einem Tier von
einer anderen als der Menschengattung«. So Kant. Hält man diesem Abschnitt der
»Metaphysik der Sitten« Mozarts Zauberflöte zur Seite, so scheinen die
extremsten und zugleich die tiefsten Anschauungen sich darzustellen, die das
Zeitalter von der Ehe besaß. Denn die Zauberflöte hat, soweit überhaupt einer
Oper das möglich ist, gerade die eheliche Liebe zu ihrem Thema. Dies scheint
selbst Cohen, mit dessen später Schrift über Mozarts Operntexte sich die beiden
genannten Werke in einem so würdigen Geiste begegnen, nicht durchaus erkannt zu
haben. Weniger das Sehnen der Liebenden als die Standhaftigkeit der Gatten ist
der Inhalt der Oper. Es ist nicht nur, einander zu gewinnen, daß sie Feuer und
Wasser durchschreiten sollen, sondern um auf immer vereinigt zu bleiben. Hier
ist, so sehr der Geist der Freimaurerei alle sachlichen Bindungen auflösen
mußte, die Ahnung des Gehalts zum reinsten Ausdruck im Gefühl der Treue
gekommen.
Ist wirklich Goethe in den Wahlverwandtschaften
dem Sachgehalt der Ehe näher als Kant und Mozart? Leugnen müßte man es
schlechtweg, wollte man ernsthaft, im Gefolge der ganzen Goethephilologie,
Mittlers Worte darüber für solche des Dichters nehmen. Nichts erlaubt diese
Annahme, allzuvieles erklärt sie. Suchte doch der schwindelnde Blick einen
Anhalt in dieser Welt, die wie in Strudeln kreisend versinkt. Da waren nur die
Worte des verkniffenen Polterers, die man froh war nehmen zu können wie man sie
fand. »Wer mir den Ehstand angreift, rief er aus, wer mir durch Wort, ja durch
Tat diesen Grund aller sittlichen Gesellschaft untergräbt, der hat es mit mir
zu tun; oder wenn ich sein nicht Herr werden kann, habe ich nichts mit ihm zu
tun. Die Ehe ist der Anfang und der Gipfel aller Kultur. Sie macht den Rohen
mild, und der Gebildetste hat keine bessere Gelegenheit, seine Milde zu
beweisen. Unauflöslich muß sie sein, denn sie bringt so vieles Glück, daß alles
einzelne Unglück dagegen gar nicht zu rechnen ist. Und was will man von Unglück
reden? Ungeduld ist es, die den Menschen von Zeit zu Zeit anfällt, und dann
beliebter, sich unglücklich zu finden. Lasse man den Augenblick vorübergehen,
und man wird sich glücklich preisen, daß ein so lange Bestandnes noch besteht.
Sich zu trennen, gibt's gar keinen hinlänglichen Grund. Der menschliche Zustand
ist so hoch in Leiden und Freuden gesetzt, daß gar nicht berechnet werden kann,
was ein Paar Gatten einander schuldig werden. Es ist eine unendliche Schuld,
die nur durch die Ewigkeit abgetragen werden kann. Unbequem mag es manchmal
sein, das glaub ich wohl, und das ist eben recht. Sind wir nicht auch mit dem
Gewissen verheiratet, das wir oft gerne los sein möchten, weil es unbequemer
ist, als uns je ein Mann oder eine Frau werden könnte?« Hier hätte nun selbst
denen, die den Pferdefuß des Sittenstrengen nicht sahen, zu denken geben
müssen, daß nicht einmal Goethe, der oft skrupellos genug sich erwiesen hat,
wenn es galt, den Bedenklichen heimzuleuchten, auf die Worte Mittlers zu deuten
verfallen ist. Vielmehr ist es höchst bezeichnend, daß jene Philosophie der Ehe
einer zum besten gibt, der ehelos selber lebend als der tiefststehende unter
allen Männern des Kreises erscheint. Wo irgend bei wichtigen Anlässen er seiner
Rede den Lauf läßt, ist sie fehl am Ort, sei es bei der Taufe des Neugeborenen,
sei es beim letzten Weilen der Ottilie mit den Freunden. Und wird dort das
Abgeschmackte in ihr hinreichend an den Wirkungen fühlbar, so hat nach seiner
berühmten Apologie der Ehe Goethe geschlossen: »So sprach er lebhaft und hätte
wohl noch lange fortgesprochen«. Unbeschränkt läßt sich in der Tat solche Rede
verfolgen, die, um mit Kant zu sprechen, ein »ekelhafter Mischmasch« ist,
»zusammengestoppelt« aus haltlosen humanitären Maximen und trüben, trügerischen
Rechtsinstinkten. Niemandem sollte das Unreine darin entgehen, jene
Gleichgültigkeit gegen die Wahrheit im Leben der Gatten. Alles läuft auf den
Anspruch der Satzung hinaus. Doch hat in Wahrheit die Ehe niemals im Recht die
Rechtfertigung, das wäre als Institution, sondern einzig als ein Ausdruck für
das Bestehen der Liebe, die ihn von Natur im Tode eher suchte als im Leben. Dem
Dichter jedoch blieb in diesem Werk die Ausprägung der Rechtsnorm unerläßlich.
Wollte er doch nicht, wie Mittler, die Ehe begründen, vielmehr jene Kräfte
zeigen, welche im Verfall aus ihr hervorgehn. Dieses aber sind freilich die
mythischen Gewalten des Rechts und die Ehe ist in ihnen nur Vollstreckung eines
Unterganges, den sie nicht verhängt. Denn nur darum ist ihre Auflösung
verderblich, weil nicht höchste Mächte sie erwirken. Und allein in diesem
aufgestörten Unheil liegt das unentrinnbar Grauenvolle des Vollzugs. Damit aber
rührte Goethe in der Tat an den sachlichen Gehalt der Ehe. Denn wenn auch
unverbildet diesen darzutun in seinem Sinne nicht lag, so bleibt die Einsicht
in das untergehende Verhältnis gewaltig genug. Im Untergange erst wird es das
rechtliche als das Mittler es hochhält. Goethen aber fiel es, wiewohl er von
dem moralischen Bestande dieser Bindung eine reine Einsicht gewiß nie gewonnen,
doch nicht bei, die Ehe im Eherecht zu begründen. Es ist die Moralität der Ehe
für ihn im tiefsten und verschwiegenen Grunde am wenigsten zweifelsfrei
gewesen. Was er im Gegensatz zu ihr an der Lebensform des Grafen und der
Baronesse darzulegen wünscht, ist das Unmoralische nicht so sehr als das
Nichtige. Dies eben bezeugt sich darin, daß sie weder der sittlichen Natur
ihres gegenwärtigen Verhältnisses sich bewußt sind, noch der rechtlichen
derjenigen, aus denen sie getreten sind. – Der Gegenstand der
Wahlverwandt-schaften ist nicht die Ehe. Nirgends wären ihre sittlichen Gewalten
darin zu suchen. Von Anfang an sind sie im Verschwinden, wie der Strand unter
Wassern zur Flutzeit. Kein sittliches Problem ist hier die Ehe und auch kein
soziales. Sie ist keine bürgerliche Lebensform. In ihrer Auflösung wird alles
Humane zur Erscheinung und das Mythische verbleibt allein als Wesen.
Dem widerspricht freilich der Augenschein. Nach
ihm ist eine höhere Geistigkeit in keiner Ehe denkbar als in der, wo selber der
Verfall es nicht vermag, die Sitte der Betroffenen zu mindern. Aber im Bereich
der Gesittung ist das Edle an ein Verhältnis der Person zur Äußerung gebunden.
Es steht, wo nicht die edle Äußerung jener gemäß, der Adel in Frage. Und dieses
Gesetz, dessen Geltung man freilich unbeschränkt nicht ohne großen Irrtum
nennen dürfte, erstreckt sich über den Bereich der Gesittung hinaus. Gibt es
ohne Frage Äußerungsbereiche, deren Inhalte unangesehen dessen gelten, der sie
ausprägt, ja sind dies die höchsten, so bleibt jene bindende Bedingung
unverbrüchlich für das Gebiet der Freiheit im weitesten Sinne. Ihm gehört die
individuelle Ausprägung des Schicklichen, ihm die individuelle Ausprägung des
Geistes an: alles dasjenige, was Bildung genannt wird. Die bekunden die
Vertrauten vor allem. Ist das wahrhaft ihrer Lage gemäß? Weniger Zögern möchte
Freiheit, weniger Schweigen möchte Klarheit, weniger Nachsicht die Entscheidung
bringen. So wahrt Bildung ihren Wert nur da, wo ihr freisteht, daß sie sich
bekunde. Dies erweist auch sonst die Handlung deutlich.
Ihre Träger sind, als gebildete Menschen, fast
frei vom Aberglauben. Wenn er bei Eduard hin und wieder hervortritt, so anfangs
nur in der liebenswerteren Form eines Hangens an den glücklichen Vorzeichen,
während einzig der banalere Charakter Mittlers, trotz dem selbstgenügsamen
Gebaren, Spuren jener eigentlich abergläubischen Angst vor den bösen Omen
erblicken läßt. Ihn als einzigen hält nicht die fromme sondern abergläubische
Scheu davor zurück, Friedhofsgrund wie anderen zu betreten, indessen den Freunden
weder dort zu lustwandeln anstößig, noch zu schalten verboten scheint. Ohne
Bedenken, ja ohne Rücksicht werden die Grabsteine an der Kirchenmauer
aufgereiht und der geebnete Grund, den ein Fußpfad durchzieht, bleibt zur
Kleesaat dem Geistlichen überlassen. Keine bündigere Lösung vom Herkommen ist
denkbar, als die von den Gräbern der Ahnen vollzogene, die im Sinne nicht nur
des Mythos sondern der Religion den Boden unter den Füßen der Lebenden gründen.
Wohin führt ihre Freiheit die Handelnden? Weit entfernt, neue Einsichten zu
erschließen, macht sie sie blind gegen dasjenige, was Wirkliches dem
Gefürchteten einwohnt. Und dies daher, weil sie ihnen ungemäß ist. Nur die
strenge Bindung an ein Ritual, die Aberglaube einzig heißen darf, wo sie ihrem
Zusammenhange entrissen rudimentär überdauert, kann jenen Menschen Halt gegen
die Natur versprechen, in der sie leben. Geladen, wie nur mythische Natur es
ist, mit übermenschlichen Kräften, tritt sie drohend ins Spiel. Wessen Macht,
wenn nicht ihre, ruft den Geistlichen hinab, welcher auf dem Totenacker seinen
Klee baute? Wer, wenn nicht sie, stellt den verschönten Schauplatz in ein
fahles Licht? Denn ein solches durchwaltet – eigentlicher oder umschriebener
verstanden – die ganze Landschaft. An keiner Stelle erscheint sie im
Sonnenlicht. Und niemals, soviel auch vom Gute gesprochen wird, ist von seinen
Saaten die Rede oder von ländlichen Geschäften, die nicht der Zierde, sondern
dem Unterhalt dienten. Die einzige Andeutung derart – Aussicht auf die Weinlese
– führt vom Schauplatz der Handlung fort auf das Gut der Baronin. Desto
deutlicher spricht die magnetische Kraft des Erdinnern. Von ihr hat in der
Farbenlehre – um dieselbe Zeit möglicherweise – Goethe gesagt, daß die Natur
dem Aufmerksamen »nirgends tot noch stumm; ja dem starren Erdkörper hat sie
einen Vertrauten zugegeben, ein Metall, an dessen kleinsten Teilen wir
dasjenige, was in der ganzen Masse vorgeht, gewahr werden sollten«. Mit dieser
Kraft haben Goethes Menschen Gemeinschaft und im Spiel mit dem Unten gefallen
sie sich wie in ihrem Spiel mit dem Oben. Und doch, was sind zuletzt ihre
unermüdlichen Anstalten zu dessen Verschönerung anderes als der Wandel von
Kulissen einer tragischen Szene. So manifestiert sich ironisch eine verborgene
Macht in dem Dasein der Landedelleute.
Ihren Ausdruck trägt wie das Tellurische so das
Gewässer. Nirgends verleugnet der See seine unheilvolle Natur unter der toten
Fläche des Spiegels. Von dem »dämonisch-schauerlichen Schicksal, das um den
Lustsee waltet«, spricht bezeichnend eine ältere Kritik. Das Wasser als das
chaotische Element des Lebens droht hier nicht in wüstem Wogen, das dem
Menschen den Untergang bringt, sondern in der rätselhaften Stille, die ihn zu
Grunde gehn läßt. Die Liebenden gehen, soweit Schicksal waltet, zu Grunde. Sie
verfallen, wo sie den Segen des festen Grundes verschmähen, dem
Unergründlichen, das im stehenden Gewässer vorweltlich erscheint. Buchstäblich
sieht man dessen alte Macht sie beschwören. Denn zuletzt läuft jene Vereinigung
der Wasser, wie sie schrittweis festem Lande Abbruch tut, auf die
Wiederherstellung des einstigen Bergsees hinaus, der sich in der Gegend befand.
In alledem ist die Natur es selbst, die unter Menschenhänden übermenschlich
sich regt. In der Tat: sogar der Wind, »der den Kahn nach den Platanen treibt«,
»erhebt sich« – wie der Rezensent der »Kirchenzeitung« höhnisch mutmaßt –
»wahrscheinlich auf Befehl der Sterne«.
Die Menschen selber müssen die Naturgewalt
bekunden. Denn sie sind ihr nirgends entwachsen. Ihnen gegenüber macht dies die
besondere Begründung jener allgemeinern Erkenntnis aus, nach welcher die
Gestalten keiner Dichtung je der sittlichen Beurteilung unterworfen sein
können. Und zwar nicht, weil sie, wie die von Menschen, alle Menscheneinsicht
überstiege. Vielmehr untersagen bereits die Grundlagen solcher Beurteilung
deren Beziehung auf Gestalten unwidersprechlich. Die Moralphilosophie hat es
stringent zu erweisen, daß die erdichtete Person immer zu arm und zu reich ist,
sittlichem Urteil zu unterstehen. Vollziehbar ist es nur an Menschen. Von ihnen
unterscheidet die Gestalten des Romans, daß sie völlig der Natur verhaftet
sind. Und nicht sittlich über sie zu befinden, sondern das Geschehn moralisch
zu erfassen, ist geboten. Töricht bleibt, wie Solger, später auch Bielschowsky
es getan, ein verschwommenes sittliches Geschmacksurteil, das sich nie
hervorwagen dürfte, da an Tag zu legen, wo es noch am ersten den Beifall
erhaschen kann. Die Figur des Eduard tut es niemand zu Dank. Aber wieviel
tiefer als jene sieht Cohen, dem es – nach den Darlegungen seiner »Ästhetik« –
sinnlos gilt, Eduards Erscheinung in dem Ganzen des Romans zu isolieren. Dessen
Unzuverlässigkeit, ja Roheit ist der Ausdruck flüchtiger Verzweiflung in einem
verlorenen Leben. Er erscheint »in der ganzen Disposition dieser Verbindung
genau so, wie er sich selbst« Charlotten gegenüber »bezeichnet: ›Denn
eigentlich hänge ich doch nur von Dir ab‹. Er ist der Spielball, nicht zwar für
die Launen, die Charlotte überhaupt nicht hat, aber für das Endziel der
Wahlverwandtschaften, auf das ihre zentrale Natur mit ihrem festen Schwerpunkt
aus allen Schwankungen heraus hinstrebt«.
Von Anfang an stehen die Gestalten
unter dem Banne von Wahlverwandtschaften. Aber ihre wundersamen Regungen
begründen, nach Goethes tiefer, ahnungsvoller Anschauung, nicht ein
inniggeistiges Zusammenstimmen der Wesen, sondern einzig die besondere Harmonie
der tiefern natürlichen Schichten. Diese nämlich sind mit der leisen
Verfehltheit gemeint, die jenen Fügungen ohne Ausnahme anhaftet. Wohl paßt
Ottilie sich Eduards Flötenspiel an, aber es ist falsch. Wohl duldet Eduard
lesend bei Ottilie, was er Charlotten verwehrte, aber es ist eine Unsitte. Wohl
fühlt er sich wunderbar von ihr unterhalten, aber sie schweigt. Wohl leiden
selbst die beiden gemeinsam, aber es ist nur ein Kopfschmerz. Nicht natürlich
sind diese Gestalten, denn Naturkinder sind – in einem fabelhaften oder
wirklichen Naturzustande – Menschen. Sie jedoch unterstehen auf der Höhe der
Bildung den Kräften, welche jene als bewältigt ausgibt, ob sie auch stets sich
machtlos erweisen mag, sie niederzuhalten. Für das Schickliche ließen, sie
ihnen Gefühl, für das Sittliche haben sie es verloren. Nicht ein Urteil über
ihr Handeln ist hier gemeint, sondern eines über ihre Sprache. Denn fühlend
doch taub, sehend doch stumm gehen sie ihren Weg. Taub gegen Gott und stumm
gegen die Welt. Rechenschaft mißlingt ihnen nicht durch ihr Handeln sondern
durch ihr Sein. Sie verstummen.
Nichts bindet den Menschen so sehr an die Sprache
wie sein Name. Kaum in irgend einer Literatur wird es eine Erzählung vom Umfang
der Wahlverwandtschaften geben, in der so wenige Namen sich finden. Diese
Kargheit der Namengebung ist einer Deutung außer jener landläufigen fähig, die
da auf die Goethesche Neigung zu typischem Gestalten verweist. Sie gehört
vielmehr innigst zum Wesen einer Ordnung, deren Glieder unter einem namenlosen
Gesetze dahinleben, einem Verhängnis, das ihre Welt mit dem matten Licht der
Sonnenfinsternis erfüllt. Alle Namen, bis auf den des Mittler, sind bloße
Taufnamen. In diesem ist keine Spielerei, mithin keine Anspielung des Dichters
zu sehen, sondern eine Wendung, die das Wesen des Trägers unvergleichlich
sicher bezeichnet. Er hat als ein Mann zu gelten, dessen Selbstliebe keine
Abstraktion von den Andeutungen gestattet, die ihm in seinem Namen gegeben
scheinen und der ihn damit entwürdigt. Sechs Namen finden sich außer dem seinen
in der Erzählung: Eduard, Otto, Ottilie, Charlotte, Luciane und Nanny. Von
diesen ist aber der erste gleichsam unecht. Er ist willkürlich, seines Klanges
wegen gewählt worden, ein Zug, in dem durchaus eine Analogie zum Versetzen der
Grabsteine erblickt werden darf. Auch schließt sich eine Vorbedeutung an den
Doppelnamen, denn es sind seine Initialen E und O, die eins der Gläser aus des
Grafen Jugendzeit zum Pfande seines Liebesglücks bestimmen.
Nie ist die Fülle vorverkündender und paralleler
Züge im Roman den Kritikern entgangen. Sie gilt als nächstgelegner Ausdruck
seiner Art schon längst für genugsam gewürdigt. Dennoch scheint – von seiner
Deutung völlig abgesehen – wie tief er das gesamte Werk durchdringt, nie voll
erfaßt. Erst wenn dies aufgehellt im Blickfeld steht wird klar, daß weder ein
bizarrer Hang des Autors, noch gar bloße Spannungssteigerung darinnen liegt.
Dann erst tritt auch genauer an den Tag, was diese Züge allermeist enthalten.
Es ist eine Todessymbolik. »Daß es zu bösen Häusern hinaus gehn muß, sieht man
ja gleich im Anfang« heißt es mit einer seltsamen Redewendung bei Goethe. (Sie
ist möglicherweise astrologischen Urprungs; das Grimmsche Wörterbuch kennt sie
nicht.) Bei anderer Gelegenheit hat der Dichter auf das Gefühl der »Bangigkeit«
hingewiesen, das mit dem moralischen Verfall in den Wahlverwandtschaften beim
Leser sich einfinden soll. Auch daß Goethe Gewicht darauf legte, »wie rasch und
unaufhaltsam er die Katastrophe herbeigeführt« wird berichtet. In den
verborgensten Zügen ist das ganze Werk von jener Symbolik durchwebt. Ihre
Sprache aber nimmt allein das Gefühl, dem sie vertraut ist, mühelos in sich
auf, wo der gegenständlichen Auffassung des Lesers nur erlesene Schönheiten
sich bieten. An wenigen Stellen hat Goethe auch ihr einen Hinweis gegeben und
dies sind im Ganzen die einzigen geblieben, die bemerkt wurden. Sie schließen
sich alle an die Episode vom kristallnen Becher an, der, zum Zerschellen
bestimmt, im Wurfe aufgefangen und erhalten wird. Es ist das Bauopfer, das bei
der Einweihung des Hauses zurückgewiesen wird, das Ottiliens Sterbehaus ist.
Aber auch hier wahrt Goethe das verborgene Verfahren, da er aus dem freudigen
Überschwang die Gebärde herleitet, welche dieses Zeremonial vollzieht.
Deutlicher ist eine Gräbermahnung in den freimaurerisch gestimmten Worten der
Grundsteinlegung enthalten: »Es ist ein ernstes Geschäft und unsere Einladung
ist ernsthaft: denn diese Feierlichkeit wird in der Tiefe begangen. Hier innerhalb
dieses engen ausgegrabenen Raumes erweisen sie uns die Ehre, als Zeugen unsers
geheimnisvollen Geschäftes zu erscheinen.« Aus der freudig begrüßten Erhaltung
des Bechers geht das große Motiv der Verblendung hervor. Gerade dieses Zeichen
des verschmähten Opfers sucht mit allen Mitteln Eduard sich zu sichern. Um
hohen Preis bringt er es nach dem Feste an sich. Sehr mit Grund heißt es in
einer alten Besprechung: »Aber seltsam und schauerlich! Wie die nicht
beachteten Vorbedeutungen alle eintreffen, so wird diese eine beachtete
trügerisch befunden.« Und an solchen unbeachteten fehlt es in der Tat nicht.
Die drei ersten Kapitel des zweiten Teils sind ganz erfüllt von Zurüstungen und
Gesprächen um das Grab. Merkwürdig ist im Verlaufe der letzteren die frivole,
ja banale Deutung des de mortius nihil nisi bene. »Ich hörte fragen, warum man
von den Toten so unbewunden Gutes sage, von den Lebenden immer mit einer
gewissen Vorsicht. Es wurde geantwortet: weil wir von jenen nichts zu
befürchten haben und diese uns noch irgendwo in den Weg kommen könnten.« Wie
scheint auch hier ironisch sich ein Schicksal zu verraten, durch das die
Redende, Charlotte, es erfährt, wie strenge ihr zwei Verstorbene den Weg
vertreten. Tage, die auf den Tod vordeuten, sind die drei, auf welche das
Geburtstagsfest der Freunde fällt. Wie die Grundsteinlegung an Charlottens, so
muß auch das Richtfest an Ottiliens Geburtstag unter unglücklichen Zeichen sich
vollziehen. Dem Wohnhaus ist kein Segen verheißen. Friedlich aber weiht an
Eduards Geburtstag seine Freundin das vollführte Grabhaus. Ganz eigen wird
gegen ihr Verhältnis zur entstehenden Kapelle, deren Bestimmung freilich noch
unausgesprochen ist, das der Luciane zu dem Grabmal des Mausolos gestellt.
Mächtig bewegt den Erbauer Ottiliens Wesen, unvermögend bleibt Lucianens
Bemühen bei verwandtem Anlaß seinen Anteil zu wecken. Dabei ist das Spiel am
Tage und der Ernst geheim. Solche verborgene doch entdeckt darum nur um so
schlagendere Gleichheit liegt auch in dem Motiv der Kästchen vor. Dem Geschenk
an Ottilie, das den Stoff ihres Totengewandes enthält, entspricht des
Architekten Behältnis mit den Funden aus Vorzeitgräbern. Von »Handelsleuten und
Modehändlern« ist das eine erstanden, von dem andern heißt es, daß sein Inhalt
durch die Anordnung »etwas Putzhaftes« annahm, daß »man mit Vergnügen darauf,
wie auf die Kästchen eines Modehändlers hinblickte«.
Auch das dergestalt einander Entsprechende – im
Genannten immer Todessymbole – ist nicht leichthin, wie es R. M. Meyer
versucht, durch die Typik Goethescher Gestaltung zu erklären. Vielmehr ist erst
dann die Betrachtung am Ziel, wenn sie als schicksalhaft jene Typik erkennt.
Denn die »ewige Wiederkunft alles Gleichen«, wie es vor dem innerlichst
verschiednen Fühlen starr sich durchsetzt, ist das Zeichen des Schicksals, mag
es nun im Leben vieler sich gleichen oder in dem Einzelner sich wiederholen.
Zweimal bietet Eduard dem Geschick sein Opfer an: im Kelch das erste Mal,
danach – wenn auch nicht mehr willig – im eignen Leben. Diesen Zusammenhang
erkennt er selbst. »Ein Glas mit unserm Namenszug bezeichnet, bei der
Grundsteinlegung in die Lüfte geworfen, ging nicht zu Trümmern; es ward
aufgefangen und ist wieder in meinen Händen. So will ich mich denn selbst, rief
ich mir zu, als ich an diesem einsamen Ort so viel zweifelhafte Stunden verlebt
hatte, mich selbst will ich an die Stelle des Glases zum Zeichen machen, ob
unsere Verbindung möglich sei oder nicht. Ich gehe hin und suche den Tod, nicht
als ein Rasender, sondern als einer der zu leben hofft.« Auch in der Zeichnung
des Krieges, in den er sich wirft, hat man jene Neigung zum Typus als
Kunstprinzip wiedergefunden. Aber selbst hier ließe sich fragen, ob nicht auch
deswegen diesen Goethe so allgemein behandelt hat, weil der verhaßte gegen
Napoleon ihm vorschwebte. Wie dem auch sei: nicht ein Kunstprinzip allein,
sondern ein Motiv des schicksalhaften Seins vor allem ist in jener Typik zu
erfassen. Diese schicksalhafte Art des Daseins, die in einem einzigen
Zusammenhang von Schuld und Sühne lebende Naturen umschließt, hat der Dichter
durch das Werk hin entfaltet. Sie aber ist nicht, wie Gundolf meint, der des
Pflanzendaseins zu vergleichen. Kein genauerer Gegensatz zu ihr ist denkbar.
Nein, nicht »nach Analogie des Verhältnisses von Keim, Blüte und Frucht ist
auch Goethes Gesetzesbegriff, sein Schicksal- und Charakterbegriff in den
Wahlverwandtschaften zu denken«. Goethes so wenig wie irgend ein anderer, der
stichhaltig wäre. Denn Schicksal (ein anderes ist es mit dem Charakter)
betrifft das Leben unschuldiger Pflanzen nicht. Nichts ist diesem ferner.
Unaufhaltsam dagegen entfaltet es sich im verschuldeten Leben. Schicksal ist
der Schuldzusammenhang von Lebendigem. So hat es Zelter in diesem Werke
berührt, wenn er, die »Mitschuldigen« damit vergleichend, von dem Lustspiel
bemerkt: »doch ist es eben darum von keiner angenehmen Wirkung, weil es vor
jede Tür tritt, weil es die Guten mittrifft, und so habe ich es mit den
Wahlverwandtschaften verglichen, wo auch die Besten was zu verheimlichen haben
und sich selber anklagen müssen nicht auf dem rechten Weg zu sein.« Sichrer
kann das Schicksalhafte nicht bezeichnet werden. Und so erscheint es in den
Wahlverwandtschaften: als die Schuld, die am Leben sich forterbt. »Charlotte
wird von einem Sohne entbunden. Das Kind ist aus der Lüge geboren. Zum Zeichen
dessen trägt es die Züge des Hauptmanns und Ottiliens. Es ist als Geschöpf der
Lüge zum Tode verurteilt. Denn nur die Wahrheit ist wesenhaft. Die Schuld an
seinem Tode muß auf die fallen, die ihre Schuld an seiner innerlich unwahren
Existenz nicht durch Selbstüberwindung gesühnt haben. Das sind Ottilie und
Eduard. – So ungefähr wird das naturphilosophisch – ethische Schema gelautet
haben, das Goethe sich für die Schlußkapitel entwarf.« Soviel ist an dieser
Vermutung Bielschowskys unumstößlich: daß es ganz der Schicksalsordnung
entspricht, wenn das Kind, das neugeboren in sie eintritt, nicht die alte
Zerrissenheit entsühnt, sondern deren Schuld ererbend vergehen muß. Nicht von
sittlicher ist hier die Rede – wie könnte das Kind sie erwerben – sondern von
natürlicher, in die Menschen nicht durch Entschluß und Handlung, sondern durch
Säumen und Feiern geraten. Wenn sie, nicht des Menschlichen achtend, der
Naturmacht verfallen, dann zieht das natürliche Leben, das im Menschen sich die
Unschuld nicht länger bewahrt als es an ein höheres sich bindet, dieses hinab.
Mit dem Schwinden des übernatürlichen Lebens im Menschen wird sein natürliches
Schuld, ohne daß es im Handeln gegen die Sittlichkeit fehle. Denn nun steht es
in dem Verband des bloßen Lebens, der am Menschen als Schuld sich bekundet. Dem
Unglück, das sie über ihn heraufbeschwört, entgeht er nicht. Wie jede Regung in
ihm neue Schuld, wird jede seiner Taten Unheil auf ihn ziehen. Dies nimmt in
jenem alten Märchenstoff vom Überlästigen der Dichter auf, in dem der
Glückliche, der allzu reichlich gibt, das Fatum unauflöslich an sich fesselt.
Auch dies das Gebaren des Verblendeten.
Ist der Mensch auf diese Stufe gesunken, so
gewinnt selbst Leben scheinbar toter Dinge Macht. Sehr mit Recht hat Gundolf
auf die Bedeutung des Dinghaften im Geschehen hingewiesen. Ist doch ein
Kriterium der mythischen Welt jene Einbeziehung sämtlicher Sachen ins Leben.
Unter ihnen war von jeher die erste das Haus. So rückt hier im Maße wie das
Haus vollendet wird das Schicksal nah. Grundsteinlegung, Richtfest und
Bewohnung bezeichnen ebensoviele Stufen des Unterganges. Einsam, ohne Blick auf
Siedelungen liegt das Haus, und fast unausgestattet wird es bezogen,. Auf
seinem Altan erscheint, indes sie abwesend ist, Charlotte, in weißem Kleide,
der Freundin. Auch der Mühle im schattigen Waldgrund ist zu gedenken, wo zum
ersten Male die Freunde sich im Freien versammelt haben. Die Mühle ist ein
altes Symbol der Unterwelt. Mag sein, daß es aus der auflösenden und
verwandelnden Natur des Mahlens sich herschreibt.
Notwendig müssen in diesem Kreis die Gewalten obsiegen,
die im Zerfallen der Ehe an Tag treten. Denn es sind eben jene des Schicksals.
Die Ehe scheint ein Geschick, mächtiger als die Wahl, der die Liebenden
nachhängen. »Ausdauern soll man da, wo uns mehr das Geschick als die Wahl
hingestellt. Bei einem Volke, einer Stadt, einem Fürsten, einem Freunde, einem
Weibe festhalten, darauf Alles beziehen, deshalb Alles wirken, Alles entbehren
und dulden, das wird geschätzt«. So faßt Goethe in dem Aufsatz über Winckelmann
den in Rede stehenden Gegensatz. Vom Geschick her ermessen ist jede Wahl
»blind« und führt blindlings ins Unheil. Ihr steht mächtig genug die verletzte
Satzung entgegen, um zur Sühne der gestörten Ehe das Opfer zu fordern. Unter
der mythischen Urform des Opfers also erfüllt sich die Todessymbolik in diesem
Geschick. Dazu vorbestimmt ist Ottilie. Als eine Versöhnerin »steht Ottilie da
in dem herrlichen« (lebenden) »Bilde; sie ist die Schmerzensreiche, die
Betrübte, der das Schwert durch die Seele dringt« sagt Abeken in der vom
Dichter so bewunderten Besprechung. Ähnlich Solgers gleich gemächlicher und von
Goethe gleich geachteter Versuch. »Sie ist ja das wahre Kind der Natur und ihr
Opfer zugleich.« Beiden Rezensenten mußte doch der Gehalt des Vorgangs völlig
entgehen, weil sie nicht vom Ganzen der Darstellung sondern von dem Wesen der
Heldin ausgingen. Nur im ersten Falle gibt sich das Verscheiden der Ottilie
unverkennbar als Opferhandlung. Daß ihr Tod – wenn nicht im Sinn des Dichters
so gewiß in dem entschiedeneren seines Werks – ein mythisches Opfer ist,
erweist ein Doppeltes zur Evidenz. Zunächst: es ist dem Sinn der Romanform
nicht allein entgegen, den Entschluß, aus dem Ottiliens tiefstes Wesen wie
sonst nirgends spräche, ganz in Dunkelheit zu hüllen, nein, auch dem Ton der
Dichtung scheint es fremd, wie unvermittelt, fast brutal sein Werk an den Tag
tritt. Sodann: was jene Dunkelheit verbirgt, geht deutlich doch aus allem
Übrigen hervor – die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit des Opfers nach den
tiefsten Intentionen dieses Romans. Also nicht allein als »Opfer des Geschicks«
fällt Ottilie – geschweige, daß sie wahrhaft selbst »sich opfert« – sondern
unerbittlicher, genauer, als das Opfer zur Entsühnung der Schuldigen. Die Sühne
nämlich ist im Sinne der mythischen Welt, die der Dichter beschwört, seit jeher
der Tod der Unschuldigen. Daher stirbt Ottilie, wundertätige Gebeine
hinterlassend, trotz ihres Freitods als Märtyrerin.
Nirgends ist zwar das Mythische der höchste
Sachgehalt, überall aber ein strenger Hinweis auf diesen. Als solchen hat es
Goethe zur Grundlage seines Romans gemacht. Das Mythische ist der Sachgehalt
dieses Buches: als ein mythisches Schattenspiel in Kostümen des Goetheschen
Zeitalters erscheint sein Inhalt. Es liegt nahe, an eine so befremdende
Auffassung dasjenige zu halten, was Goethe über sein Werk gedacht hat. Nicht
als ob mit des Dichters Äußerungen der Kritik ihre Bahn vorgezeichnet sein
müßte; doch je mehr sie sich von diesen entfernt, desto weniger wird sie der
Aufgabe sich entziehen wollen, auch sie aus den gleichen verborgenen Ressorts
wie das Werk zu verstehen. Das einzige Prinzip für ein solches Verständnis
freilich kann darin nicht liegen. Biographisches nämlich, das in Kommentar und
Kritik gar nicht eingeht, hat hier seine Stelle. Goethes Auslassungen über
diese Dichtung sind mitbestimmt durch das Streben, zeitgenössischen Urteilen zu
begegnen. Daher wäre ein Blick auf diese angezeigt, auch wenn nicht ein viel
näheres Interesse, als dieser Hinweis es bezeichnet, die Betrachtung an sie
weisen würde. Unter den Stimmen der Zeitgenossen wiegen wenig diejenigen –
meist anonymer Beurteiler – die das Werk mit der konventionellen Achtung
begrüßen, die schon damals jedem Goetheschen geschuldet wurde. Wichtig sind die
ausgeprägten Sätze, wie sie unterm Namen einzelner hervorragender
Berichterstatter erhalten sind. Sie sind darum nicht untypisch. Vielmehr gab es
gerade unter ihren Schreibern am ersten solche, die das auszusprechen wagten,
was Geringere nur aus Achtung vor dem Dichter nicht bekennen wollten. Dieser
hat nichtsdestoweniger die Gesinnung seines Publikums gefühlt und aus bittrer,
unverfälschter Rückerinnerung gemahnt er 1827 Zeltern, daß es, wie er sich wohl
erinnern werde, gegen seine Wahlverwandtschaften sich »wie gegen das Kleid des
Nessus gebärdet« habe. Kopfscheu, dumpf, wie geschlagen stand es vor einem
Werke, in dem es nur die Hilfe aus den Wirrnissen des eignen Lebens suchen zu
sollen meinte, ohne selbstlos in das Wesen eines fremden sich versenken zu
wollen. Hierfür ist das Urteil in Frau von Staёls »De l'Allemagne«
repräsentativ. Es lautet: »On ne saurait nier qu'il n'y ait dans ce livre … une
profonde connaissance du coeur humain, mais une connaissance decourageante; la
vie y est representee comme une chose assez indifferente, de quelque maniere
qu'on la passe; triste quand on l'approfondit, assez agreable quand on
l'esquive, susceptible de maladies morales qu'il faut guerir si l'on peut, et
dont il faut mourir si l'on n'en peut guerir.« Nachdrücklicher scheint etwas
Ähnliches mit Wielands lakonischer Wendung bezeichnet zu sein – sie ist einem
Brief entnommen, dessen Adressatin unbekannt ist –: »ich gestehe Ihnen, meine
Freundin, daß ich dieses wirklich schauerliche Werk nicht ohne warmen Anteil zu
nehmen gelesen habe.« Die sachlichen Motive einer Ablehnung, die dem gemäßigten
Befremden kaum bewußt sein mochten, treten kraß in dem Verdikt der kirchlichen
Partei zutage. Den begabteren Fanatikern in ihr konnten die offenkundigen
paganischen Tendenzen in dem Werke nicht entgehen. Denn wiewohl der Dichter
jenen finstern Mächten alles Glück der Liebenden zum Opfer gab, vermißte ein
untrüglicher Instinkt das Göttlich-Transzendente des Vollzugs. Konnte doch ihr
Untergang in diesem Dasein nicht genügen – was verbürgte, daß sie in einem
höheren nicht triumphierten? Ja schien nicht eben dies Goethe in den
Schlußworten andeuten zu wollen? Eine »Himmelfahrt der bösen Lust« nennt daher
F. H. Jacobi den Roman. In seiner evangelischen Kirchenzeitung gab Hengstenberg
noch ein Jahr vor Goethes Tode wohl die breiteste Kritik von allen. Seine
aufgestachelte Empfindung, welcher keinerlei Esprit zu Hilfe kommt, bot ein
Muster hämischer Polemik dar. Weit jedoch bleibt dies alles hinter Werner
zurück. Zacharias Werner, dem im Augenblick seiner Bekehrung am wenigsten der
Spürsinn für die düstern Ritualtendenzen dieses Ablaufs fehlen konnte, sandte
an Goethe – gleichzeitig mit der Nachricht von dieser – sein Sonett »Die Wahlverwandtschaften«
– eine Prosa, der in Brief und Gedicht noch nach hundert Jahren der
Expressionismus nichts Arrivierteres an die Seite zu setzen hätte. Spät genug
merkte Goethe, woran er war und ließ dieses denkwürdige Schreiben den Schluß
des Briefwechsels bilden. Das beiliegende Sonett lautet:
Die WahlverwandtschaftenVorbei an Gräbern und an LeichensteinenDie schön vermummt die sichre Beut' erwartenHin schlängelt sich der Weg nach Edens GartenWo Jordan sich und Acheron vereinen.Erbaut auf Triebsand will getürmt erscheinenJerusalem; allein die gräßlich zartenMeernixe, die sechstausend Jahr schon harrten.Lechzen im See, durch Opfer sich zu reinen.Da kommt ein heilig freches Kind gegangen,Des Heiles Engel trägts, den Sohn der Sünden.Der See schlingt alles! Weh uns! – Es war Scherz!Will Helios die Erde denn entzünden?Er glüht ja nur sie liebend zu umfangen!Du darfst den Halbgott lieben. zitternd Herz!
Eins scheint gerade aus dergleichen tollem,
würdelosen Lob und Tadel zu erhellen: daß der mythische Gehalt des Werkes den
Zeitgenossen Goethes nicht der Einsicht, aber dem Gefühl nach gegenwärtig war.
Dem ist heute anders, da die hundertjährige Tradition ihr Werk vollzogen und
die Möglichkeit ursprünglicher Erkenntnis fast verschüttet hat. Wird doch, wenn
ein Werk von Goethe heute seinen Leser fremd anmutet oder feindlich, bald
benommenes Schweigen sich dessen bemächtigen und den wahren Eindruck ersticken.
– Mit unverhohlener Freude begrüßte Goethe die beiden, die solchem Urteil
entgegen, wenn auch schwächlich, sich hören ließen. Solger war der eine, Abeken
der andere. Was die wohlmeinenden Worte des Letzteren betrifft, so ruhte Goethe
nicht eher, bis die Form einer Kritik ihnen verliehen war, in der sie an
sichtbarer Stelle erschienen. Denn in ihnen fand er das Humane betont, das die
Dichtung so planvoll zur Schau stellt. Niemandem scheint es mehr den Blick auf
den Grundgehalt getrübt zu haben, als Wilhelm von Humboldt: »Schicksal und
innere Notwendigkeit vermisse ich vor allen Dingen darin « urteilt er seltsam
genug.
Dem Streit der Meinungen nicht schweigend
zufolgen, hatte Goethe einen doppelten Anlaß. Er hatte sein Werk zu verteidigen
– das war der eine. Er hatte dessen Geheimnis zu wahren – das war der andere.
Beide wirken zusammen, um seiner Erklärung einen ganz anderen Charakter zu
geben als jenen der Deutung. Sie hat einen apologetischen und mystifizierenden
Zug, welche sich treff1ich in ihrem Hauptstück vereinigen. Man könnte es die
Fabel von der Entsagung nennen. An ihr fand Goethe den gegebenen Halt, dem Wissen
tiefem Zugang zu versagen. Zugleich war sie auch als Erwiderung auf so manchen
philiströsen Angriff zu verwenden. So hat sie Goethe in dem Gespräch
verlautbart. das durch Riemers Überlieferung fürder das traditionelle Bild von
dem Roman bestimmte. Dort sagt er: der Kampf des Sittlichen mit der Neigung ist
»hinter die Szene verlegt und man sieht, daß er vorgegangen sein müsse. Die
Menschen betragen sich wie vornehme Leute, die bei allem innern Zwiespalt doch
das äußere Decorum behaupten. – Der Kampf des Sittlichen eignet sich niemals zu
einer ästhetischen Darstellung. Denn entweder siegt das Sittliche oder es wird
überwunden. Im ersteren Falle weiß man nicht, was und warum es dargestellt
worden; im andern ist es schmählich. das mit anzusehen; denn am Ende muß doch
irgendein Moment dem Sinnlichen das Übergewicht über das Sittliche geben, und
eben dieses Moment gibt der Zuschauer gerade nicht zu, sondern verlangt ein
noch schlagenderes, das der Dritte immer wieder eludiert, je sittlicher er
selbst ist. – In solchen Darstellungen muß stets das Sinnliche Herr werden;
aber bestraft durch das Schicksal, d. h. durch die sittliche Natur, die sich
durch den Tod ihre Freiheit salviert. – So muß der Werther sich erschießen,
nachdem er die Sinnlichkeit Herr über sich werden lassen. So muß Ottilie
χαϱτεϱieren und Eduard desgleichen, nachdem sie ihrer Neigung freien Lauf
gelassen. Nun feiert erst das Sittliche seinen Triumph.« Auf diese zweideutigen
Sätze wie auch sonst auf jeden Drakonismus, den er im Gespräch hierüber zu betonen
liebte, mochte Goethe pochen, da dem rechtlichen Vergehen in der Verletzung der
Ehe, der mythischen Verschuldung, ihre Sühne mit dem Untergang der Helden so
reichlich verliehen war. Nur daß dies in Wahrheit nicht Sühne aus der
Verletzung, sondern Erlösung aus der Verstrickung der Ehe war. Nur daß allen
jenen Worten zum Trotz zwischen Pflicht und Neigung ein Kampf weder sichtbar
noch heimlich sich abspielt. Nur daß niemals triumphierend hier das Sittliche,
sondern einzig und allein im Unterliegen lebt. So liegt der moralische Gehalt
dieses Werkes in viel tiefern Schichten als es Goethes Worte vermuten lassen.
Ihre Ausflüchte sind weder möglich noch nötig. Denn nicht allein unzulänglich
sind seine Erörterungen in ihrem Gegensatz zwischen Sinnlichem und Sittlichem,
sondern offenkundig unhaltbar in ihrer Ausschließung des innern ethischen
Kampfes als eines Gegenstandes dichterischen Bildens. Was bliebe anders wohl
vom Drama, vom Roman selbst übrig? Wie aber auch moralisch der Gehalt dieser
Dichtung sich fassen lasse – ein fabula docet enthält sie nicht und in der
matten Mahnung zur Entsagung, mit welcher die gelehrige Kritik seit jeher ihre
Abgründe und Gipfel nivellierte, ist sie von fern nicht berührt. Zudem ist von
Mézières bereits mit Recht auf die epikuräische Tendenz, die Goethe dieser
Haltung leiht, verwiesen worden. Daher trifft viel tiefer das Geständnis aus
dem »Briefwechsel mit einem Kinde«, und nur widerstrebend läßt man von der
Wahrscheinlichkeit sich überzeugen, daß Bettina, der dieser Roman in vieler
Hinsicht fern stand, es erdichtet hat. Dort steht, er habe sich »hier die
Aufgabe gemacht, in diesem einen erfundenen Geschick wie in einer Grabesurne
die Tränen für manches Versäumte zu sammeln«. Man nennt aber das, dem man
entsagte, nicht Versäumtes. So ist denn wohl nicht Entsagung in so manch einem
Verhältnis seines Lebens das erste in Goethe gewesen sondern die Versäumnis.
Und als er die Unwiederbringlichkeit des Versäumten, die Unwiederbringlichkeit
aus Versäumnis erkannte, da erst mag ihm die Entsagung sich ergeben haben und
ist nur der letzte Versuch, Verlorenes im Gefühl noch zu umfangen. Das mag auch
Minna Herzlieb gegolten haben.
Das Verständnis der Wahlverwandtschaften aus des
Dichters eigenen Worten darüber erschließen zu wollen, ist vergebene Mühe.
Gerade sie sind ja dazu bestimmt, der Kritik den Zugang zu verlegen. Dafür aber
ist der letzte Grund nicht die Neigung Torheit abzuwehren. Vielmehr liegt er
eben in dem Streben, alles jenes unvermerkt zu lassen, was des Dichters eigene
Erklärung verleugnet. Der Technik des Romans einerseits, dem Kreise der Motive
andererseits war ihr Geheimnis zu wahren. Der Bereich poetischer Technik bildet
die Grenze zwischen einer oberen, freiliegenden und einer tieferen, verborgenen
Schichtung der Werke. Was der Dichter als seine Technik bewußt hat, was auch
schon der zeitgenössischen Kritik grundsätzlich erkennbar als solche, berührt
zwar die Realien im Sachgehalt, bildet aber die Grenze gegen ihren
Wahrheitsgehalt, der weder dem Dichter noch der Kritik seiner Tage restlos
bewußt sein kann. In der Technik, welche – zum Unterschied von der Form – nicht
durch den Wahrheitsgehalt, sondern durch die Sachgehalte allein entscheidend
bestimmt wird, sind diese notwendig bemerkbar. Denn dem Dichter ist die
Darstellung der Sachgehalte das Rätsel, dessen Lösung er in der Technik zu
suchen hat. So konnte Goethe sich durch die Technik der Betonung der mythischen
Mächte in seinem Werke versichern. Welche letzte Bedeutung sie haben, mußte ihm
wie dem Zeitgeist entgehn. Diese Technik aber suchte der Dichter als sein
Kunstgeheimnis zu hüten. Hierauf scheint es anzuspielen, wenn er sagt, er habe
den Roman nach einer Idee gearbeitet. Diese darf als technische begriffen
werden. Anders wäre kaum der Zusatz verständlich, der den Wert von solchem
Vorgehn in Frage stellt. Sehr wohl aber ist begreiflich, daß dem Dichter die
unendliche Subtilität, die die Fülle der Beziehung in dem Buch verbarg, einmal
zweifelhaft erscheinen konnte. »Ich hoffe, Sie sollen meine alte Art und Weise
darin finden. Ich habe viel hineingelegt, manches hineinversteckt. Möge auch
Ihnen dies offenbare Geheimnis zur Freude gereichen.« So schreibt Goethe an
Zelter. Im gleichen Sinne pocht er auf den Satz, daß in dem Werke mehr
enthalten sei »als irgend jemand bei einmaligem Lesen aufzunehmen imstande
wäre«. Deutlicher als alles spricht aber die Vernichtung der Entwürfe. Denn es
möchte schwerlich Zufall sein, daß von diesen nicht einmal ein Bruchstück
aufbehalten blieb. Vielmehr hat der Dichter offenbar ganz vorsätzlich alles
dasjenige zerstört, was die durchaus konstruktive Technik des Werkes gezeigt
hätte. – Ist das Dasein der Sachgehalte dergestalt versteckt, so verbirgt ihr
Wesen sich selbst. Alle mythische Bedeutung sucht Geheimnis. Daher konnte
gerade von diesem Werk Goethe selbstgewiß sagen, das Gedichtete behaupte sein
Recht wie das Geschehene. Solches Recht wird hier in der Tat, in dem
sarkastischen Sinne des Satzes, nicht der Dichtung sondern dem Gedichteten
verdankt – der mythischen Stoffschicht des Werkes. In diesem Bewußtsein durfte
Goethe unnahbar, zwar nicht über, jedoch in seinem Werke verharren, gemäß den
Worten, welche Humboldts kritische Sätze beschließen: »Ihm aber darf man so
etwas nicht sagen. Er hat keine Freiheit über seine eigenen Sachen und wird
stumm, wenn man im Mindesten tadelt.«
So steht Goethe im Alter aller Kritik gegenüber:
als Olympier. Nicht im Sinne des leeren epitheton ornans oder schön
erscheinender Gestalt, den die Neuern ihm geben. Dieses Wort – Jean Paul wird
es zugeschrieben – bezeichnet die dunkle, in sich selbst versunkene, mythische
Natur, die in sprachloser Starre dem Goetheschen Künstlertum innewohnt. Als
Olympier hat er den Grundbau des Werkes gelegt und mit kargen Worten das
Gewölbe geschlossen.
In dessen Dämmerung trifft der Blick auf das, was
am verborgensten in Goethe ruht. Solche Züge und Zusammenhänge, die im Lichte
der alltäglichen Betrachtung sich nicht zeigen, werden klar. Und wiederum ist
es allein durch sie, wenn mehr und mehr der paradoxe Schein von der
vorangegangenen Deutung schwindet. So erscheint ein Urgrund Goetheschen
Forschens in Natur nur hier. Dieses Studium beruht auf bald naivem, bald auch
wohl bedachterem Doppelsinn in dem Naturbegriff. Er bezeichnet nämlich bei
Goethe sowohl die Sphäre der wahrnehmbaren Erscheinungen wie auch die der
anschaubaren Urbilder. Niemals hat doch Goethe Rechenschaft von dieser
Synthesis erbringen können. Vergebens suchen seine Forschungen statt
philosophischer Ergründung den Erweis für die Identität der beiden Sphären
empirisch durch Experimente zu führen. Da er die »wahre« Natur nicht
begrifflich bestimmte, ist er ins fruchtbare Zentrum einer Anschauung niemals
gedrungen, die ihn die Gegenwart »wahrer« Natur als Urphänomen in ihren
Erscheinungen suchen hieß, wie er in den Kunstwerken sie voraussetzte. Solger
gewahrt diesen Zusammenhang, der insbesondere gerade zwischen den
Wahlverwandtschaften und Goethescher Naturforschung besteht, wie ihn auch die
Selbstanzeige betont. Bei ihm heißt es: »Die Farbenlehre hat mich …
gewissermaßen überrascht. Weiß Gott, wie ich mir vorher gar keine bestimmte
Erwartung davon gebildet hatte; meistens glaubte ich bloße Experimente darin zu
finden. Nun ist es ein Buch, worin die Natur lebendig, menschlich und unumgänglich
geworden ist. Mich dünkt, es gibt auch den Wahlverwandtschaften einiges Licht.«
Die Entstehung der Farbenlehre ist auch zeitlich der des Romans benachbart.
Goethes Forschungen im Magnetismus vollends greifen deutlich in das Werk selbst
ein. Diese Einsicht in Natur, an der der Dichter die Bewährung seiner Werke
stets vollziehen zu können glaubte, vollendete seine Gleichgültigkeit gegen
Kritik. Ihrer bedurfte es nicht. Die Natur der Urphänomene war der Maßstab,
ablesbar jeden Werkes Verhältnis zu ihr. Aber auf Grund jenes Doppelsinns im
Naturbegriff wurde zu oft aus den Urphänomenen als Urbild die Natur als das
Vorbild. Niemals wäre diese Ansicht mächtig geworden, wenn – in Auflösung der
gedachten Äquivokation – es sich Goethe erschlossen hätte, daß adäquat im
Bereich der Kunst allein die Urphänomene – als Ideale – sich der Anschauung
darstellen, während in der Wissenschaft die Idee sie vertritt, die den
Gegenstand der Wahrnehmung zu bestrahlen, doch in der Anschauung nie zu wandeln
vermag. Die Urphänomene liegen der Kunst nicht vor, sie stehen in ihr. Von
Rechts wegen können sie niemals Maßstäbe abgeben. Scheint bereits in dieser
Kontamination des reinen und empirischen Bereichs die sinnliche Natur den
höchsten Ort zu fordern, so triumphiert ihr mythisches Gesicht in der
Gesamterscheinung ihres Seins. Es ist für Goethe nur das Chaos der Symbole. Als
solche nämlich treten bei ihm ihre Urphänomene, in Gemeinschaft mit den andern
auf, wie so deutlich unter den Gedichten das Buch »Gott und Welt« es vorstellt.
Nirgends hat der Dichter je versucht, eine Hierarchie der Urphänomene zu
begründen. Seinem Geiste stellt die Fülle ihrer Formen nicht anders sich dar
als dem Ohre die verworrene Tonwelt. In dieses Gleichnis mag erlaubt sein, eine
Schilderung, die er von ihr bietet, zu wenden, weil sie selbst so deutlich wie
nur weniges den Geist, in dem er die Natur betrachtet, kund gibt. »Man schließe
das Auge, man öffne, man schärfe das Ohr, und vom leisesten Hauch bis zum
wildesten Geräusch, vom einfachsten Klang bis zur höchsten Zusammenstimmung,
von dem heftigsten leidenschaftlichen Schrei bis zum sanftesten Worte der
Vernunft ist es nur die Natur, die spricht, ihr Dasein, ihre Kraft, ihr Leben
und ihre Verhältnisse offenbart, so daß ein Blinder, dem das unendlich
Sichtbare versagt ist, im Hörbaren ein unendlich Lebendiges fassen kann.« Wenn
im extremsten Sinne also selbst die »Worte der Vernunft« zum Habe der Natur
geschlagen werden, was Wunder, wenn für Goethe der Gedanke niemals ganz das
Reich der Urphänomene durchleuchtete. Damit aber beraubte er sich der
Möglichkeit Grenzen zu ziehen. Unterscheidungslos verfällt das Dasein dem
Begriffe der Natur, der ins Monströse wächst, wie das Fragment von 1780 lehrt.
Und zu den Sätzen dieses Bruchstücks – »der Natur« – hat Goethe noch im späten
Alter sich bekannt. Ihr Schlußwort lautet: »Sie hat mich hereingestellt, sie
wird mich auch herausführen. Ich vertraue mich ihr. Sie mag mit mir schalten;
sie wird ihr Werk nicht hassen. Ich sprach nicht von ihr; nein, was wahr ist
und was falsch ist, Alles hat sie gesprochen. Alles ist ihre Schuld, Alles ist
ihr Verdienst.« In dieser Weltbetrachtung ist das Chaos. Denn darein mündet
zuletzt das Leben des Mythos, welches ohne Herrscher oder Grenzen sich selbst
als die einzige Macht im Bereiche des Seienden einsetzt.
Die Abkehr von aller Kritik und die Idololatrie
der Natur sind die mythischen Lebensformen im Dasein des Künstlers. Daß sie in
Goethe eine höchste Prägnanz erhalten, dies wird man im Namen des Olympiers
bedeutet sehn dürfen. Er bezeichnet zugleich im mythischen Wesen das Lichte.
Aber ein Dunkles entspricht ihm, das aufs Schwerste das Dasein des Menschen
beschattet hat. Davon lassen sich Spuren in »Wahrheit und Dichtung« erkennen.
Doch das wenigste drang in Goethes Bekenntnisse durch. Einzig der Begriff des Dämonischen
steht, wie ein unabgeschliffener Monolith, in ihrer Ebene. Mit ihm leitete
Goethe den letzten Abschnitt des autobiographischen Werkes ein. »Man hat im
Verlaufe dieses biographischen Vortrags umständlich gesehen, wie das Kind, der
Knabe, der Jüngling sich auf verschiedenen Wegen dem Übersinnlichen zu nähern
gesucht; erst mit Neigung nach einer natürlichen Religion hingeblickt, dann mit
Liebe sich an eine positive festgeschlossen; ferner durch Zusammenziehung in
sich selbst seine eignen Kräfte versucht und sich endlich dem allgemeinen
Glauben freudig hingegeben. Als er in den Zwischenräumen dieser Regionen hin
und wieder wanderte, suchte, sich umsah, begegnete ihm manches, was zu keiner
von allen gehören mochte, und er glaubte mehr und mehr einzusehen, daß es
besser sei, den Gedanken von dem Ungeheuren, Unfaßlichen abzuwenden. – Er
glaubte in der Natur, der belebten und unbelebten, der beseelten und
unbeseelten, etwas zu entdecken, das sich nur in Widersprüchen manifestierte
und deshalb unter keinen Begriff, noch viel weniger unter ein Wort gefaßt
werden könnte. Es war nicht göttlich, denn es schien unvernünftig; nicht
menschlich, denn es hatte keinen Verstand; nicht teuflisch, denn es war
wohltätig; nicht englisch, denn es ließ oft Schadenfreude merken. Es glich dem
Zufall, denn es bewies keine Folge; es ähnelte der Vorsehung, denn es deutete
auf Zusammenhang. Alles, was uns begrenzt, schien für dasselbe durchdringbar;
es schien mit den notwendigen Elementen unsres Daseins willkürlich zu schalten;
es zog die Zeit zusammen und dehnte den Raum aus. Nur im Unmöglichen schien es
sich zu gefallen und das Mögliche mit Verachtung von sich zu stoßen. – Dieses
Wesen, das zwischen alle übrigen hineinzutreten, sie zu sondern, sie zu
verbinden schien, nannte ich dämonisch, nach dem Beispiel der Alten und Derer,
die etwas Ähnliches gewahrt hatten. Ich suchte mich vor diesem furchtbaren
Wesen zu retten«. Es bedarf kaum des Hinweises, daß in diesen Worten, nach mehr
als fünfunddreißig Jahren, die gleiche Erfahrung unfaßbarer Naturzweideutigkeit
sich kundtut, wie in dem berühmten Fragmente. Die Idee des Dämonischen, die
abschließend noch im Egmont-Zitat von »Wahrheit und Dichtung«, anführend in der
ersten Stanze der »Orphischen Urworte« sich findet, begleitet Goethes
Anschauung sein Leben lang. Sie ist es, die in der Schicksalsidee der
Wahlverwandtschaften hervortritt, und wenn es noch zwischen beiden der
Vermittlung bedürfte, so fehlt auch sie, die seit Jahrtausenden den Ring
beschließt, bei Goethe nicht. Greifbar weisen die Urworte, andeutend die
Lebenserinnerungen auf die Astrologie als den Kanon des mythischen Denkens. Mit
der Hindeutung aufs Dämonische schließt, mit der aufs Astrologische beginnt
»Wahrheit und Dichtung«. Und nicht gänzlich scheint dies Leben astrologischer
Betrachtung entzogen. Goethes Horoskop, wie es halb spielend und halb ernst
Bolls »Sternglaube und Sterndeutung« gestellt hat, verweist von seiner Seite
auf die Trübung dieses Daseins. »Auch daß der Aszendent dem Saturn dicht folgt
und dabei in dem schlimmen Skorpion liegt, wirft einige Schatten auf dieses
Leben; mindestens eine gewisse Verschlossenheit wird das als ›rätselhaft‹
geltende Tierkreiszeichen, im Verein mit dem versteckten Wesen des Saturn, im
höheren Lebensalter verursachen; aber auch« – und dies weist auf das Folgende
voraus – »als ein auf der Erde kriechendes Tierkreiswesen, in dem der ›erdige
Planet‹ Saturn steht, jene starke Diesseitigkeit, die sich ›in derber
Liebeslust mit klammernden Organen‹ an die Erde hält.«
»Ich suchte mich vor diesem furchtbaren Wesen zu
retten«. Den Umgang der dämonischen Kräfte erkauft die mythische Menschheit mit
Angst. Sie hat aus Goethe oft unverkennbar gesprochen. Ihre Manifestationen
sind aus der anekdotischen Vereinzelung, in der fast widerwillig von den
Biographen ihrer gedacht wird, in das Licht einer Betrachtung zu stellen, die
freilich schreckhaft deutlich die Gewalt uralter Mächte in dem Leben dieses
Mannes zeigt, der doch nicht ohne sie zum größten Dichter seines Volks geworden
ist. Die Angst vorm Tod, die jede andere einschließt, ist die lauteste. Denn er
bedroht die gestaltlose Panarchie des natürlichen Lebens am meisten, die den
Bannkreis des Mythos bildet. Die Abneigung des Dichters gegen den Tod und gegen
alles, was ihn bezeichnet, trägt ganz die Züge äußerster Superstition. Es ist
bekannt, daß bei ihm niemand je von Todesfällen reden durfte, weniger bekannt,
daß er niemals ans Sterbebette seiner Frau getreten ist. Seine Briefe bekunden
dem Tode des eigenen Sohnes gegenüber dieselbe Gesinnung. Nichts bezeichnender
als jenes Schreiben, in dem er Zeltern den Verlust vermeldet und seine wahrhaft
dämonische Schlußformel: »Und so, über Gräber, vorwärts!« In diesem Sinne setzt
die Wahrheit der Worte, die man dem Sterbenden in den Mund gelegt hat, sich
durch. Darinnen hält die mythische Lebendigkeit zuletzt dem nahen Dunkel ihren
ohnmächtigen Lichtwunsch entgegen. Auch wurzelte in ihr der beispiellose
Selbstkultus der letzten Lebensjahrzehnte. »Wahrheit und Dichtung«, die »Tag-
und Jahreshefte«, die Herausgabe des Briefwechsels mit Schiller, die Sorge für
denjenigen mit Zelter sind ebensoviele Bemühungen, den Tod zu vereiteln. Noch
klarer spricht die heidnische Besorgnis, welche statt als Hoffnung die
Unsterblichkeit zu hüten als ein Pfand sie fordert, aus alledem, was er vom
Fortbestand der Seele sagt. Wie die Unsterblichkeitsidee des Mythos selbst als
ein »Nicht-Sterben-Können« aufgezeigt ward, so ist sie auch im Goetheschen
Gedanken nicht der Zug der Seele in das Heimatreich, sondern eine Flucht vom
Grenzenlosen her ins Grenzenlose. Vor allem das Gespräch nach Wielands Tod, das
Falk überliefert, will die Unsterblichkeit naturgemäß und auch, wie zur
Betonung des Unmenschlichen in ihr, nur großen Geistern eigentlichst
zugebilligt wissen.
Kein Gefühl ist reicher an Varianten als die
Angst. Zur Todesangst gesellt sich die vorm Leben, wie zum Grundton seine
zahllosen Obertöne. Auch das barocke Spiel der Lebensangst vernachlässigt,
verschweigt die Tradition. Ihr gilt es eine Norm in Goethe aufzustellen und
dabei ist sie weit davon entfernt, den Kampf der Lebensformen, den er in sich
austrug, zu gewahren. Zu tief hat Goethe ihn in sich verschlossen. Daher die
Einsamkeit in seinem Leben und, bald schmerzlich und bald trotzig, das
Verstummen. Gervinus hat in seiner Schrift »Über den Goetheschen Briefwechsel«
in der Schilderung der Weimarer Frühzeit gezeigt, wie bald sich das einstellt.
Am ersten und am sichersten von allen hat er die Aufmerksamkeit auf diese
Phänomene im Goetheschen Leben gelenkt; er vielleicht als einziger hat ihre
Bedeutung geahnt, wie irrig er auch über ihren Wert geurteilt habe. So entgeht
ihm weder das schweigende Insichversunkensein der Spätzeit noch ihr ins
Paradoxe gesteigerter Anteil an den Sachgehalten des eignen Lebens. Aus beiden
aber spricht die Lebensangst: die Angst vor seiner Macht und Breite aus dem
Sinnen, die Angst vor seiner Flucht aus dem Umfassen. Gervinus bestimmt in
seiner Schrift den Wendepunkt, der das Schaffen des alten Goethe von dem der
früheren Perioden trennt und er setzt ihn in das Jahr 1797, in die Zeit der
projektierten italienischen Reise. In einem gleichzeitigen Schreiben an
Schiller handelt Goethe von Gegenständen, die ohne »ganz poetisch« zu sein,
eine gewisse poetische Stimmung in ihm erweckt hätten. Er sagt: »Ich habe daher
die Gegenstände, die einen solchen Effekt hervorbringen, genau betrachtet und
zu meiner Verwunderung bemerkt, daß sie eigentlich symbolisch sind.« Das
Symbolische aber ist das, worin die unauflösliche und notwendige Bindung eines
Wahrheitsgehaltes an einen Sachgehalt erscheint. »Wenn man«, so heißt es in dem
gleichen Brief, »künftig bei weitern Fortschritten der Reise nicht sowohl aufs
Merkwürdige, sondern aufs Bedeutende seine Aufmerksamkeit richtete, so müßte
man für sich und andere doch zuletzt eine schöne Ernte gewinnen. Ich will es
erst noch hier versuchen, was ich Symbolisches bemerken kann, besonders aber an
fremden Orten, die ich zum ersten Mal sehe, mich üben. Gelänge das, so müßte
man ohne die Erfahrung in die Breite verfolgen zu wollen, doch wenn man auf
jedem Platz, in jedem Moment, soweit es einem vergönnt wäre, in die Tiefe
ginge, noch immer genug Beute aus bekannten Ländern und Gegenden davon tragen.«
»Man darf« – so schließt Gervinus an – »wohl sagen, daß dies in seinen spätern
poetischen Produkten fast durchgängig der Fall ist und daß er darin
Erfahrungen, die er ehedem in sinnlicher Breite, wie es die Kunst verlangt,
vorgeführt hatte, nach einer gewissen geistigen Tiefe mißt, wobei er sich oft
ins Bodenlose verliert. Schiller durchschaut diese so mysteriös verhüllte neue
Erfahrung sehr scharf … eine poetische Forderung ohne eine poetische Stimmung
und ohne poetischen Gegenstand scheine sein Fall zu sein. In der Tat komme es
hier viel weniger auf den Gegenstand an, als auf das Gemüt, ob ihm der
Gegenstand etwas bedeuten solle.« (Und nichts ist kennzeichnender für den
Klassizismus als dieses Streben in dem gleichen Satz das Symbol zu erfassen und
zu relativieren.) »Das Gemüt sei es, das hier die Grenze steckt, und das
Gemeine und Geistreiche kann er auch hier wie überall nur in der Behandlung,
nicht in der Wahl des Stoffes finden. Was ihm jene beiden Plätze waren, meint
er, wäre ihm in aufgeregter Stimmung jede Straße, Brücke usw. gewesen. Wenn
Schiller die unternehmbaren Folgen dieser neuen Betrachtungsweise in Goethe
hätte ahnen können, so würde er ihn schwerlich ermuntert haben, sich ihr ganz
zu überlassen, weil durch eine solche Ansicht der Gegenstände in das Einzelne
eine Welt gelegt werde … Denn so ist es gleich die nächste Folge, daß Goethe
anfängt, sich Reisebündel von Akten anzulegen, worin er alle öffentlichen
Papiere, Zeitungen, Wochenblätter, Predigtauszüge, Komödienzettel,
Verordnungen, Preiscourante usw. einheftet, seine Bemerkungen hinzufügt, diese
mit der Stimme der Gesellschaft vergleicht, seine eigene Meinung mit dieser
berichtigt, die neue Belehrung wieder ad acta nimmt und so Materialien für
einen künftigen Gebrauch zu erhalten hofft!! Dies bereitet schon völlig zu der
später ganz ins Lächerliche entwickelten Bedeutsamkeit vor, mit der er auf
Tagebücher und Notizen die höchsten Stücke hält, mit der er jede elendeste
Sache mit pathetischer Weisheitsmiene betrachtet. Seitdem ist ihm jede
Medaille, die man ihm schenkt, und jeder Granitstein; den er verschenkt, ein
Gegenstand von höchster Wichtigkeit; und wenn er Steinsalz bohrt, das Friedrich
der Große trotz aller Befehle nicht hatte auffinden können, so sieht er ich
weiß nicht welche Wunder dabei und schickt seinem Freunde Zelter eine
symbolische Messerspitze voll davon nach Berlin. Es gibt nichts Bezeichnenderes
für diese seine spätere Sinnesart, die sein steigendes Alter stets mehr
ausbildete, als daß er es sich zum Grundsatze macht, dem alten nil admirari mit
Eifer zu widersprechen. Alles vielmehr zu bewundern, Alles ›bedeutend,
wundersam, incalculabel‹ zu finden!« An dieser Haltung, die Gervinus so
unübertrefflich, ohne Übertreibung, malt, hat zwar Bewunderung Anteil aber auch
die Angst. Der Mensch erstarrt im Chaos der Symbole und verliert die Freiheit,
die den Alten nicht bekannt war. Er gerät im Handeln unter Zeichen und Orakel.
In Goethes Leben haben sie nicht gefehlt. Solch ein Zeichen wies den Weg nach
Weimar. Ja, in »Wahrheit und Dichtung« hat er erzählt, wie er auf einer
Wanderung, zwiespältig über seinen Ruf zu Dichtung oder Malkunst, ein Orakel
eingesetzt. Die Angst vor Verantwortung ist die geistigste unter allen, denen
Goethe durch sein Wesen verhaftet war. Sie ist ein Grund der konservativen
Gesinnung, die er Politischem, Gesellschaftlichem und im Alter auch wohl
Literarischem entgegenbrachte. Sie ist die Wurzel der Versäumnis in seinem
erotischen Leben. Daß sie auch seine Auslegung der Wahlverwandtschaften
bestimmte ist gewiß. Denn gerade diese Dichtung wirft ein Licht in solche
Gründe seines eigenen Lebens, die, weil sie sein Bekenntnis nicht verrät, auch
einer Tradition verborgen blieben, die sich von dessen Bann noch nicht befreit
hat. Nicht aber darf dies mythische Bewußtsein mit der trivialen Floskel
angesprochen werden, unter der man oft ein Tragisches im Leben des Olympiers
sich gefiel zu erkennen. Tragisches gibt es allein im Dasein der dramatischen,
d. h. der sich darstellenden Person, niemals in dem eines Menschen. Am
allerwenigsten aber in dem quietistischen eines Goethe, in dem kaum
darstellende Momente sich finden. So gilt es auch für dieses Leben wie für
jedes menschliche nicht die Freiheit des tragischen Helden im Tode, sondern die
Erlösung im ewigen Leben.
II
Drum da gehäuft sind rings, um Klarheit,Die Gipfel der Zeit,Und die Liebsten nahe wohnen, ermattend aufGetrenntesten Bergen,So gieb unschuldig Wasser,O Fittige gieb uns, treuesten SinnsHinüberzugehn und wiederzukehren.Hölderlin
Wenn jedes Werk so wie die Wahlverwandtschaften
des Autors Leben und sein Wesen aufzuklären vermag, so verfehlt die übliche
Betrachtung dieses um so mehr, je näher sie sich daran zu halten glaubt. Denn
mag nur selten eine Klassikerausgabe versäumen, in ihrer Einleitung es zu
betonen, daß gerade ihr Gehalt wie kaum ein anderer aus des Dichters Leben
einzig und allein verständlich sei, so enthält dies Urteil im Grunde schon das
πϱϖτου ψεύδοϛ der Methode, die in dem schablonierten Wesensbild und leerem oder
unfaßlichem Erleben das Werden seines Werks im Dichter darzustellen sucht. Dies
πϱϖτου ψεύδοϛ in fast aller neuern Philologie, d. h. in solcher, die noch nicht
durch Wort- und Sacherforschung sich bestimmt, ist, von dem Wesen und vom Leben
ausgehend die Dichtung als Produkt aus jenen wenn nicht abzuleiten, so doch
müßigem Verständnis näher zu bringen. Insofern aber fraglos angezeigt ist, am
Sichern, Nachprüfbaren die Erkenntnis aufzubauen, muß überall, wo sich die
Einsicht auf Gehalt und Wesen richtet, das Werk durchaus im Vordergrunde stehn.
Denn nirgends liegen diese dauerhafter, geprägter, faßlicher zutage als in ihm.
Daß sie selbst da noch schwer genug und vielen niemals zugänglich erscheinen,
mag für diese letztern Grund genug sein, statt auf der genauen Einsicht in das
Werk auf Personal- und Relationserforschung das Studium der Kunstgeschichte zu
begründen, vermag jedoch den Urteilenden nicht zu bewegen, ihnen Glauben zu
schenken oder gar zu folgen. Vielmehr wird dieser sich gegenwärtig halten, daß
der einzige rationale Zusammenhang zwischen Schaffendem und Werk in dem Zeugnis
besteht, das dieses von jenem ablegt. Vom Wesen eines Menschen gibt es nicht
allein Wissen nur durch seine Äußerungen, zu denen in diesem Sinn auch die
Werke gehören – nein, es bestimmt sich allererst durch jene. Werke sind
unableitbar wie Taten und jede Betrachtung, die im ganzen diesen Satz
zugestände, um ihm im einzelnen zu widerstreben, hat den Anspruch auf Gehalt
verloren.
Was derart der banalen Darstellung entgeht, ist
nicht allein die Einsicht in Wert und Art der Werke, sondern gleichermaßen
diejenige in das Wesen und das Leben ihres Autors. Vom Wesen des Verfassers
zunächst wird nach dessen Totalität, seiner »Natur«, jede Erkenntnis durch die
vernachlässigte Deutung der Werke vereitelt. Denn ist auch diese nicht
imstande, von dem Wesen eine letzte und vollkommene Anschauung zu geben, welche
aus Gründen sogar stets undenkbar ist, so bleibt, wo von dem Werke abgesehen wird,
das Wesen vollends unergründlich. Aber auch die Einsicht in das Leben des
Schaffenden verschließt sich der herkömmlichen Methode der Biographik. Klarheit
über das theoretische Verhältnis von Wesen und Werk ist die Grundbedingung
jeder Anschauung von seinem Leben. Für sie ist bisher so wenig geschehen, daß
allgemein die psychologischen Begriffe für ihre besten Einsichtsmittel gelten,
während doch nirgends so wie hier Verzicht auf jede Ahnung wahren Sachverhalts
zu leisten ist, solange diese termini im Schwange gehen. So viel nämlich läßt
sich behaupten, daß der Primat des Biographischen im Lebensbilde eines
Schaffenden, d. h. die Darstellung des Lebens als die eines menschlichen mit
jener doppelten Betonung des Entscheidenden und für den Menschen Unentscheidbaren
der Sittlichkeit nur da sich fände, wo Wissen um die Unergründlichkeit des
Ursprunges jedes Werk, sowohl dem Wert wie dem Gehalt nach es umgrenzend, vom
letzten Sinne seines Lebens ausschließt. Denn wenn das große Werk auch nicht in
dem gemeinen Dasein sich heranbildet, ja wenn es sogar Bürgschaft seiner
Reinheit ist, so ist es doch zuletzt nur eines unter seinen andern Elementen.
Und nur ganz fragmentarisch kann es so das Leben eines Bildners mehr dem Werden
als dem Gehalte nach verdeutlichen. Die gänzliche Unsicherheit über die
Bedeutung, die Werke in dem Leben eines Menschen haben können, hat dazu
geführt, dem Leben Schaffender besondere Arten ihm vorbehaltenen und in ihm
allein gerechtfertigten Inhalts zuzuordnen. Ein solches soll nicht von den sittlichen
Maximen nur emanzipiert, nein es soll höherer Legitimität teilhaft und der
Einsicht deutlicher offen sein. Was Wunder, daß für solche Meinung jeder echte
Lebensinhalt, wie er auch in den Werken stets hervortritt, sehr gering wiegt.
Vielleicht hat sie sich niemals deutlicher als Goethe gegenüber dargestellt.
In dieser Auffassung, das Leben Schaffender
verfüge über autonome Inhalte, berührt sich die triviale Denkgewohnheit so
genau mit einer sehr viel tieferen, daß die Annahme erlaubt ist, die erste sei
nur eine Deformierung dieser letzten und ursprünglichen, welche jüngst wieder
ans Licht trat. Wenn nämlich der herkömmlichen Anschauung Werk, Wesen und Leben
gleich bestimmungslos sich vermengen, so spricht jene ausdrücklich Einheit
diesen dreien zu. Sie konstruiert damit die Erscheinung des mythischen Heros.
Denn im Bereich des Mythos bilden in der Tat das Wesen, Werk und Leben jene
Einheit, die ihnen sonst allein im Sinn des laxen Literators zukommt. Dort ist
das Wesen Dämon und das Leben Schicksal und das Werk, das nur die beiden
ausprägt, lebende Gestalt. Dort hält es zugleich den Grund des Wesens in sich
und den Inhalt des Lebens. Die kanonische Form des mythischen Lebens ist eben
das des Heros. In ihm ist das Pragmatische zugleich symbolisch, in ihm allein
mit andern Worten gleicherweise die Symbolgestalt und mit ihr der Symbolgehalt
des menschlichen Lebens adäquat der Einsicht gegeben. Aber dieses menschliche
Leben ist vielmehr das übermenschliche und daher nicht nur in dem Dasein der
Gestalt, entscheidender vielmehr im Wesen des Gehalts vom eigentlich menschlichen
unterschieden. Denn während die verborgene Symbolik dieses letzten bindend
gleich sehr auf Individualem wie auf dem Menschlichen des Lebenden beruht,
erreicht die offenkundige des Heroenlebens weder die Sphäre individueller
Sonderart noch jene der moralischen Einzigkeit. Vom Individuum scheidet den
Heros der Typus, die, wenn auch übermenschliche, Norm; von der moralischen
Einzigkeit der Verantwortung die Rolle des Stellvertreters. Denn er ist nicht
allein vor seinem Gott, sondern der Stellvertreter der Menschheit vor ihren
Göttern. Mythischer Natur ist alle Stellvertretung im moralischen Bereich vom
vaterländischen »Einer für alle« bis zu dem Opfertode des Erlösers. – Typik und
Stellvertretung im Heroenleben gipfeln in dem Begriff seiner Aufgabe. Deren
Gegenwart und evidente Symbolik unterscheidet das übermenschliche Leben vom
menschlichen. Sie kennzeichnet Orpheus, der in den Hades steigt, nicht minder
als den Herakles der zwölf Aufgaben: den mythischen Sänger wie den mythischen
Helden. Für diese Symbolik fließt eine der mächtigsten Quellen aus dem
Astralmythos: im übermenschlichen Typus des Erlösers vertritt der Heros die
Menschheit durch sein Werk am Sternenhimmel. Ihm gelten die orphischen Urworte:
sein Dämon ist es, der sonnenhaft, seine Tyche, die wechselnd wie der Mond,
sein Schicksal, das unentrinnbar gleich der astralen Anagke, sogar der Eros
nicht – Elpis allein weist über sie hinaus. So ist es denn kein Zufall, daß der
Dichter auf die Elpis stieß, als er das menschlich Nahe in den andern Worten
suchte, daß unter allen sie allein keiner Erklärung bedürftig gefunden wurde –
kein Zufall aber auch, daß nicht sie, vielmehr der starre Kanon der vier
übrigen das Schema für den »Goethe« Gundolfs dargeboten. Demnach ist die
Methodenfrage an die Biographik weniger doktrinär, als diese ihre Deduktion
vermuten ließe. Denn es ist ja in dem Buche Gundolfs versucht worden, als ein
mythisches das Leben Goethes darzustellen. Und diese Auffassung erfordert die
Beachtung nicht allein, weil Mythisches im Dasein dieses Mannes lebt, erfordert
sie gedoppelt vielmehr bei Betrachtung eines Werkes, auf das sie seiner
mythischen Momente wegen sich berufen könnte. Gelingt ihr nämlich diesen
Anspruch zu erhärten, so bedeutet das, die Abhebung der Schicht, in der der
Sinn jenes Romans selbständig waltet, sei unmöglich. Wo solch gesonderter
Bereich nicht nachzuweisen, da kann es sich nicht um Dichtung, sondern allein
um deren Vorläufer, das magische Schrifttum handeln. Daher ist jede eingehende
Betrachtung eines Goetheschen Werkes, ganz besonders aber die der
Wahlverwandtschaften, von der Zurückweisung dieses Versuches abhängig. Mit ihr
ist zugleich die Einsicht in einen Lichtkern des erlösenden Gehalts gewiesen,
der jener Einstellung wie überall auch in den Wahlverwandtschaften entgangen
ist.
Der Kanon, welcher dem Leben des Halbgotts
entspricht, erscheint in einer eigentümlichen Verschiebung in der Auffassung,
die die Georgesche Schule vom Dichter bekundet. Ihm nämlich wird, gleich dem
Heros, sein Werk als Aufgabe von ihr zugesprochen und somit sein Mandat als
göttliches betrachtet. Von Gott aber kommen dem Menschen nicht Aufgaben sondern
einzig Forderungen, und daher ist vor Gott kein Sonderwert dem dichterischen
Leben zuzuschreiben. Wie denn übrigens der Begriff der Aufgabe auch vom Dichter
aus betrachtet unangemessen ist. Dichtung im eigentlichen Sinn entsteht erst
da, wo das Wort vom Banne auch der größten Aufgabe sich frei macht. Nicht von
Gott steigt solche Dichtung nieder, sondern aus dem Unergründlichen der Seele
empor; sie hat am tiefsten Selbst des Menschen Anteil. Weil ihre Sendung jenem
Kreise unmittelbar von Gott zu stammen scheint, so wird von ihm dem Dichter
nicht allein der unverletzliche, jedoch nur relative Rang in seinem Volke
zugebilligt, sondern eine völlig problematische Suprematie als Mensch
schlechthin und somit seinem Leben vor Gott, dem er als Übermensch gewachsen
scheint. Der Dichter aber ist eine nicht etwa grad- sondern artmäßig
vorläufigere Erscheinung menschlichen Wesens als der Heilige. Denn im Wesen des
Dichters bestimmt sich ein Verhältnis des Individuums zur Volksgemeinschaft, in
dem des Heiligen das Verhältnis des Menschen zu Gott.
Zu der heroisierenden Ansicht vom Dichter findet
sich in den Betrachtungen des Kreises, wie sie Gundolfs Buch fundieren, höchst
verwirrend und verhängnisvoll ein zweiter nicht geringerer Irrtum aus dem
Abgrund der gedankenlosen Sprachverwirrung. Wenn auch dem der Titel eines
Dichters als des Schöpfers wohl nicht angehört, so ist er doch bereits in jedem
Geiste ihm verfallen, der jenen Ton des Metaphorischen darin, Gemahnung an den
wahren Schöpfer, nicht vernimmt. Und in der Tat ist der Künstler weniger der
Urgrund oder Schöpfer als der Ursprung oder Bildner und sicherlich sein Werk um
keinen Preis sein Geschöpf, vielmehr sein Gebilde. Zwar hat auch das Gebilde
Leben, nicht das Geschöpf allein. Aber was den bestimmenden Unterschied
zwischen beiden begründet: nur das Leben des Geschöpfes, niemals das des
Gebildeten hat Anteil, hemmungslosen Anteil an der Intention der Erlösung. Wie
immer also die Gleichnisrede vom Schöpfertume eines Künstlers sprechen mag,
ihre eigenste virtus, die der Ursache nämlich, vermag Schöpfung nicht an seinen
Werken, sondern an Geschöpfen einzig und allein zu entfalten. Daher führt jener
unbesonnene Sprachgebrauch, der an dem Worte »Schöpfer« sich erbaut, ganz von
selbst dahin, vom Künstler nicht die Werke sondern das Leben für dessen
eigenstes Produkt zu halten. Während aber im Leben des Heros kraft dessen
völliger symbolischer Erhelltheit das völlig Gestaltete, dessen Gestalt der
Kampf ist, sich darstellt, findet sich im Leben des Dichters nicht nur eine
eindeutige Aufgabe so wenig wie in irgend einem menschlichen, sondern
ebensowenig ein eindeutiger und klar erweisbarer Kampf. Da dennoch die Gestalt
beschworen werden soll, so bietet jenseits der lebendigen im Kampf nur die
erstarrende im Schrifttum sich dar. So vollendet sich ein Dogma, das das Werk,
welches es zum Lesen verzauberte, durch nicht weniger verführerisches Irren als
Leben wieder zum Werk erstarren läßt und das die vielberufene »Gestalt« des
Dichters als einen Zwitter von Heros und Schöpfer zu fassen vermeint, an dem
sich nichts mehr unterscheiden, doch von dem sich mit dem Schein des Tiefsinns
alles behaupten läßt.
Das gedankenloseste Dogma des Goethekults, das
blasseste Bekenntnis der Adepten: daß unter allen Goetheschen Werken das größte
sein Leben sei – Gundolfs »Goethe« hat es aufgenommen. Goethes Leben wird
demnach nicht von dem der Werke streng geschieden. Wie der Dichter in einem
Bilde von klarer Paradoxie die Farben die Taten und Leiden des Lichts genannt
hat, so macht Gundolf in einer höchst getrübten Anschauung zu solchem Licht,
das letzten Endes nicht von anderer Art als seine Farben, seine Werke sein würde,
das Goethesche Leben. Diese Einstellung leistet ihm zweierlei: sie entfernt
jeden moralischen Begriff aus dem Gesichtskreis und erreicht zugleich, indem
sie dem Heros die Gestalt, die ihm als Sieger zukommt, als Schöpfer zuspricht,
die Schicht des blasphemischen Tiefsinns. So heißt es von den
Wahlverwandtschaften, daß darin Goethe »Gottes gesetzliches Verfahren
nachsann«. Aber das Leben des Menschen, und sei es das des Schaffenden, ist
niemals das des Schöpfers. Genau so wenig läßt es sich als das des Heros, das
sich selber die Gestalt gibt, deuten. In solchem Sinne kommentiert es Gundolf.
Denn nicht mit der treuen Gesinnung des Biographen wird der Sachgehalt dieses
Lebens auch, und gerade, um des darin Nichtverstandenen willen erfaßt, nicht in
der großen Bescheidung echter Biographik als das Archiv selbst unentzifferbarer
Dokumente dieses Daseins, sondern offenbar liegen sollen Sachgehalt und
Wahrheitsgehalt und wie im Heroenleben einander entsprechen. Offenbar jedoch
liegt der Sachgehalt des Lebens allein und sein Wahrheitsgehalt ist verborgen.
Wohl lassen der einzelne Zug, die einzelne Beziehung sich aufhellen, nicht aber
die Totalität, es sei denn auch sie werde nur in einer endlichen Beziehung
ergriffen. Denn an sich ist sie unendlich. Daher gibt es im Bereich der
Biographik weder Kommentar noch Kritik. In der Verletzung dieses Grundsatzes
begegnen sich auf seltsame Weise zwei Bücher, die übrigens Antipoden der
Goetheliteratur genannt werden dürften: das Werk von Gundolf und die
Darstellung von Baumgartner. Wo die letztere geradenwegs die Ergründung des
Wahrheitsgehalts unternimmt, ohne den Ort seines Vergrabenseins auch nur zu
ahnen, und daher die kritischen Ausfälle ohne Maß häufen muß, versenkt sich
Gundolf in die Welt der Sachgehalte des Goetheschen Lebens, in denen er doch
nur vorgeblich dessen Wahrheitsgehalt darstellen kann. Denn menschliches Leben
läßt sich nicht nach Analogie eines Kunstwerks betrachten. Gundolfs
quellenkritisches Prinzip jedoch bekundet die Entschlossenheit zu solcher
Entstellung grundsätzlich. Wenn durchweg in der Rangordnung der Quellen die
Werke an die erste Stelle gerückt, der Brief, geschweige denn das Gespräch
dahinter zurückgestellt werden, so ist diese Einstellung lediglich daraus
erklärbar, daß das Leben selbst als Werk angesehen wird. Denn einzig einem
solchen gegenüber besitzt der Kommentar aus seinesgleichen höhern Wert als der
aus irgend welchen andern Quellen. Aber dies nur darum, weil durch den Begriff
des Werkes eine eigene und streng umgrenzte Sphäre festgelegt wird, in die des
Dichters Leben nicht einzudringen vermag. Wenn jene Reihenfolge fernerhin
vielleicht die Trennung von ursprünglich schriftlich und anfangs mündlich
Überliefertem versuchen sollte, so ist auch dieses nur der eigentlichen
Geschichte Lebensfrage, indes die Biographik auch bei dem höchsten Anspruch auf
Gehalt sich an die Breite eines Menschenlebens halten muß. Zwar weist am
Eingang seines Buches der Verfasser das biographische Interesse von sich ab,
doch soll die Würdelosigkeit, die oft der neuern Biographik eignet, es nicht
vergessen machen, daß ihr ein Kanon von Begriffen zugrunde liegt, ohne den jede
historische Betrachtung eines Menschen zuletzt der Gegenstandslosigkeit
verfällt. Kein Wunder also, daß mit der innern Unform dieses Buchs ein formloser
Typus des Dichters sich bildet, der an das Denkmal gemahnt, das Bettina entwarf
und in dem die ungeheuren Formen des Verehrten ins Gestaltlose, Mannweibliche
zerfließen. Diese Monumentalität ist erlogen und – in Gundolfs eigener Sprache
zu reden – es zeigt sich, daß das Bild, das aus dem kraftlosen Logos
hervorgeht, dem nicht so unähnlich ist, das der maßlose Eros schuf.
Nur die beharrliche Verfolgung seiner Methodik
kommt gegen die chimärische Natur dieses Werkes auf. Vergebene Mühe ohne diese
Waffe mit den Einzelheiten es aufzunehmen. Denn eine beinah undurchdringliche
Terminologie ist deren Panzer. Es erweist sich an ihr die für alle Erkenntnis
fundamentale Bedeutung im Verhältnis von Mythos und Wahrheit. Dieses Verhältnis
ist das der gegenseitigen Ausschließung. Es gibt keine Wahrheit, denn es gibt
keine Eindeutigkeit und also nicht einmal Irrtum im Mythos. Da es aber ebensowenig
Wahrheit über ihn geben kann (denn es gibt Wahrheit nur in den Sachen, wie denn
Sachlichkeit in der Wahrheit liegt) so gibt es, was den Geist des Mythos
angeht, von ihm einzig und allein eine Erkenntnis. Und wo Gegenwart der
Wahrheit möglich sein soll, kann sie das allein unter der Bedingung der
Erkenntnis des Mythos, nämlich der Erkenntnis von seiner vernichtenden
Indifferenz gegen die Wahrheit. Darum hebt in Griechenland die eigentliche
Kunst, die eigentliche Philosophie – zum Unterschiede von ihrem uneigentlichen
Stadium, dem theurgischen – mit dem Ausgang des Mythos an, weil die erste nicht
minder und die zweite nicht mehr als die andere auf Wahrheit beruht. So
unergründlich aber ist die Verwirrung, die mit der Identifizierung von Wahrheit
und Mythos gestiftet wird, daß mit ihrer verborgenen Wirksamkeit diese erste
Entstellung fast jeden einzelnen Satz des Gundolfschen Werkes vor allem
kritischen Argwohn sicherzustellen droht. Und doch besteht die ganze Kunst des
Kritikers hier in nichts anderem, als, ein zweiter Gulliver, ein einziges
dieser Zwergensätzchen trotz seiner zappelnden Sophismen aufzugreifen und es in
aller Ruhe zu betrachten. »Nur« in der Ehe »verneinten sich … all die
Anziehungen und Abstoßungen, die sich ergeben aus der Spannung des Menschen
zwischen Natur und Kultur, aus dieser seiner Doppeltheit: daß er mit seinem
Blut an das Tier, mit seiner Seele an die Gottheit grenzt … Nur in der Ehe wird
die schicksalhafte und triebhafte Vereinigung oder Trennung zweier Menschen …
durch die Zeugung des legitimen Kindes heidnisch gesprochen ein Mysterium
christlich gesprochen ein Sakrament. Die Ehe ist nicht nur ein animalischer
Akt, sondern auch ein magischer, ein Zauber.« Eine Darlegung, die der
blutrünstige Mystizismus des Ausdrucks allein von der Denkart einer
Knallbonboneinlage unterscheidet. Wie sicher steht dagegen die Kantische
Erklärung, deren strenger Hinweis auf das natürliche Moment der Ehe –
Sexualität – dem Logos seines göttlichen – der Treue – nicht den Weg verlegt.
Dem wahrhaft Göttlichen eignet nämlich der Logos, es begründet das Leben nicht
ohne die Wahrheit, den Ritus nicht ohne die Theologie. Dagegen ist das
Gemeinsame aller heidnischen Anschauung der Primat des Kultus vor der Lehre,
die am sichersten darin sich heidnisch zeigt, daß sie einzig und allein
Esoterik ist. Gundolfs »Goethe«, dies ungefüge Postament der eigenen Statuette,
weist in jedem Sinn den Eingeweihten einer Esoterik aus, der nur aus Langmut
das Bemühen der Philosophie um ein Geheimnis duldet, dessen Schlüssel er in
Händen hält. Doch keine Denkart ist verhängnisvoller als die, welche selbst
dasjenige, was dem Mythos zu entwachsen begonnen, verwirrend in denselben
zurückbiegt, und die freilich durch die eben hiermit aufgedrungene Versenkung
ins Monströse alsbald jeden Verstand gewarnt hätte, dem nicht der Aufenthalt in
der Wildnis der Tropen eben recht ist, in einem Urwald, wo sich die Worte als
plappernde Affen von Bombast zu Bombast schwingen, um nur den Grund nicht
berühren zu müssen, der es verrät, daß sie nicht stehn können, nämlich den
Logos, wo sie stehen und Rede stehn sollten. Den aber meiden sie mit soviel
Anschein, weil allem, selbst erschlichenem mythischen Denken gegenüber die
Frage nach der Wahrheit darin zunichte wird. Diesem nämlich verschlägt es
nichts, die blinde Erdschicht bloßen Sachgehalts für den Wahrheitsgehalt in
Goethes Werk zu nehmen, und statt aus einer Vorstellung wie der des Schicksals
durch Erkenntnis wahrhaften Gehalt zu läutern, wird er verdorben indem
Sentimentalität mit ihrer Witterung sich in jene einfühlt. So erscheint mit der
erlogenen Monumentalität des Goetheschen Bildes die gefälschte Legalität seiner
Erkenntnis, und die Untersuchung ihres Logos stößt mit der Einsicht in ihre
methodische Gebrechlichkeit auf ihre sprachliche Anmaßung und damit ins
Zentrum. Ihre Begriffe sind Namen, ihre Urteile Formeln. Denn in ihr hat gerade
die Sprache, der doch sonst der ärmste Schlucker nicht völlig den Strahl ihrer
ratio zu ersticken vermag, eine Finsternis, die sie allein erhellen könnte, zu
verbreiten. Damit muß der letzte Glaube an die Überlegenheit dieses Werkes über
die Goetheliteratur der ältern Schulen schwinden, als deren rechtmäßigen und
größeren Nachfolger die eingeschüchterte Philologie nicht allein um des eigenen
schlechten Gewissens sondern auch um der Unmöglichkeit willen, an ihren
Stammbegriffen es zu messen, es gelten ließ. Doch der philosophischen
Betrachtung entzieht auch die beinah unergründliche Verkehrung seiner Denkart
ein Bestreben nicht, das selbst dann sich richten würde, wenn es nicht den
verworfenen Schein des Gelingens trüge.
Wo immer eine Einsicht in Goethes Leben und Werk
in Frage steht, da kann – so sichtbar Mythisches sich auch in ihnen bekunden
mag – dies nicht den Erkenntnisgrund bilden. Wenn es jedoch sehr wohl im
einzelnen ein Gegenstand der Betrachtung sein mag, so ist dagegen, wo es sich
ums Wesen und um die Wahrheit im Werk und Leben handelt, die Einsicht in den
Mythos auch in gegenständlicher Beziehung nicht die letzte. Denn in dessen
Bereich repräsentiert sich vollständig weder Goethes Leben noch auch irgend eines
seiner Werke. Ist dies, soweit das Leben in Frage steht, schlechthin durch
seine menschliche Natur verbürgt, so lehren es die Werke im einzelnen, sofern
ein Kampf, der im Leben verheimlicht ward, in deren spätesten sich bekundet.
Und nur in ihnen trifft man Mythisches auch im Gehalt, nicht allein in den
Stoffen an. Sie vermögen im Zusammenhange dieses Lebens wohl als gültiges
Zeugnis seines letzten Ablaufs angesehen zu werden. Ihre bezeugende Kraft gilt
nicht allein und nicht im tiefsten der mythischen Welt im Dasein Goethes. Es
ist in ihm ein Ringen um die Lösung aus deren Umklammerung und dieses Ringen
nicht weniger als das Wesen jener Welt ist in dem Goetheschen Romane bezeugt.
In der ungeheuern Grunderfahrung von den mythischen Mächten, daß Versöhnung mit
ihnen nicht zu gewinnen sei, es sei denn durch die Stetigkeit des Opfers, hat
sich Goethe gegen dieselben aufgeworfen. War es der ständig erneuerte, in
innerer Verzagtheit, doch mit eisernem Willen unternommene Versuch seines
Mannesalters, jenen mythischen Ordnungen überall da sich zu untergeben, wo sie
noch herrschen, ja an seinem Teil ihre Herrschaft zu festigen, wie nur immer
ein Diener der Machthaber dies tut, so brach nach der letzten und schwersten
Unterwerfung, zu der er sich vermochte, nach der Kapitulation in seinem mehr
als dreißigjährigen Kampfe gegen die Ehe, die ihm als Sinnbild mythischer
Verhaftung drohend schien, dieser Versuch zusammen und ein Jahr nach seiner
Eheschließung, die in Tagen schicksalhaften Drängens sich ihm aufgenötigt hatte,
begann er die Wahlverwandtschaften, mit welchen er den ständig mächtiger in
seinem spätern Werk entfalteten Protest gegen jene Welt einlegte, mit der sein
Mannesalter den Pakt geschlossen hatte. Die Wahlverwandtschaften sind in diesem
Werk eine Wende. Es beginnt mit ihnen die letzte Reihe seiner Hervorbringungen,
von deren keiner mehr er sich ganz abzulösen vermocht hat, weil bis ans Ende
ihr Herzschlag in ihm lebendig blieb. So versteht sich das Ergreifende in der
Tagebucheintragung von 1820, daß er die »Wahlverwandtschaften zu lesen
angefangen«, so auch die sprachlose Ironie einer Szene, die Heinrich Laube
überliefert: »Eine Dame äußerte gegen Goethe über die Wahlverwandtschaften: Ich
kann dieses Buch durchaus nicht billigen, Herr von Goethe; es ist wirklich
unmoralisch und ich empfehle es keinem Frauenzimmer. – Darauf hat Goethe eine
Weile ganz ernsthaft geschwiegen und endlich mit vieler Innigkeit gesagt: Das
tut mir leid, es ist doch mein bestes Buch.« Jene letzte Reihe der Werke
bezeugt und begleitet die Läuterung, welche keine Befreiung mehr sein durfte.
Vielleicht weil seine Jugend aus der Not des Lebens oft allzu behende Flucht
ins Feld der Dichtkunst ergriffen hatte, hat das Alter in furchtbar strafender
Ironie Dichtung als Gebieterin über sein Leben gestellt. Goethe beugte sein
Leben unter die Ordnungen, die es zur Gelegenheit seiner Dichtungen machten.
Diese moralische Bewandtnis hat es mit seiner Kontemplation der Sachgehalte im
späten Alter. Die drei großen Dokumente solcher maskierten Buße wurden Wahrheit
und Dichtung, der westöstliche Divan und der zweite Teil des Faust. Die
Historisierung seines Lebens, wie sie Wahrheit und Dichtung zuerst, später den
Tag- und Jahresheften zufiel, hatte zu bewahrheiten und zu erdichten, wie sehr
dieses Leben Urphänomen eines poetisch gehaltvollen, des Lebens voller Stoffe
und Gelegenheiten für »den Dichter« gewesen sei. Gelegenheit der Poesie, von
welcher hier die Rede ist, ist nicht nur etwas anderes als das Erlebnis, das
die neuere Konvention der dichterischen Erfindung zum Grunde legt, sondern das
genaue Gegenteil davon. Was sich durch die Literaturgeschichten als die Phrase
forterbt, die Goethesche Poesie sei »Gelegenheitsdichtung« gewesen, meint:
Erlebnisdichtung und hat damit, was die letzten und größten Werke betrifft, das
Gegenteil von der Wahrheit gesagt. Denn die Gelegenheit gibt den Gehalt und das
Erlebnis hinterläßt nur ein Gefühl. Verwandt und ähnlich dem Verhältnis dieser
beiden ist das der Worte Genius und Genie. Im Munde der Modernen läuft das letztere
auf einen Titel hinaus, der, wie sie sich auch stellen mögen, nie sich eignen
wird, das Verhältnis eines Menschen zur Kunst als ein wesentliches zu treffen.
Das gelingt dem Worte Genius und die Hölderlinschen Verse verbürgen es: »Sind
denn nicht dir bekannt viele Lebendigen? | Geht auf Wahrem dein Fuß nicht, wie
auf Teppichen? | Drum, mein Genius! tritt nur | Baar ins Leben und sorge nicht!
| Was geschiehet, es sei alles gelegen dir!« Genau das ist die antike Berufung
des Dichters, welcher von Pindar bis Meleager, von den isthmischen Spielen bis
zu einer Liebesstunde, nur verschieden hohe, als solche aber stets würdige
Gelegenheiten für seinen Gesang fand, den auf Erlebnisse zu gründen ihm daher
nicht beifallen konnte. So ist denn der Erlebnisbegriff nichts anderes als die
Umschreibung jener auch vom sublimsten, weil immer noch gleich feigen
Philisterium ersehnten Folgenlosigkeit des Gesanges, welcher, der Beziehung auf
Wahrheit beraubt, die schlafende Verantwortung nicht zu wecken vermag. Goethe
war im Alter tief genug in das Wesen der Poesie eingedrungen, um schauernd jede
Gelegenheit des Gesanges in der Welt, die ihn umgab, zu vermissen und doch
jenen Teppich des Wahren einzig beschreiten zu wollen. Spät stand er an der
Schwelle der deutschen Romantik. Ihm war der Zugang zur Religion in Form irgend
einer Bekehrung, der Hinwendung zu einer Gemeinschaft nicht erlaubt, wie er
Hölderlin nicht erlaubt war. Sie verabscheute Goethe bei den Frühromantikern.
Aber die Gesetze, denen jene in der Bekehrung und damit im Erlöschen ihres
Lebens vergeblich zu genügen suchten, entfachten in Goethe, der ihnen
gleichfalls sich unterwerfen mußte, die allerhöchste Flamme seines Lebens. Die
Schlacken jeder Leidenschaft verbrannten in ihr, und so vermochte er im
Briefwechsel bis an sein Lebensende die Liebe zu Marianne so schmerzlich nahe
sich zu halten, daß mehr als ein Jahrzehnt nach jener Zeit, in welcher sich
ihre Neigung erklärte, jenes vielleicht gewaltigste Gedicht des Divan entstehen
konnte: »Nicht mehr auf Seidenblatt | Schreib' ich symmetrische Reime«. Und das
späteste Phänomen solcher dem Leben, ja zuletzt der Lebensdauer gebietenden
Dichtung war der Abschluß des Faust. Sind in der Reihe dieser Alterswerke das
erste die Wahlverwandtschaften, so muß bereits in ihnen, wie dunkel darin der
Mythos auch walte, eine reinere Verheißung sichtbar sein. Aber einer
Betrachtung wie der Gundolfschen wird sie sich nicht erschließen. Sie so wenig
wie die der übrigen Autoren gibt sich Rechenschaft von der Novelle, von den
»wunderlichen Nachbarskindern«.
Die Wahlverwandtschaften selbst sind anfänglich
als Novelle im Kreise der Wanderjahre geplant worden, doch drängte sie ihr
Wachstum aus ihm heraus. Aber die Spuren des ursprünglichen Formgedankens haben
sich trotz allem erhalten, was das Werk zum Roman werden ließ. Nur die völlige
Meisterschaft Goethes, welche darin auf einem Gipfel sich zeigt, wußte es zu
verhindern, daß die eingeborne novellistische Tendenz die Romanform zerbrochen
hätte. Mit Gewalt erscheint der Zwiespalt gebändigt und die Einheit erreicht,
indem er die Form des Romans durch die der Novelle gleichsam veredelt. Der
bezwingende Kunstgriff, der dies vermochte und der sich gleich gebieterisch von
seiten des Gehalts her aufdrang, liegt darin, daß der Dichter die Teilnahme des
Lesers in das Zentrum des Geschehens selbst hineinzurufen verzichtet. Indem
nämlich dieses der unmittelbaren Intention des Lesers so durchaus unzugänglich
bleibt, wie es am deutlichsten der unvermutete Tod der Ottilie beleuchtet,
verrät sich der Einfluß der Novellenform auf die des Romans und gerade in der
Darstellung dieses Todes auch am ehesten ein Bruch, wenn zuletzt jenes Zentrum,
das in der Novelle sich bleibend verschließt, mit verdoppelter Kraft sich
bemerkbar macht. Der gleichen Formtendenz mag angehören, worauf schon R. M.
Meyer hingewiesen hat, daß die Erzählung gerne Gruppen stellt. Und zwar ist
deren Bildlichkeit grundsätzlich unmalerisch; sie darf plastisch, vielleicht
stereoskopisch genannt werden. Auch sie erscheint novellistisch. Denn wenn der
Roman wie ein Maelstrom den Leser unwiderstehlich in sein Inneres zieht, drängt
die Novelle auf den Abstand hin, drängt aus ihrem Zauberkreise jedweden
Lebenden hinaus. Darin sind die Wahlverwandtschaften trotz ihrer Breite
novellistisch geblieben. Sie sind an Nachhaltigkeit des Ausdrucks nicht der in
ihnen enthaltenen eigentlichen Novelle überlegen. In ihnen ist eine Grenzform
geschaffen, und durch diese stehn sie von andern Romanen weiter entfernt als
jene unter sich. Im »Meister und in den Wahlverwandtschaften wird der
künstlerische Stil durchaus dadurch bestimmt, daß wir überall den Erzähler
fühlen. Es fehlt hier der formal-künstlerische Realismus …, der die Ereignisse
und Menschen auf sich selber stellt, so daß sie, wie von der Bühne, nur als ein
unmittelbares Dasein wirken; vielmehr, sie sind wirklich eine ›Erzählung‹, die
von dem dahinter stehenden, fühlbaren Erzähler getragen wird … die Goetheschen
Romane laufen innerhalb der Kategorien des ›Erzählers‹ ab«. »Vorgetragen« nennt
Simmel sie ein andermal. Wie immer diese Erscheinung, die ihm nicht mehr
analysierbar erscheint, für den Wilhelm Meister sich erklären mag, in den
Wahlverwandtschaften rührt sie daher, daß Goethe sich mit Eifersucht es
vorbehält, im Lebenskreise seiner Dichtung ganz allein zu walten. Eben dergleichen
Schranken gegen den Leser kennzeichnen die klassische Form der Novelle,
Boccaccio gibt den seinigen einen Rahmen, Cervantes schreibt ihnen eine
Vorrede. So sehr sich also in den Wahlverwandtschaften die Form des Romans
selbst betont, eben diese Betonung und dieses Übermaß von Typus und Kontur
verrät sie als novellistisch.
Nichts konnte den Rest von Zweideutigkeit der ihr
verbleibt unscheinbarer machen, als die Einfügung einer Novelle, die, je mehr
das Hauptwerk gegen sie als gegen ein reines Vorbild ihrer Art sich abhob,
desto ähnlicher es einem eigentlichen Roman erscheinen lassen mußte. Darauf
beruht die Bedeutung, welche für die Komposition den »wunderlichen
Nachbarskindern« eignet, die als eine Musternovelle, selbst wo sich die
Betrachtung auf die Form beschränkt, zu gelten haben. Auch hat nicht minder, ja
gewissermaßen mehr noch als den Roman, Goethe sie als exemplarisch hinstellen
wollen. Denn obwohl des Ereignisses, von dem sie berichtet, im Roman selbst als
eines wirklichen gedacht wird, ist die Erzählung dennoch als Novelle
bezeichnet. Sie soll als »Novelle« ebenso entschieden wie das Hauptwerk als
»Ein Roman« gelten. Aufs deutlichste tritt an ihr die gedachte Gesetzmäßigkeit
ihrer Form, die Unberührbarkeit des Zentrums, will sagen das Geheimnis als ein
Wesenszug hervor. Denn Geheimnis ist in ihr die Katastrophe, als das lebendige
Prinzip der Erzählung in die Mitte versetzt, während im Roman ihre Bedeutung,
als die des abschließenden Geschehens phänomenal bleibt. Die belebende Kraft
dieser Katastrophe ist, wiewohl so manches im Roman ihr entspricht, so schwer
zu ergründen, daß für die ungeleitete Betrachtung die Novelle nicht weniger
selbständig, doch auch kaum minder rätselhaft erscheint als »Die pilgernde
Törin«. Und doch waltet in dieser Novelle das helle Licht. Alles steht, scharf
umrissen, von Anfang an auf der Spitze. Es ist der Tag der Entscheidung, der in
den dämmerhaften Hades des Romans hereinscheint. So ist denn die Novelle
prosaischer als der Roman. In einer Prosa höhern Grades tritt sie ihm entgegen.
Dem entspricht die echte Anonymität in ihren Gestalten und die halbe,
unentschiedene in denen des Romans.
Während im Leben der letztern eine
Zurückgezogenheit waltet, die die verbürgte Freiheit ihres Tuns vollendet,
treten die Gestalten der Novelle von allen Seiten eng umschränkt von ihrer
Mitwelt, ihren Angehörigen, auf. Ja wenn Ottilie dort auf das Drängen des
Geliebten mit dem väterlichen Medaillon sich sogar der Erinnerung an die Heimat
entäußert, um ganz der Liebe geweiht zu sein, so fühlen sich hier selbst die
Vereinten von dem elterlichen Segen nicht unabhängig. Dies Wenige bezeichnet
die Paare im tiefsten. Denn gewiß ist, daß die Liebenden aus der Bindung des
Elternhauses mündig heraustreten, aber nicht minder, daß sie dessen innerliche
Macht wandeln, indem, sollte selbst ein jeder für sich darinnen verharren, der
andere ihn mit seiner Liebe darüber hinausträgt. Gibt es anders überhaupt für
Liebende ein Zeichen, so dies, daß für einander nicht allein der Abgrund des
Geschlechts, sondern auch jener der Familie sich geschlossen hat. Damit solche
liebende Anschauung giltig sei, darf sie dem Anblick, gar dem Wissen von Eltern
nicht schwachmütig sich entziehen, wie es Eduard gegen Ottilie tut. Die Kraft
der Liebenden triumphiert darin, daß sie sogar die volle Gegenwart der Eltern
beim Geliebten überblendet. Wie sehr sie fähig sind, in ihrer Strahlung aus
allen Bindungen einander zu lösen, das ist in der Novelle durch das Bild der
Gewänder gesagt, in denen die Kinder von ihren Eltern kaum mehr erkannt werden.
Nicht zu diesen allein, auch zu der übrigen Mitwelt treten die Liebenden der
Novelle in ein Verhältnis. Und während für die Gestalten des Romans die
Unabhängigkeit nur umso strenger die zeitliche und örtliche Verfallenheit ans
Schicksal besiegelt, birgt es den andern die unschätzbarste Gewähr, daß mit dem
Höhepunkt der eigenen Not den Fahrtgenossen die Gefahr droht zu scheitern. Es
spricht daraus, daß selbst das Äußerste die beiden nicht aus dem Kreis der
Ihrigen ausstößt, indes die formvollendete Lebensart der Romanfiguren nichts
dawider vermag, daß, bis das Opfer fällt, ein jeder Augenblick sie unerbittlicher
aus der Gemeinschaft der Friedlichen ausschließt. Ihren Frieden erkaufen die
Liebenden in der Novelle nicht durch das Opfer. Daß der Todessprung des
Mädchens jene Meinung nicht hat, ist aufs zarteste und genaueste vom Dichter
bedeutet. Denn nur dies ist die geheime Intention, aus der sie den Kranz dem
Knaben zuwirft: es auszusprechen, daß sie nicht »in Schönheit sterben«, im Tode
nicht wie Geopferte bekränzt sein will. Der Knabe, wie er nur fürs Steuern
Augen hat, bezeugt von seiner Seite, daß er nicht, sei's wissend oder
ahnungslos, an dem Vollzug, als wäre er ein Opfer, seinen Teil hat. Weil diese
Menschen nicht um einer falsch erfaßten Freiheit willen alles wagen, fällt
unter ihnen kein Opfer, sondern in ihnen die Entscheidung. In der Tat ist
Freiheit so deutlich aus des Jünglings rettendem Entschluß entfernt wie
Schicksal. Das chimärische Freiheitsstreben ist es, das über die Gestalten des
Romans das Schicksal heraufbeschwört. Die Liebenden in der Novelle stehen
jenseits von beiden und ihre mutige Entschließung genügt, ein Schicksal zu
zerreißen, das sich über ihnen ballen, und eine Freiheit zu durchschauen, die
sie in das Nichts der Wahl herabziehn wollte. Dies ist in den Sekunden der
Entscheidung der Sinn ihres Handelns. Beide tauchen hinab in den lebendigen
Strom, dessen segensreiche Gewalt nicht minder groß in diesem Geschehen
erscheint, als die todbringende Macht der stehenden Gewässer im andern. Durch
eine Episode des letzteren erhellt auch die befremdliche Vermummung in die
vorgefundenen Hochzeitskleider sich völlig. Dort nämlich nennt Nanny das für
Ottilie bereitliegende Totenhemd ihr Brautgewand. So ist es denn wohl erlaubt,
demgemäß den seltsamen Zug der Novelle auszulegen und – auch ohne vielleicht
auffindbare mythische Analogien – die Brautgewänder dieser Liebenden als
umgewandelte und nunmehr todgefeite Sterbekleider zu erkennen. Die gänzliche
Geborgenheit des Daseins, das zuletzt sich ihnen eröffnet, ist auch sonst
bezeichnet. Nicht allein indem die Gewandung sie den Freunden verbirgt, sondern
vor allem durch das große Bild des am Orte ihrer Vereinigung landenden Schiffes
wird das Gefühl erregt, daß sie kein Schicksal mehr haben und da stehen, wohin
die andern einmal gelangen sollen.
Mit alledem darf als unumstößlich gewiß
betrachtet werden, daß im Bau der Wahlverwandt-schaften dieser Novelle eine
beherrschende Bedeutung zukommt. Wenn auch erst in dem vollen Licht der
Haupterzählung all ihre Einzelheiten sich erschließen, bekunden die genannten
unverkennbar: den mythischen Motiven des Romans entsprechen jene der Novelle
als Motive der Erlösung. Also darf, wenn im Roman das Mythische als Thesis
angesprochen wird, in der Novelle die Antithesis gesehen werden. Hierauf deutet
ihr Titel. »Wunderlich« nämlich müssen jene Nachbarskinder am meisten den
Romangestalten scheinen, die sich denn auch mit tiefverletztem Gefühl von ihnen
abwenden. Eine Verletzung, die Goethe, der geheimen und vielleicht in vielem
sogar ihm verborgenen Bewandtnis der Novelle gemäß, auf äußerliche Weise
motivierte, ohne ihr damit die innere Bedeutung zu nehmen. Während schwächer
und stummer, doch in voller Lebensgröße jene Gestalten im Blick des Lesers
verharren, verschwinden die Vereinten der Novelle unter dem Bogen einer letzten
rhetorischen Frage gleichsam in der unendlich fernen Perspektive. Sollte nicht
in der Bereitschaft zum Entfernen und Verschwinden Seligkeit, die Seligkeit im
Kleinen angedeutet sein, die Goethe später zum einzigen Motiv der »Neuen
Melusine« gemacht hat?
III
Eh ihr den leib ergreift auf diesem sterneErfind ich euch den traum bei ewigen sternen.George
Der Anstoß, den an jeder Kunstkritik unter dem
Vorwand, sie trete dem Werk zu nahe, diejenigen nehmen, welche nicht das
Nachbild ihrer eigenliebenden Verträumtheit in ihr finden, bezeugt so viel
Unwissenheit von dem Wesen der Kunst, daß eine Zeit, der deren streng
bestimmter Ursprung mehr und mehr lebendig wird, ihm keine Widerlegung
schuldet. Dennoch ist ein Bild, das der Empfindsamkeit den bündigsten Bescheid
erteilt, vielleicht erlaubt. Man setze, daß man einen Menschen kennen lerne,
der schön und anziehend ist, aber verschlossen, weil er ein Geheimnis mit sich
trägt. Es wäre verwerflich, in ihn dringen zu wollen. Wohl aber ist es erlaubt
zu forschen, ob er Geschwister habe und ob deren Wesen vielleicht das
Rätselhafte des Fremden in etwas erkläre. Ganz so forscht die Kritik nach
Geschwistern des Kunstwerks. Und alle echten Werke haben ihre Geschwister im
Bereiche der Philosophie. Sind doch eben jene die Gestalten, in welchen das
Ideal ihres Problems erscheint. – Die Ganzheit der Philosophie, ihr System, ist
von höherer Mächtigkeit als der Inbegriff ihrer sämtlichen Probleme es fordern
kann, weil die Einheit in der Lösung ihrer aller nicht erfragbar ist. Wäre
nämlich die Einheit in der Lösung aller Probleme selbst erfragbar, so würde
alsbald mit Hinsicht auf die Frage, welche sie erfragt, die neue sich
einstellen, worin die Einheit ihrer Beantwortung mit der von allen übrigen
beruhe. Daraus folgt, daß es keine Frage gibt, welche die Einheit der
Philosophie erfragend umspannt. Den Begriff dieser nichtexistenten Frage,
welche die Einheit der Philosophie erfragt, bezeichnet in der Philosophie das
Ideal des Problems. Wenn aber auch das System in keinem Sinne ertragbar ist, so
gibt es doch Gebilde, die, ohne Frage zu sein, zum Ideal des Problems die
tiefste Affinität haben. Es sind die Kunstwerke. Nicht mit der Philosophie
selbst konkurriert das Kunstwerk, es tritt lediglich zu ihr ins genaueste
Verhältnis durch seine Verwandtschaft mit dem Ideal des Problems. Und zwar
kann, einer Gesetzlichkeit nach, die im Wesen des Ideals überhaupt gründet,
dieses einzig in einer Vielheit sich darstellen. Nicht aber in einer Vielheit
von Problemen erscheint das Ideal des Problems. Vielmehr liegt es vergraben in
jener der Werke und seine Förderung ist das Geschäft der Kritik. Sie läßt im
Kunstwerk das Ideal des Problems in Erscheinung, in eine seiner Erscheinungen
treten. Denn das, was sie zuletzt in jenem aufweist, ist die virtuelle
Formulierbarkeit seines Wahrheitsgehalts als höchstem philosophischen Problems;
wovor sie aber, wie aus Ehrfurcht vor dem Werk, gleich sehr jedoch aus Achtung
vor der Wahrheit innehält, das ist eben diese Formulierung selbst. Wäre doch
jene Formulierbarkeit allein, wenn das System erfragbar wäre, einzulösen und
würde damit aus einer Erscheinung des Ideals sich in den nie gegebenen Bestand
des Ideals selbst verwandeln. So aber sagt sie einzig, daß die Wahrheit in
einem Werke zwar nicht als erfragt, doch als erfordert sich erkennen würde.
Wenn es also erlaubt ist zu sagen, alles Schöne beziehe sich irgendwie auf das
Wahre und sein virtueller Ort in der Philosophie sei bestimmbar, so heißt dies,
in jedem wahren Kunstwerk lasse eine Erscheinung von dem Ideal des Problems
sich auffinden. Daraus ergibt sich, daß von dort an, wo die Betrachtung von den
Grundlagen des Romans zur Anschauung seiner Vollkommenheit sich erhebt, die
Philosophie statt des Mythos sie zu führen berufen ist. –
Damit tritt die Gestalt der Ottilie hervor.
Scheint doch in dieser am sichtbarsten der Roman der mythischen Welt zu
entwachsen. Denn wenn sie auch als Opfer dunkler Mächte fällt, so ist's doch
eben ihre Unschuld, welche sie, der alten Forderung gemäß, die vom Geopferten
Untadeligkeit verlangt, zu diesem furchtbaren Geschick bestimmt. Zwar stellt in
dieser Mädchengestalt nicht die Keuschheit, soweit sie aus der Geistigkeit
entspringen mag, sich dar – vielmehr begründet solche Unberührbarkeit bei der
Luciane nahezu einen Tadel – jedoch ihr ganz natürliches Gebaren macht trotz
vollkommener Passivität, die der Ottilie im Erotischen sowie in jeder anderen
Sphäre eignet, diese bis zur Entrücktheit unnahbar. In seiner aufdringlichen
Art sagt auch das Wernersche Sonett es an: Die Keuschheit dieses Kindes hütet
kein Bewußtsein. Aber ist ihr Verdienst nicht nur umso größer? Wie tief sie im
natürlichen Wesen des Mädchens gründet, stellt Goethe in den Bildern dar, in
denen er sie mit dem Christusknaben und mit Charlottens totem Kind im Arme
zeigt. Zu beiden kommt Ottilie ohne Gatten. Jedoch der Dichter hat noch mehr
hiermit gesagt. Denn das »lebende« Bild, das die Anmut und die aller
Sittenstrenge überlegene Reinheit der Gottesmutter darstellt, ist eben das
künstliche. Dasjenige, das die Natur nur wenig später bietet, zeigt den toten
Knaben. Und gerade dies enthüllt das wahre Wesen jener Keuschheit, deren
sakrale Unfruchtbarkeit an sich selbst in nichts über der unreinen
Verworrenheit der Sexualität steht, die die zerfallenen Gatten zueinander führt
und deren Recht allein darin waltet, eine Vereinigung hintanzuhalten, in der
sich Mann und Frau verlieren müßten. In Ottiliens Erscheinung aber beansprucht
diese Keuschheit bei weitem mehr. Sie ruft den Schein einer Unschuld des
natürlichen Lebens hervor. Die heidnische wenn auch nicht mythische Idee dieser
Unschuld verdankt zumindest ihre äußerste und folgenreichste Formulierung im
Ideal der Jungfräulichkeit dem Christentum. Wenn die Gründe einer mythischen
Urschuld im bloßen Lebenstrieb der Sexualität zu suchen sind, so sieht der
christliche Gedanke ihren Widerpart, wo jener am meisten von drastischem
Ausdruck entfernt ist: im Leben der Jungfrau. Aber diese klare wenn auch nicht
klar bewußte Intention schließt einen folgenschweren Irrtum ein. Zwar gibt es,
wie eine natürliche Schuld, so eine natürliche Unschuld des Lebens. Diese
letztere aber ist nicht an die Sexualität – und sei es verneinend – sondern
einzig an ihren Gegenpol den – gleichermaßen natürlichen – Geist gebunden. Wie
das sexuelle Leben des Menschen der Ausdruck einer natürlichen Schuld werden
kann, so sein geistiges, bezogen auf die Einheit seiner gleichviel wie
beschaffenen Individualität, der Ausdruck einer natürlichen Unschuld. Diese
Einheit individualen geistigen Lebens ist der Charakter. Die Eindeutigkeit als
sein konstitutives Wesensmoment unterscheidet ihn vom Dämonischen aller rein
sexuellen Phänomene. Einem Menschen einen komplizierten Charakter zusprechen
kann nur heißen, ihm, sei es wahrheitsgemäß, sei es zu Unrecht, den Charakter
absprechen, indessen für jede Erscheinung des bloßen sexuellen Lebens das
Siegel ihrer Erkenntnis die Einsicht in die Zweideutigkeit ihrer Natur bleibt.
Dies erweist sich auch an der Jungfräulichkeit. Vor allem liegt die Zweideutigkeit
ihrer Unberührtheit zu Tage. Denn eben das, was als das Zeichen innerer
Reinheit gedacht wird, ist der Begierde das Willkommenste. Aber auch die
Unschuld der Unwissenheit ist zweideutig. Denn auf ihrem Grunde geht die
Neigung unversehens in die als sündhaft gedachte Begierde über. Und eben diese
Zweideutigkeit kehrt höchst bezeichnender Weise in dem christlichen Symbol der
Unschuld, in der Lilie, wieder. Die strengen Linien des Gewächses, das Weiß des
Blütenkelches verbinden sich mit den betäubend süßen, kaum mehr vegetabilen
Düften. Diese gefährliche Magie der Unschuld hat der Dichter der Ottilie
mitgegeben und sie ist aufs engste dem Opfer verwandt, das ihr Tod zelebriert.
Denn eben indem sie dergestalt unschuldig erscheint, verläßt sie nicht den Bannkreis
seines Vollzugs. Nicht Reinheit sondern deren Schein verbreitet sich mit
solcher Unschuld über ihre Gestalt. Es ist die Unberührbarkeit des Scheins, die
sie dem Geliebten entrückt. Dergleichen scheinhafte Natur ist auch im Wesen der
Charlotte angedeutet, das völlig rein und unanfechtbar nur erscheint, während
in Wahrheit die Untreue gegen den Freund es entstellt. Selbst in ihrer
Erscheinung als Mutter und Hausfrau, in der Passivität ihr wenig ansteht, mutet
sie schemenhaft an. Und doch stellt sich nur um den Preis dieser Unbestimmtheit
in ihr das Adlige dar. Ottilien, welche unter Schemen der einzige Schein ist,
ist sie demnach im tiefsten nicht unähnlich. Wie es denn überhaupt unerläßlich
für die Einsicht in dieses Werk ist, seinen Schlüssel nicht im Gegensatz der
vier Partner sondern in dem zu suchen, worin sie gleichermaßen von den
Liebenden der Novelle sich unterscheiden. Die Gestalten der Haupterzählung
haben ihren Gegensatz weniger als Einzelne denn als Paare.
Hat an jener echten natürlichen Unschuld, welche
gleich wenig mit der zweideutigen Unberührtheit zu schaffen hat wie mit der
seligen Schuldlosigkeit, das Wesen der Ottilie seinen Anteil? Hat sie
Charakter? Ist ihre Natur, nicht so dank eigener Offenherzigkeit als kraft des
freien und erschlossenen Ausdrucks, klar vor Augen? Das Gegenteil von all dem
bezeichnet sie. Sie ist verschlossen – mehr als das, all ihr Tun und Sagen
vermag nicht, ihrer Verschlossenheit sie zu entäußern. Pflanzenhaftes
Stummsein, wie es so groß aus dem Daphne-Motiv der flehend gehobenen Hände
spricht, liegt über ihrem Dasein und verdunkelt es noch in den äußersten Nöten,
die sonst bei jedem es ins helle Licht setzen. Ihr Entschluß zum Sterben bleibt
nicht nur vor den Freunden bis zuletzt geheim, er scheint in seiner völligen
Verborgenheit auch für sie selbst unfaßbar sich zu bilden. Und dies rührt an
die Wurzel seiner Moralität. Denn wenn irgendwo, so zeigt sich im Entschluß die
moralische Welt vom Sprachgeist erhellt. Kein sittlicher Entschluß kann ohne
sprachliche Gestalt, und streng genommen, ohne darin Gegenstand der Mitteilung
geworden zu sein, ins Leben treten. Daher wird, in dem vollkommenen Schweigen
der Ottilie, die Moralität des Todeswillens, welcher sie beseelt, fragwürdig. Ihm
liegt in Wahrheit kein Entschluß zugrunde sondern ein Trieb. Daher ist nicht,
wie sie es zweideutig auszusprechen scheint, ihr Sterben heilig. Wenn sie aus
ihrer »Bahn« geschritten sich erkennt, so kann dies Wort in Wahrheit einzig
heißen, daß nur der Tod sie vor dem innern Untergange bewahren kann. Und so ist
er wohl Sühne im Sinne des Schicksals, nicht jedoch die heilige Entsühnung,
welche nie der freie, sondern nur der göttlich über ihn verhängte Tod dem
Menschen werden kann. Ottiliens ist, wie ihre Unberührtheit, nur der letzte
Ausweg der Seele, welche vor dem Verfallensein entflieht. In ihrem Todestriebe
spricht die Sehnsucht nach Ruhe. Wie gänzlich er Natürlichem in ihr entspringt,
hat Goethe nicht zu bezeichnen verfehlt. Wenn Ottilie stirbt indem sie sich die
Nahrung entzieht, so hat er im Roman es ausgesprochen, wie sehr ihr auch in
glücklicheren Zeiten oft Speise widerstanden hat. Nicht so sehr darum ist das
Dasein der Ottilie, das Gundolf heilig nennt, ein ungeheiIigtes, weil sie sich
gegen eine Ehe, die zerfällt, vergangen hätte, als weil sie, im Scheinen und im
Werden schicksalhafter Gewalt bis zum Tod unterworfen, entscheidungslos ihr
Leben dahinlebt. Dieses ihr schuldig-schuldloses Verweilen im Raume des
Schicksals leiht ihr vor flüchtigen Blicken das Tragische. So kann Gundolf von
dem »Pathos dieses Werkes« sprechen »nicht minder tragisch erhaben und
erschütternd als das, aus dem der Sophokleische Ödipus stammt«. Vor ihm schon
ähnlich Francois-Poncet in seinem schalen aufgeschwemmten Buche über die
»affinites electives«. Und doch ist dies das falscheste Urteil. Denn im
tragischen Worte des Helden ist der Grat der Entscheidung erstiegen, unter dem
Schuld und Unschuld des Mythos sich als Abgrund verschlingen. Jenseits von
Verschuldung und Unschuld ist das Diesseits von Gut und Böse gegründet, das dem
Helden allein, doch niemals dem zagenden Mädchen erreichbar ist. Darum ist es
leeres Reden, ihre »tragische Läuterung« zu rühmen. Untragischer kann nichts
ersonnen werden als dieses trauervolle Ende.
Aber nicht allein darin gibt sich der sprachlose
Trieb zu erkennen; haltlos erscheint auch ihr Leben, wenn es der Lichtkreis
moralischer Ordnungen trifft. Doch nur gänzliche Anteillosigkeit an dieser
Dichtung scheint dafür dem Kritiker Augen gelassen zu haben. So blieb es dem
hausbacknen Verstand Julian Schmidts vorbehalten, die Frage zu stellen, die
doch dem Unbefangenen am ersten dem Geschehen gegenüber sich einstellen müßte.
»Es wäre nichts dagegen zu sagen gewesen, wenn die Leidenschaft stärker gewesen
wäre als das Gewissen, aber wie begreift sich dies Verstummen des Gewissens?«
»Ottilie begeht eine Schuld, sie empfindet sie später sehr tief, tiefer als
nötig; aber wie geht es zu, daß sie es nicht vorher empfindet? … Wie ist es
möglich, daß eine so wohl geschaffene und so wohl erzogene Seele wie Ottilie
sein soll, nicht empfindet, daß sie durch die Art ihres Benehmens gegen Eduard
ein Unrecht an Charlotte, ihrer Wohltäterin begeht?« Keine Einsicht in die
innersten Zusammenhänge des Romans kann das plane Recht dieser Frage
entkräften. Das Verkennen ihrer zwingenden Natur läßt das Wesen des Romans im
Dunkeln. Denn dies Schweigen der moralischen Stimme ist nicht, wie die
gedämpfte Sprache der Affekte, als ein Zug der Individualität zu fassen. Es ist
keine Bestimmung innerhalb der Grenzen menschlichen Wesens. Mit diesem
Schweigen hat verzehrend im Herzen des edelsten Wesens sich der Schein
angesiedelt. Und seltsam gemahnt das an die Schweigsamkeit Minna Herzliebs,
welche geisteskrank im Alter gestorben ist. Alle sprachlose Klarheit des
Handelns ist scheinhaft und in Wahrheit ist das Innere so sich Bewahrender
ihnen selbst nicht weniger als andern verdunkelt. In ihrem Tagebuche allein
scheint zuletzt sich noch Ottiliens menschliches Leben zu regen. Ist doch all
ihr sprachbegabtes Dasein mehr und mehr in diesen stummen Niederschriften zu
suchen. Doch auch sie bauen nur das Denkmal für eine Erstorbene. Ihr Offenbaren
von Geheimnissen, welche der Tod allein entsiegeln dürfte, gewöhnt an den
Gedanken ihres Hinscheidens; und sie deuten auch, indem sie jene Schweigsamkeit
der Lebenden bekunden, auf ihr völliges Verstummen voraus. Sogar in ihre
geistige, entrückte Stimmung dringt das Scheinhafte, das in dem Leben der
Schreiberin waltet. Denn wenn es die Gefahr des Tagebuches überhaupt ist,
allzufrühe die Keime der Erinnerung in der Seele aufzudecken und das Reifen
ihrer Früchte zu vereiteln, so muß sie notwendig verhängnisvoll dort werden, wo
in ihm allein das geistige Leben sich ausspricht. Und doch stammt zuletzt alle
Kraft verinnerlichten Daseins aus Erinnerung. Erst sie verbürgt der Liebe ihre
Seele. Die atmet in dem Goetheschen Erinnern: »Ach, Du warst in abgelebten
Zeiten | Meine Schwester oder meine Frau«. Und wie in solchem Bunde selbst die
Schönheit als Erinnerung sich überdauert, so ist sie auch im Blühen wesenlos
ohne diese. Das bezeugen die Worte des Platonischen Phaedrus: »Wer nun erst
frisch von der Weihe kommt und einer von denen ist, die dort im Jenseits viel
erschauten, der, wenn er ein göttliches Antlitz, welches die Schönheit wohl
nachbildet oder eine Körpergestalt erblickt, wird zunächst, der damals erlebten
Bedrängnis gedenkend, von Bestürzung befallen, dann aber recht zu ihr
hintretend, erkennt er ihr Wesen und verehrt sie wie einen Gott, denn die Erinnerung
zur Idee der Schönheit erhoben schaut diese wiederum neben der Besonnenheit auf
heiligem Boden stehend.« Ottiliens Dasein weckt solche Erinnerung nicht, in ihm
bleibt wirklich Schönheit das Erste und Wesentliche. All ihr günstiger
»Eindruck geht nur aus der Erscheinung hervor; trotz der zahlreichen
Tagebuchblätter bleibt ihr inneres Wesen verschlossen, verschlossener als
irgend eine weibliche Figur Heinrich von Kleists«. In dieser Einsicht begegnet
sich Julian Schmidt mit einer alten Kritik, die mit sonderbarer Bestimmtheit
sagt: »Diese Ottilie ist nicht ein echtes Kind von des Dichters Geiste, sondern
sündhafter Weise erzeugt, in doppelter Erinnerung an Mignon und an ein altes
Bild von Masaccio oder Giotto«. In der Tat sind in Ottiliens Gestalt die Grenzen
der Epik gegen die Malerei überschritten. Denn die Erscheinung des Schönen als
des wesentlichen Gehaltes in einem Lebendigen liegt jenseits des epischen
Stoffkreises. Und doch steht sie im Zentrum des Romans. Denn es ist nicht zu
viel gesagt, wenn man die Überzeugung von Ottiliens Schönheit als
Grundbedingung für den Anteil am Roman bezeichnet. Diese Schönheit darf,
solange seine Welt Bestand hat, nicht verschwinden: der Sarg, in dem das
Mädchen ruht, wird nicht geschlossen. Sehr weit hat Goethe sich in diesem Werk
von dem berühmten Homerischen Vorbild für die epische Darstellung der Schönheit
entfernt. Denn nicht allein zeigt selbst die Helena in ihrem Spott gegen Paris
sich entschiedner, als je in ihren Worten die Ottilie, sondern vor allem in der
Darstellung von deren Schönheit ist Goethe nicht der berühmten Regel gefolgt,
die aus den bewundernden Reden der auf der Mauer versammelten Greise entnommen
wurde. Jene auszeichnenden Epitheta, welche, selbst gegen die Gesetze der
Romanform, der Ottilie verliehen werden, dienen nur, sie aus der epischen Ebene
herauszurücken, in welcher der Dichter waltet und eine fremde Lebendigkeit ihr
mitzuteilen, für die er nicht verantwortlich ist. Je ferner sie dergestalt der
Homerischen Helena steht desto näher der Goetheschen. In zweideutiger Unschuld
und scheinhafter Schönheit wie sie, steht sie wie sie in Erwartung des
sühnenden Todes. Und Beschwörung ist ja auch bei ihrer Erscheinung im Spiel.
Der episodischen Gestalt der Griechin gegenüber
wahrte Goethe die vollkommene Meisterschaft, da er in der Form dramatischer Darstellung
selbst die Beschwörung durchleuchtete – wie wohl in diesem Sinne es am
allerwenigsten ein Zufall scheint, daß jene Szene, in der Faust von Persephone
die Helena erbitten sollte, nie geschrieben wurde. In den Wahlverwandtschaften
aber ragen die dämonischen Prinzipien der Beschwörung in das dichterische
Bilden selbst mitten hinein. Beschworen nämlich wird stets nur ein Schein, in
Ottilien die lebendige Schönheit, welche stark, geheimnisvoll und ungeläutert
als »Stoff« in gewaltigstem Sinne sich aufdrängte. So bestätigt sich das
Hadeshafte, das der Dichter dem Geschehn verleiht: vor dem tiefen Grunde seiner
Dichtergabe steht er wie Odysseus mit dem nackten Schwerte vor der Grube voll
Blut und wie dieser wehrt er den durstigen Schatten, um nur jene zu dulden,
deren karge Rede er sucht. Sie ist ein Zeichen ihres geisterhaften Ursprungs.
Er ist es, der das eigentümlich Durchscheinende, mitunter Preziöse in Anlage
und Ausführung hervorbringt. Jene Formelhaftigkeit, welche vor allem im Aufbau
des zweiten Teiles sich findet, der zuletzt nach Vollendung der Grundkonzeption
bedeutend erweitert wurde, tritt doch angedeutet auch im Stil, in seinen
zahllosen Parallelismen, Komparativen und Einschränkungen hervor, wie sie der
späten Goetheschen Schreibart nah liegen. In diesem Sinne äußert Görres gegen
Arnim, daß in den Wahlverwandtschaften manches ihm »wie gebohnt und nicht wie
geschnitzt« vorkäme. Ein Wort, das zumal auf die Maximen der Lebensweisheit
seine Anwendung finden möchte. Problematischer noch sind die Züge, welche
überhaupt nicht der rein rezeptiven Intention sich erschließen können: jene
Korrespondenzen, welche einzig einer vom Ästhetischen ganz abgekehrten,
philologisch forschenden Betrachtung sich erschließen. Ganz gewiß greift in
solchen die Darstellung ins Bereich beschwörender Formeln hinüber. Daher fehlt
ihr so oft die letzte Augenblicklichkeit und Endgültigkeit der künstlerischen
Belebung: die Form. In dem Roman baut diese nicht sowohl Gestalten, welche oft
genug aus eigner Machtvollkommenheit formlos als mythische sich einsetzen, auf,
als daß sie zaghaft, gleichsam arabeskenhaft um jene spielend, vollendet und
mit höchstem Recht sie auflöst. Als Ausdruck inhärenter Problematik mag man die
Wirkung des Romans ansehn. Es unterscheidet ihn von andern, die das beste Teil,
wenn auch nicht stets die höchste Stufe ihrer Wirkung im unbefangenen Gefühl
des Lesers finden, daß er auf dieses höchst verwirrend wirken muß. Ein trüber
Einfluß, der sich in verwandten Gemütern bis zu schwärmerischem Anteil und in fremderen
zu widerstrebender Verstörtheit steigern mag, war ihm von jeher eigen und nur
die unbestechliche Vernunft, in deren Schutz das Herz der ungeheueren,
beschwornen Schönheit dieses Werks sich überlassen darf, ist ihm gewachsen.
Beschwörung will das negative Gegenbild der
Schöpfung sein. Auch sie behauptet aus dem Nichts die Welt hervorzubringen. Mit
beiden hat das Kunstwerk nichts gemein. Nicht aus dem Nichts tritt es hervor
sondern aus dem Chaos. Ihm jedoch wird es nicht, wie nach dem Idealismus der
Emanationslehre die geschaffene Welt es tut, sich entringen. Künstlerisches
Schaffen »macht« nichts aus dem Chaos, durchdringt es nicht; genau so wenig
wird, wie Beschwörung dies in Wahrheit tut, aus Elementen jenes Chaos Schein sich
mischen lassen. Dies bewirkt die Formel. Form jedoch verzaubert es auf einen
Augenblick zur Welt. Daher darf kein Kunstwerk gänzlich ungebannt lebendig
scheinen ohne bloßer Schein zu werden und aufzuhören Kunstwerk zu sein. Das in
ihm wogende Leben muß erstarrt und wie in einem Augenblick gebannt erscheinen.
Dies in ihm Wesende ist bloße Schönheit, bloße Harmonie, die das Chaos – und in
Wahrheit eben nur dieses, nicht die Welt – durchflutet, im Durchfluten aber zu
beleben nur scheint. Was diesem Schein Einhalt gebietet, die Bewegung bannt und
der Harmonie ins Wort fällt ist das Ausdruckslose. Jenes Leben gründet das
Geheimnis, dies Erstarren den Gehalt im Werke. Wie die Unterbrechung durch das
gebietende Wort es vermag aus der Ausflucht eines Weibes die Wahrheit gerad da
herauszuholen, wo sie unterbricht, so zwingt das Ausdruckslose die zitternde
Harmonie einzuhalten und verewigt durch seinen Einspruch ihr Beben. In dieser
Verewigung muß sich das Schöne verantworten, aber nun scheint es in eben dieser
Verantwortung unterbrochen und so hat es denn die Ewigkeit seines Gehalts eben
von Gnaden jenes Einspruchs. Das Ausdruckslose ist die kritische Gewalt, welche
Schein vom Wesen in der Kunst zwar zu trennen nicht vermag, aber ihnen
verwehrt, sich zu mischen. Diese Gewalt hat es als moralisches Wort. Im
Ausdruckslosen erscheint die erhabne Gewalt des Wahren, wie es nach Gesetzen
der moralischen Welt die Sprache der wirklichen bestimmt. Dieses nämlich
zerschlägt was in allem schönen Schein als die Erbschaft des Chaos noch
überdauert: die falsche, irrende Totalität die absolute. Dieses erst vollendet
das Werk, welches es zum Stückwerk zerschlägt, zum Fragmente der wahren Welt,
zum Torso eines Symbols. Eine Kategorie der Sprache und Kunst, nicht des Werkes
oder der Gattungen, ist das Ausdruckslose strenger nicht definierbar, als durch
eine Stelle aus Hölderlins Anmerkungen zum Ödipus, welche in ihrer über die
Theorie der Tragödie hinaus für jene der Kunst schlechthin grundlegenden
Bedeutung noch nicht erkannt zu sein scheint. Sie lautet: »Der tragische
Transport ist nemlich eigentlich leer, und der ungebundenste. – Dadurch wird in
der rhythmischen Aufeinanderfolge der Vorstellungen, worin der Transport sich
darstellt, das, was man im Sylbenmaasse Cäsur heißt, das reine Wort, die
gegenrhythmische Unterbrechung notwendig, um nemlich dem reißenden Wechsel der
Vorstellungen, auf seinem Summum, so zu begegnen, daß alsdann nicht mehr der
Wechsel der Vorstellung, sondern die Vorstellung selber erscheint«. Die
»abendländische Junonische Nüchternheit«, die Hölderlin einige Jahre bevor er
dies schrieb als fast unerreichbares Ziel aller deutschen Kunstübung
vorstellte, ist nur eine andere Bezeichnung jener Cäsur, in der mit der
Harmonie zugleich jeder Ausdruck sich legt, um einer innerhalb aller
Kunstmittel ausdruckslosen Gewalt Raum zu geben. Solche Gewalt ist kaum je
deutlicher geworden als in der griechischen Tragödie einer-, der Hölderlinschen
Hymnik andrerseits. In der Tragödie als Verstummen des Helden, in der Hymne als
Einspruch im Rhythmus vernehmbar. Ja, man könnte jenen Rhythmus nicht genauer
bezeichnen als mit der Aussage, daß etwas jenseits des Dichters der Dichtung
ins Wort fällt. Hier liegt der Grund »warum eine Hymne selten (und mit ganzem
Recht vielleicht niemals) ›schön‹ genannt werden wird«. Tritt in jener Lyrik
das Ausdruckslose, so in Goethescher die Schönheit bis zur Grenze dessen
hervor, was im Kunstwerk sich fassen läßt. Was jenseits dieser Grenze sich
bewegt ist Ausgeburt des Wahnsinns in der einen, ist beschworene Erscheinung in
der andern Richtung. Und in dieser darf die deutsche Dichtung keinen Schritt
über Goethe hinaus wagen, ohne gnadenlos einer Scheinwelt anheimzufallen, deren
lockendste Bilder Rudolf Borchardt hervorrief. Fehlen doch selbst im Werk
seines Meisters nicht Zeugnisse, daß es nicht immer der seinem Genius nächsten
Versuchung entging, den Schein zu beschwören.
So gedenkt er der Arbeit am Roman denn
gelegentlich mit den Worten: »Man findet sich schon glücklich genug, wenn man
sich in dieser bewegten Zeit in die Tiefe der stillen Leidenschaften flüchten
kann«. Wenn hier der Gegensatz bewegter Fläche und der stillen Tiefe nur
flüchtig an ein Wasser gemahnen mag, so findet ausgesprochner solch Vergleich
bei Zelter sich. In einem Briefe vom Romane handelnd schreibt er Goethe: »Dazu
eignet sich endlich noch eine Schreibart, welche wie das klare Element
beschaffen ist, dessen flinke Bewohner durcheinanderschwimmen, blinkelnd oder
dunkelnd auf und ab fahren, ohne sich zu verirren oder zu verlieren«. Was so in
Zelters nie genug geschätzter Weise ausgesprochen, verdeutlicht wie der
formelhaft gebannte Stil des Dichters verwandt dem bannenden Reflex im Wasser
ist. Und über die Stilistik hinaus weist es auf die Bedeutung jenes »Lustsees«
und endlich auf den Sinngehalt des ganzen Werks. Wie nämlich zweideutig die
scheinhafte Seele sich darin zeigt, mit unschuldiger Klarheit verlockend und in
tiefste Dunkelheit hinunterführend, so ist auch das Wasser dieser sonderbaren
Magie teilhaftig. Denn einerseits ist es das Schwarze, Dunkle, Unergründliche,
andrerseits aber das Spiegelnde, Klare und Klärende. Die Macht dieser
Zweideutigkeit, die schon ein Thema des »Fischers« gewesen war, ist im Wesen
der Leidenschaft in den Wahlverwandtschaften herrschend geworden. Wenn sie so
in ihr Zentrum hineinführt, weist sie andrerseits wieder zurück auf den
mythischen Ursprung ihres Bildes vom schönen Leben und erlaubt mit vollendeter
Klarheit es zu erkennen. »In dem Elemente, dem die Göttin« – Aphrodite –
»entstieg, scheint die Schönheit recht eigentlich heimisch zu sein. An
strömenden Flüssen und Quellen wird sie gepriesen; Schönfließ heißt eine der
Okeaniden; unter den Nereiden tritt die schöne Gestalt der Galatea hervor und
zahlreich entstammen den Göttern des Meeres schönfüßige Töchter. Das bewegliche
Element, wie es zunächst den Fuß der Schreitenden umspült, benetzt Schönheit
spendend die Füße der Göttinnen, und die silberfüßige Thetis bleibt für alle
Zeiten das Vorbild, nach welchem die dichterische Phantasie der Griechen diesen
Körperteil ihrer Gebilde zeichnet … Keinem Manne oder mannhaft gedachten Gotte
legt Hesiod Schönheit bei; auch bezeichnet sie hier noch keinerlei inneren
Wert. Sie erscheint ganz vorwiegend an die äußere Gestalt des Weibes, an
Aphrodite und die okeanischen Lebensformen gebunden.« Wenn so – nach Walters
»Ästhetik im Altertum« – der Ursprung eines bloßen schönen Lebens gemäß den
Weisungen des Mythos in der Welt harmonisch-chaoshaften Wogens liegt, so hat
ein tiefes Gefühl die Herkunft der Ottilie dort gesucht. Wo Hengstenberg
gehässig eines »nymphenartigen Essens« der Ottilie, Werner tastend seiner
»gräßlich zarten Meernixe« gedenkt, da hat Bettina unvergleichlich sicher den
innersten Zusammenhang berührt: »Du bist in sie verliebt, Goethe, es hat mir
schon lange geahnt; jene Venus ist dem brausenden Meer Deiner Leidenschaft
entstiegen, und nachdem sie eine Saat von Tränenperlen ausgesäet, da
verschwindet sie wieder in überirdischem Glanz«.
Mit der Scheinhaftigkeit, die Ottiliens Schönheit
bestimmt, bedroht Wesenlosigkeit noch die Rettung, die die Freunde aus ihren
Kämpfen gewinnen. Denn ist die Schönheit scheinhaft, so ist es auch die
Versöhnung, die sie mythisch in Leben und Sterben verheißt. Ihre Opferung wäre
umsonst wie ihr Blühen, ihr Versöhnen ein Schein der Versöhnung. Wahre
Versöhnung gibt es in der Tat nur mit Gott. Während in ihr der Einzelne mit ihm
sich versöhnt und nur dadurch mit den Menschen sich aussöhnt, ist es der scheinhaften
Versöhnung eigen, jene untereinander aussöhnen und nur dadurch mit Gott
versöhnen zu wollen. Von neuem trifft dies Verhältnis scheinhafter Versöhnung
zur wahren auf den Gegensatz von Roman und Novelle. Denn darauf will ja zuletzt
der wunderliche Streit hinaus, der die Liebenden in ihrer Jugend befängt, daß
ihre Liebe, weil sie um wahrer Versöhnung willen das Leben wagt, sie erlangt
und mit ihr den Frieden, in dem ihr Liebesbund dauert. Weil nämlich wahre
Versöhnung mit Gott keinem gelingt, der nicht in ihr – soviel an ihm ist –
alles vernichtet, um erst vor Gottes versöhntem Antlitz es wieder erstanden zu
finden, darum bezeichnet ein todesmutiger Sprung jenen Augenblick, da sie – ein
jeder ganz für sich allein vor Gott – um der Versöhnung willen sich einsetzen.
Und in solcher Versöhnungsbereitschaft erst ausgesöhnt gewinnen sie sich. Denn
die Versöhnung, die ganz überweltlich und kaum fürs Kunstwerk gegenständlich
ist, hat in der Aussöhnung der Mitmenschen ihre weltliche Spiegelung. Wie sehr
bleibt gegen sie die adlige Nachsicht, jene Duldung und Zartheit zurück, die
doch zuletzt den Abstand nur wachsen macht, in dem die Romangestalten sich
wissen. Denn weil sie den offenen Streit, dessen Übermaß selbst in der
Gewalttat eines Mädchens Goethe darzustellen sich nicht scheute, stets
vermeiden, muß die Aussöhnung ihnen fern bleiben. So viel Leiden, so wenig
Kampf. Daher das Schweigen aller Affekte.
Sie treten niemals als Feindschaft, Rachsucht,
Neid nach außen, aber sie leben auch nicht als Klage, Scham und Verzweiflung im
Innern. Denn wie ließe mit dem verzweifelten Handeln der Verschmähten sich das
Opfer der Ottilie vergleichen, welches in Gottes Hand nicht das teuerste Gut,
sondern die schwerste Bürde legt und seinen Ratschluß vorwegnimmt. So fehlt
alles Vernichtende wahrer Versöhnung durchaus ihrem Schein, wie denn selbst,
soweit möglich, von der Todesart der Ottilie alles Schmerzhafte und Gewaltsame
fernbleibt. Und nicht hiermit allein verhängt eine unfromme Vorsicht die
drohende Friedlosigkeit über die allzu Friedfertigen. Denn was hundertfach der
Dichter verschweigt, geht doch einfach genug aus dem Gange des Ganzen hervor:
daß nach sittlichen Gesetzen die Leidenschaft all ihr Recht und ihr Glück
verliert, wo sie den Pakt mit dem bürgerlichen, dem reichlichen, dem
gesicherten Leben sucht. Dies ist die Kluft, über die vergebens der Dichter auf
dem schmalen Stege reiner menschlicher Gesittung mit nachtwandlerischer
Sicherheit seine Gestalten schreiten lassen will. Jene edle Bändigung und
Beherrschung vermag nicht die Klarheit zu ersetzen, die der Dichter gewiß so
von sich selber zu entfernen wußte wie von ihnen. (Hier ist Stifter sein
vollendeter Epigone.) In der stummen Befangenheit, welche diese Menschen in dem
Umkreis menschlicher, ja bürgerlicher Sitte einschließt und dort das Leben der
Leidenschaft für sie zu retten hofft, liegt das dunkle Vergehen, welches seine
dunkle Sühne fordert. Sie flüchten im Grunde vor dem Spruche des Rechts, das
über sie noch Gewalt hat. Sind sie dem Anschein nach ihm durch adliges Wesen
enthoben, so vermag sie in Wirklichkeit nur das Opfer zu retten. Daher wird
nicht der Friede ihnen zuteil, den die Harmonie ihnen leihen soll; ihre
Lebenskunst Goethescher Schule macht die Schwüle nur dumpfer. Denn hier regiert
die Stille vor dem Sturm, in der Novelle aber das Gewitter und der Friede.
Während Liebe die Versöhnten geleitet, bleibt als Schein der Versöhnung nur die
Schönheit bei den andern zurück.
Den wahrhaft Liebenden ist Schönheit des
Geliebten nicht entscheidend. Wenn sie es war, die erstmals sie zueinander
hinzog, werden über größern Herrlichkeiten sie ihrer immer wieder vergessen, um
bis ans Ende freilich im Gedanken immer wieder ihrer inne zu werden. Anders als
die Leidenschaft. Jedes, auch das flüchtigste Schwinden der Schönheit macht sie
verzweifeln. Denn nur der Liebe heißt die Schöne das teuerste Gut, für die
Leidenschaft ist dies die Schönste. Leidenschaftlich ist denn auch die Mißbilligung,
mit der die Freunde von der Novelle sich abwenden. Ist ihnen die Preisgabe der
Schönheit doch unerträglich. Jene Wildheit, die das Mädchen entstellt, ist es
auch nicht die leere, verderbliche der Luciane, sondern die drängende, heilsame
eines edlern Geschöpfs, soviel Anmut mit ihr sich paart, sie genügt, ein
befremdendes Wesen ihr mitzugeben, des kanonischen Ausdrucks der Schönheit sie
zu berauben. Dieses Mädchen ist nicht wesentlich schön, Ottilie ist es. Auf
seine Weise ist es selbst Eduard, nicht umsonst rühmt man die Schönheit dieses
Paares. Goethe selbst aber wandte nicht nur – und über die Grenzen der Kunst
hinaus – die erdenkliche Macht seiner Gaben auf, diese Schönheit zu bannen,
sondern mit leichtester Hand legt er's nahe genug, die Welt dieser sanften,
verschleierten Schönheit als die Mitte der Dichtung zu ahnen. Im Namen der
Ottilie wies er auf die Heilige, der als Schutzpatronin Augenleidender auf dem
Odilienberg im Schwarzwald ein Kloster gestiftet war. Er nennt sie einen
»Augentrost« der Männer die sie sehen, ja man darf in ihrem Namen auch des
milden Lichtes sich erinnern, das die Wohltat kranker Augen und die Heimat
allen Scheines in ihr selbst ist. Dem stellte er den Glanz, der schmerzhaft
strahlt, im Namen und in der Erscheinung der Luciane, und ihren sonnenhaften,
weiten Lebenskreis dem mondhaft-heimlichen Ottiliens gegenüber. Wie er aber
deren Sanftmut nicht allein Lucianes falsche Wildheit, sondern auch die rechte
jener Liebenden zur Seite gibt, so ist der milde Schimmer ihres Wesens mitteninne
gestellt zwischen das feindliche Glänzen und das nüchterne Licht. Der rasende
Angriff, von dem die Novelle erzählt, war gegen das Augenlicht des Geliebten
gerichtet; nicht strenger konnte die Gesinnung dieser Liebe die abhold allem
Schein ist angedeutet werden. Die Leidenschaft bleibt in dessen Bannkreis
gefangen und den Entbrennenden vermag sie an sich selbst nicht einmal in der
Treue Halt zu leihen. Der Schönheit unter jedem Schein verfallen, wie sie ist,
muß ihr Chaotisches verheerend ausbrechen, fände nicht ein geistigeres Element
sich zu ihr, welches den Schein zu sänftigen vermöchte. Es ist die Neigung.
In der Neigung löst der Mensch von der
Leidenschaft sich ab. Es ist das Wesensgesetz, welches diese wie jede Ablösung
aus der Sphäre des Scheins und den Übergang zum Reiche des Wesens bestimmt, daß
allmählich, ja selbst unter einer letzten und äußersten Steigerung des Scheins
sich die Wandlung vollzieht. So scheint auch im Heraustreten der Neigung die
Leidenschaft mehr noch als früher und völlig zur Liebe zu werden. Leidenschaft
und Neigung sind die Elemente aller scheinhaften Liebe, die nicht im Versagen des
Gefühls, sondern einzig in seiner Ohnmacht von der wahren sich unterschieden
zeigt. Und so muß es denn ausgesprochen werden, daß nicht die wahre Liebe es
ist, die in Ottilie und Eduard herrscht. Die Liebe wird vollkommen nur wo sie
über ihre Natur erhoben durch Gottes Walten gerettet wird. So ist das dunkle
Ende der Liebe, deren Dämon Eros ist, nicht ein nacktes Scheitern, sondern die
wahrhafte Einlösung der tiefsten Unvollkommenheit, welche der Natur des
Menschen selber eignet. Denn sie ist's, welche die Vollendung der Liebe ihm
wehrt. Darum tritt in alles Lieben, was nur sie bestimmt, die Neigung als das
eigentliche Werk des ʼ'Εϱωϛ ϑάνατοϛ: das Eingeständnis, daß der Mensch nicht
lieben könne. Während in aller geretteten, wahren Liebe die Leidenschaft
secundiert wie die Neigung bleibt, macht deren Geschichte und der Übergang der
einen in die andere das Wesen des Eros. Freilich führt nicht ein Tadel der
Liebenden, wie Bielschowsky ihn wagt, darauf hin. Dennoch läßt selbst sein
banaler Ton die Wahrheit nicht verkennen. Nachdem er nämlich die Unart, ja die
zügellose Selbstsucht des Liebhabers angedeutet, heißt es von Ottiliens
unbeirrter Liebe weiter: »Es mag im Leben hie und da eine solche abnorme
Erscheinung anzutreffen sein. Aber dann zucken wir die Achseln und sagen: wir
verstehen es nicht. Eine solche Erklärung, gegenüber einer dichterischen
Erfindung abgegeben, ist ihre schwerste Verurteilung. In der Dichtung wollen
und müssen wir verstehen. Denn der Dichter ist Schöpfer. Er schafft die
Seelen«. Inwiefern dies zuzugeben sei, wird gewiß höchst problematisch bleiben.
Unverkennbar aber ist, daß jene Goetheschen Gestalten nicht geschaffen, noch
auch rein gebildet, sondern eher gebannt erscheinen können. Daher eben stammt
die Art von Dunkel, welche Kunstgebilden fremd und dem allein, der dessen Wesen
in dem Schein kennt, zu ergründen ist. Denn der Schein ist in dieser Dichtung
nicht sowohl dargestellt, als in ihrer Darstellung selber. Darum allein kann er
so viel bedeuten, darum allein bedeutet sie so viel. Bündiger enthüllt den
Bruch jener Liebe dies, daß jedwede in sich gewachsne Herr dieser Welt werden
muß: sei es in ihrem natürlichen Ausgang, dem gemeinsamen – nämlich streng
gleichzeitigen – Tode, sei es in ihrer übernatürlichen Dauer, der Ehe. Dies hat
Goethe in der Novelle ausgesprochen, da der Augenblick der gemeinsamen
Todesbereitschaft durch göttlichen Willen das neue Leben den Liebenden schenkt,
auf das alte Rechte ihren Anspruch verlieren. Hier zeigt er das Leben der
beiden gerettet in eben dem Sinne, in dem es den Frommen die Ehe bewahrt; in
diesem Paare hat er die Macht wahrer Liebe dargestellt, die in religiöser Form
auszusprechen er sich verwehrte. Demgegenüber steht im Roman in diesem
Lebensbereich das zwiefache Scheitern. Während die einen, vereinsamt,
dahinsterben, bleibt den Überlebenden die Ehe versagt. Der Schluß beläßt den
Hauptmann und Charlotten wie die Schatten in der Vorhölle. Weil in keinem der
Paare der Dichter die wahre Liebe konnte walten lassen, welche diese Welt hätte
sprengen müssen, gab er unscheinbar aber unverkennbar in den Gestalten der
Novelle ihr Wahrzeichen seinem Werke mit.
Über schwankende Liebe macht die Rechtsnorm sich
Herr. Die Ehe zwischen Eduard und Charlotte bringt, noch verfallend, jener den
Tod, weil in ihr – und sei's in mythischer Entstellung – die Größe der
Entscheidung eingebettet liegt, welcher die Wahl niemals gewachsen ist. Und so
spricht über sie der Titel des Romans das Urteil; Goethen halb unbewußt, wie es
scheint. Denn in der Selbstanzeige sucht er den Begriff der Wahl für das
sittliche Denken zu retten. »Es scheint, daß den Verfasser seine fortgesetzten
physikalischen Arbeiten zu diesem seltsamen Titel veranlaßten. Er mochte
bemerkt haben, daß man in der Naturlehre sich sehr oft ethischer Gleichnisse
bedient, um etwas von dem Kreise menschlichen Wissens weit Entferntes näher
heranzubringen; und so hat er auch wohl, in einem sittlichen Falle, eine
chemische Gleichnisrede zu ihrem geistigen Ursprunge zurückführen mögen, um so
mehr als doch überall nur Eine Natur ist und auch durch das Reich der heitern
Vernunftfreiheit die Spuren trüber leidenschaftlicher Notwendigkeit sich
unaufhaltsam hindurchziehen, die nur durch eine höhere Hand, und vielleicht
auch nicht in diesem Leben, völlig auszulöschen sind.« Aber deutlicher als
diese Sätze, die vergeblich Gottes Reich, wo die Liebenden wohnen, in dem der
heiteren Vernunftfreiheit zu suchen scheinen, spricht das bloße Wort.
»Verwandtschaft« ist an und für sich bereits das denkbar reinste, um nächste
menschliche Verbundenheit sowohl nach Wert als auch nach Gründen zu bezeichnen.
Und in der Ehe wird es stark genug, buchstäblich auch sein Metaphorisches zu
machen. Weder vermag das durch die Wahl verstärkt zu werden, noch wäre
insbesondere das Geistige solcher Verwandtschaft auf die Wahl gegründet. Diese
rebellische Anmaßung aber beweist am unwidersprechlichsten der Doppelsinn des
Wortes, das nicht abläßt, mit dem im Akt Ergriffnen zugleich den Wahlakt selber
zu bedeuten. Allein in jedem Falle da Verwandtschaft zum Gegenstand einer
Entschließung wird, schreitet die über die Stufe der Wahl zur Entscheidung
hinüber. Diese annihiliert die Wahl, um die Treue zu stiften: nur die
Entscheidung, nicht die Wahl ist im Buche des Lebens verzeichnet. Denn Wahl ist
natürlich und mag sogar den Elementen eignen; die Entscheidung ist
transzendent. – Weil jener Liebe noch das höchste Recht nicht zukommt, nur
darum also eignet dieser Ehe noch die größere Macht. Doch niemals hat der
untergehenden der Dichter im mindesten ein eigenes Recht zusprechen wollen. Die
Ehe kann in keinem Sinne Zentrum des Romans sein. Darüber hat, wie ungezählte
andre, auch Hebbel in vollkommenem Irrtum sich befunden, wenn er sagt: »In
Goethes Wahlverwandtschaften ist doch eine Seite abstrakt geblieben, es ist
nämlich die unermeßliche Bedeutung der Ehe für Staat und Menschheit wohl
räsonnierend angedeutet, aber nicht im Ring der Darstellung zur Anschauung
gebracht worden, was gleichwohl möglich gewesen wäre und den Eindruck des
ganzen Werkes noch sehr verstärkt hätte«. Und früher schon im Vorwort zur
»Maria Magdalene«; »Wie Goethe, der durchaus Künstler, großer Künstler war, in
den Wahlverwandtschaften einen solchen Verstoß gegen die innere Form begehen
konnte, daß er, einem zerstreuten Zergliederer nicht unähnlich, der statt eines
wirklichen Körpers ein Automat auf das anatomische Theater brächte, eine von
Haus aus nichtige, ja unsittliche Ehe, wie die zwischen Eduard und Charlotte,
zum Mittelpunkt seiner Darstellung machte und dies Verhältnis behandelte und
benützte, als ob es ein ganz entgegengesetztes, ein vollkommen berechtiges
wäre, wüßte ich mir nicht zu erklären«. Abgesehen davon, daß die Ehe im
Geschehen nicht die Mitte ist, sondern Mittel – so wie Hebbel sie erfaßt, hat
Goethe nicht und so wollte er sie nicht erscheinen lassen. Denn zu tief wird er
empfunden haben, daß »von Haus aus« gar nichts über sie gesagt werden, ihre
Sittlichkeit allein als Treue, nur als Untreue ihre Unsittlichkeit sich
erweisen könnte. Geschweige, daß etwa die Leidenschaft ihre Grundlage bilden
könnte. Platt, doch nicht falsch sagt der Jesuit Baumgartner: »Sie lieben sich,
aber ohne jene Leidenschaft, welche für krankhafte und empfindsame Gemüter den
einzigen Reiz des Lebens ausmacht«. Aber darum nicht weniger ist die eheliche
Treue bedingt. Bedingt in dem doppelten Sinne: durchs notwendig wie durchs
hinreichend Bedingende. Jenes liegt in dem Fundamente der Entscheidung. Sie ist
gewiß nicht willkürlicher darum, weil die Leidenschaft nicht ihr Kriterium ist.
Vielmehr steht dies nur umso unzweideutiger und strenger in dem Charakter der
Erfahrung vor ihr. Nur diejenige Erfahrung nämlich vermag die Entscheidung zu
tragen, welche, jenseits alles späteren Geschehens und Vergleichens,
wesensmäßig dem Erfahrenden sich einmalig zeigt und einzig, während jeder
Versuch aufs Erlebnis Entscheidung zu gründen früher oder später den aufrechten
Menschen mißlingt. Ist diese notwendige Bedingung ehelicher Treue gegeben, dann
heißt Pflichterfüllung ihre hinreichende. Nur wenn von beiden eine frei vom
Zweifel ob sie da war bleiben kann, läßt sich der Grund des Bruchs der Ehe
sagen. Nur dann ist klar, ob er »von Hause aus« notwendig ist, ob noch durch
Umkehr eine Rettung zu erhoffen steht. Und hiermit gibt sich jene
Vorgeschichte, die Goethe dem Roman ersonnen hat, als Zeugnis des
untrüglichsten Gefühls. Früher schon haben sich Eduard und Charlotte geliebt,
doch des ungeachtet beide ein nichtiges Ehebündnis geschlossen, bevor sie
einander sieh vereinten. Nur auf diese einzige Weise vielleicht konnte in der
Schwebe bleiben, worin im Leben beider Gatten der Fehltritt liegt: ob in der
frühern Unschlüssigkeit, ob in der gegenwärtigen Untreue. Denn die Hoffnung
mußte Goethe erhalten, daß schon einmal siegreicher Bindung auch nun zu dauern
bestimmt sei. Daß aber dann nicht als rechtliche Form noch auch als bürgerliche
diese Ehe dem Schein, der sie verführt, begegnen könne, ist schwerlich dem
Dichter entgangen. Nur im Sinne der Religion wäre dies ihr gegeben, in dem
»schlechtere« Ehen als sie ihren unantastbaren Bestand haben. Demnach ist ganz
besonders tief das Mißlingen aller Einigungsversuche dadurch motiviert, daß
diese von einem Manne ausgehen, welcher mit der Weihe des Geistlichen selber
die Macht und das Recht abgelegt hat, die allein solche rechtfertigen können.
Doch da ihnen Vereinigung nicht mehr vergönnt, bleibt am Ende die Frage
siegreich, die entschuldigend alles begleitet: war das nicht nur die Befreiung
aus von Anfang verfehltem Beginnen? Wie dem nun sei – diese Menschen sind aus
der Bahn der Ehe gerissen, um unter andern Gesetzen ihr Wesen zu finden.
Heiler als Leidenschaft doch nicht hilfreicher
führt auch Neigung nur dem Untergang die entgegen, die der ersten entsagen.
Aber nicht die Einsamen richtet sie zugrunde wie jene. Unzertrennlich geleitet
sie die Liebenden hinab, ausgesöhnt erreichen sie das Ende. Auf diesem letzten
Weg wenden sie einer Schönheit sich zu, die nicht mehr dem Schein verhaftet
ist, und sie stehen im Bereich der Musik. »Aussöhnung« hat Goethe jenes dritte
Gedicht der »Trilogie« genannt, in welchem die Leidenschaft zur Ruhe geht. Es
ist »das Doppelglück der Töne wie der Liebe«, das hier, keineswegs als Krönung,
sondern als erste schwache Ahnung, als fast noch hoffnungsloser Morgenschimmer
den Gequälten leuchtet. Die Musik kennt ja die Aussöhnung in der Liebe und aus
diesem Grunde trägt das letzte Gedicht der Trilogie als einziges eine Widmung,
während der »Elegie« in ihrem Motto wie in ihrem Ende das »Laßt mich allein«
der Leidenschaft entfährt. Versöhnung aber, die im Weltlichen blieb, mußte
schon dadurch als Schein sich enthüllen und wohl dem Leidenschaftlichen, dem er
endlich sich trübte. »Die hehre Welt, wie schwindet sie den Sinnen!« »Da
schwebt hervor Musik mit Engelsschwingen« und nun verspricht der Schein erst
ganz zu weichen, nun erst die Trübung ersehnt und vollkommen zu werden. »Das
Auge netzt sich, fühlt im höhern Sehnen | Den Götterwert der Töne wie der
Tränen.« Diese Tränen, die beim Hören der Musik das Auge füllen, entziehen ihm
die sichtbare Welt. Damit ist jener tiefe Zusammenhang angedeutet, welcher
Hermann Cohen, der im Sinn des greisen Goethe vielleicht besser als nur einer
all der Interpreten fühlte, in einer flüchtigen Bemerkung geleitet zu haben
scheint. »Nur der Lyriker, der in Goethe zur Vollendung kommt, nur der Mann,
der Tränen sät, die Tränen der unendlichen Liebe, nur er konnte dem Roman diese
Einheitlichkeit stiften.« Freilich ist das nicht mehr als eben erahnt, auch
führt von hier kein Weg die Deutung weiter. Denn dies vermag nur die
Erkenntnis, daß jene »unendliche« Liebe weit weniger ist als die schlichte, von
der man sagt, daß sie über den Tod hinaus dauert, daß es die Neigung ist, die
in den Tod führt. Aber darin wirkt ihr Wesen und kündigt wenn man so will die
Einheitlichkeit des Romans sich an, daß die Neigung, wie die Verschleierung des
Bildes durch Tränen in der Musik, so in der Aussöhnung den Untergang des
Scheins durch die Rührung hervorruft. Eben die Rührung nämlich ist jener
Übergang, in welchem der Schein – der Schein der Schönheit als der Schein der
Versöhnung – noch einmal am süßesten dämmert vor dem Vergehen. Sprachlich
können weder Humor noch Tragik die Schönheit fassen, in einer Aura
durchsichtiger Klarheit vermag sie nicht zu erscheinen. Deren genauester
Gegensatz ist die Rührung. Weder Schuld noch Unschuld, weder Natur noch
Jenseits gelten ihr streng unterschieden. In dieser Sphäre erscheint Ottilie,
dieser Schleier muß über ihrer Schönheit liegen. Denn die Tränen der Rührung,
in welchen der Blick sich verschleiert, sind zugleich der eigenste Schleier der
Schönheit selbst. Aber Rührung ist nur der Schein der Versöhnung. Und wie ist
gerade jene trügerische Harmonie in dem Flötenspiele der Liebenden unbeständig
und rührend. Von Musik ist ihre Welt ganz verlassen. Wie denn der Schein, dem
die Rührung verbunden ist, so mächtig nur in denen werden kann, die, wie
Goethe, nicht von Ursprung an durch Musik im Innersten berührt und vor der
Gewalt lebender Schönheit gefeit sind. Ihr Wesenhaftes zu erretten ist das
Ringen Goethes. Darinnen trübt der Schein dieser Schönheit sich mehr und mehr,
wie die Durchsichtigkeit einer Flüssigkeit in der Erschütterung, in der sie
Kristalle bildet. Denn nicht die kleine Rührung, die sich selbst genießt, die
große der Erschütterung allein ist es, in welcher der Schein der Versöhnung den
schönen überwindet und mit ihm zuletzt sich selbst. Die tränenvolle Klage: das
ist Rührung. Und wie dem tränenlosen Wehgeschrei so gibt auch ihr der Raum der
dionysischen Erschütterung Resonanz. »Trauer und Schmerz im Dionysischen als
die Tränen, die dem steten Untergang alles Lebens geweint werden, bilden die
sanfte Ekstase; es ist ›das Leben der Zikade, die ohne Speise und Trank singt,
bis sie stirbt‹.« So Bernoulli zum hunderteinundvierzigsten Kapitel des
»Mutterrechts«, wo Bachofen von der Zikade handelt, dem Tiere, das ursprünglich
nur der dunklen Erde eigen vom mythischen Tiefsinn der Griechen in den Verband
der uranischen Sinnbilder hinaufgehoben ward. Was anders meinte Goethes Sinnen
um Ottiliens Lebensausgang?
Je tiefer die Rührung sich versteht, desto mehr
ist sie Übergang; ein Ende bedeutet sie niemals für den wahren Dichter. Eben
das will es besagen, wenn die Erschütterung sich als ihr bestes Teil zeigt und
dasselbe meint, obzwar in sonderbarer Beziehung, Goethe, wenn er in der
Nachlese zur Poetik des Aristoteles sagt: »Wer nun auf dem Wege einer wahrhaft
sittlichen innern Ausbildung fortschreitet, wird empfinden und gestehn, daß
Tragödien und tragische Romane den Geist keineswegs beschwichtigen, sondern das
Gemüt und das was wir das Herz nennen, in Unruhe versetzen und einem vagen
unbestimmten Zustande entgegenführen; diesen liebt die Jugend und ist daher für
solche Produktionen leidenschaftlich eingenommen«. Übergang aber wird die
Rührung aus der verworrenen Ahnung »auf dem Wege einer wahrhaft sittlichen …
Ausbildung« nur zu dem einzig objektiven Gegenstande der Erschütterung sein,
zum Erhabenen. Eben dieser Übergang ist es, der im Untergang des Scheines sich
vollzieht. Jener Schein, der in Ottiliens Schönheit sich darstellt, ist der
untergehende. Denn es ist nicht so zu verstehen, als führe äußere Not und Gewalt
den Untergang der Ottilie herauf, sondern in der Art ihres Scheins selbst liegt
es begründet, daß er verlöschen muß, daß er es bald muß. Ein ganz anderer ist
er als der triumphierende blendender Schönheit, der Lucianens ist oder
Lucifers. Und während der Gestalt der Goetheschen Helena und der berühmteren
der Mona Lisa aus dem Streit dieser beiden Arten des Scheins das Rätsel ihrer
Herrlichkeit entstammt, ist die Ottiliens nur durchwaltet von dem einen Schein,
der verlischt. In jede ihrer Regungen und Gesten hat der Dichter dies gelegt,
um zuletzt, am düstersten und zartesten zugleich, in ihrem Tagebuche mehr und
mehr das Dasein einer Schwindenden sie führen zu lassen. Also nicht der Schein
der Schönheit schlechthin, der sich zwiefach erweist, ist in Ottilie
erschienen, sondern allein jener eine ihr eigene vergehende. Aber freilich
erschließt der die Einsicht im schönen Schein überhaupt und gibt erst darin
sich selbst zu erkennen. Daher sieht jede Anschauung, die die Gestalt der
Ottilie erfaßt, vor sich die alte Frage erstehen, ob Schönheit Schein sei.
Alles wesentlich Schöne ist stets und wesenhaft
aber in unendlich verschiedenen Graden dem Schein verbunden. Ihre höchste
Intensität erreicht diese Verbindung im manifest Lebendigen und zwar gerade
hier deutlich polar in triumphierendem und verlöschendem Schein. Alles
Lebendige nämlich ist, je höher sein Leben geartet desto mehr, dem Bereiche des
wesentlich Schönen enthoben und in seiner Gestalt bekundet demnach dieses
wesentlich Schöne sich am meisten als Schein. Schönes Leben, Wesentlich-Schönes
und scheinhafte Schönheit, diese drei sind identisch. In diesem Sinne hängt
gerade die Platonische Theorie des Schönen mit dem noch älteren Problem des
Scheins darin zusammen, daß sie, nach dem Symposion, zunächst auf die leiblich
lebendige Schönheit sich richtet. Wenn dennoch dieses Problem in der
Platonischen Spekulation latent bleibt, so liegt es daran, daß dem Platon als
Griechen die Schönheit mindestens ebenso wesentlich im Jüngling sich darstellt
als im Mädchen, die Fülle des Lebens aber im Weiblichen größer ist als im
Männlichen. Ein Moment des Scheins jedoch bleibt noch im Unlebendigsten
erhalten, für den Fall, daß es wesentlich schön ist. Und dies ist der Fall
aller Kunstwerke – unter ihnen am mindesten der Musik. Demnach bleibt in aller
Schönheit der Kunst jener Schein, will sagen jenes Streifen und Grenzen ans
Leben noch wohnen und sie ist ohne diesen nicht möglich. Nicht aber umfaßt
derselbe ihr Wesen. Dieses weist vielmehr tiefer hinab auf dasjenige, was am
Kunstwerk im Gegensatze zum Schein als das Ausdruckslose bezeichnet werden
darf, außerhalb dieses Gegensatzes aber in der Kunst weder vorkommt, noch
eindeutig benannt werden kann. Zum Schein nämlich steht das Ausdruckslose,
wiewohl im Gegensatz, doch in derart notwendigem Verhältnis, daß eben das Schöne,
ob auch selber nicht Schein, aufhört ein wesentlich Schönes zu sein, wenn der
Schein von ihm schwindet. Denn dieser gehört ihm zu als die Hülle und als das
Wesensgesetz der Schönheit zeigt sich somit, daß sie als solche nur im
Verhüllten erscheint. Nicht also ist, wie banale Philosopheme lehren, die
Schönheit selbst Schein. Vielmehr enthält die berühmte Formel, wie sie zuletzt
in äußerster Verflachung Solger entwickelte, es sei Schönheit die sichtbar
gewordene Wahrheit, die grundsätzlichste Entstellung dieses großen
Gegenstandes. Auch hätte Simmel dies Theorem nicht so läßlich aus Goetheschen
Sätzen, die sich dem Philosophen oft durch alles andere empfehlen als ihren
Wortlaut, entnehmen dürfen. Diese Formel, die, da Wahrheit doch an sich nicht
sichtbar ist und nur auf einem ihr nicht eigenen Zuge ihr Sichtbarwerden
beruhen könnte, die Schönheit zu einem Schein macht, läuft zuletzt, ganz
abgesehen von ihrem Mangel an Methodik und Vernunft, auf philosophisches
Barbarentum hinaus. Denn nichts anderes bedeutet es, wenn der Gedanke, es ließe
sich die Wahrheit des Schönen enthüllen, in ihr genährt wird. Nicht Schein,
nicht Hülle für ein anderes ist die Schönheit. Sie selbst ist nicht
Erscheinung, sondern durchaus Wesen, ein solches freilich, welches wesenhaft sich
selbst gleich nur unter der Verhüllung bleibt. Mag daher Schein sonst überall
Trug sein – der schöne Schein ist die Hülle vor dem notwendig Verhülltesten.
Denn weder die Hülle noch der verhüllte Gegenstand ist das Schöne, sondern dies
ist der Gegenstand in seiner Hülle. Enthüllt aber würde er unendlich
unscheinbar sich erweisen. Hier gründet die uralte Anschauung, daß in der
Enthüllung das Verhüllte sich verwandelt, daß es »sich selbst gleich« nur unter
der Verhüllung bleiben wird. Also wird allem Schönen gegenüber die Idee der
Enthüllung zu der der Unenthüllbarkeit. Sie ist die Idee der Kunstkritik. Die
Kunstkritik hat nicht die Hülle zu heben, vielmehr durch deren genaueste
Erkenntnis als Hülle erst zur wahren Anschauung des Schönen sich zu erheben. Zu
der Anschauung, die der sogenannten Einfühlung niemals und nur unvollkommen
einer reineren Betrachtung des Naiven sich eröffnen wird: zur Anschauung des
Schönen als Geheimnis. Niemals noch wurde ein wahres Kunstwerk erfaßt, denn wo
es unausweichlich als Geheimnis sich darstellte. Nicht anders nämlich ist jener
Gegenstand zu bezeichnen, dem im letzten die Hülle wesentlich ist. Weil nur das
Schöne und außer ihm nichts verhüllend und verhüllt wesentlich zu sein vermag,
liegt im Geheimnis der göttliche Seinsgrund der Schönheit. So ist denn der
Schein in ihr eben dies: nicht die überflüssige Verhüllung der Dinge an sich,
sondern die notwendige von Dingen für uns. Göttlich notwendig ist solche
Verhüllung zu Zeiten, wie denn göttlich bedingt ist, daß, zur Unzeit enthüllt,
in nichts jenes Unscheinbare sich verflüchtigt, womit Offenbarung die
Geheimnisse ablöst. Kants Lehre, daß ein Relationscharakter die Grundlage der
Schönheit sei, setzt demnach in einer sehr viel höheren Sphäre als der
psychologischen siegreich ihre methodischen Tendenzen durch. Alle Schönheit
hält wie die Offenbarung geschichtsphilosophische Ordnungen in sich. Denn sie
macht nicht die Idee sichtbar, sondern deren Geheimnis.
Um jener Einheit willen, die Hülle und Verhülltes
in ihr bilden, kann sie wesentlich da allein gelten, wo die Zweiheit von
Nacktheit und Verhüllung noch nicht besteht: in der Kunst und in den
Erscheinungen der bloßen Natur. Je deutlicher hingegen diese Zweiheit sich
ausspricht, um zuletzt im Menschen sich aufs höchste zu bekräftigen, desto mehr
wird es klar: in der hüllenlosen Nacktheit ist das wesentlich Schöne gewichen
und im nackten Körper des Menschen ist ein Sein über aller Schönheit erreicht –
das Erhabene, und ein Werk über allen Gebilden – das des Schöpfers. Damit
erschließt sich die letzte jener rettenden Korrespondenzen, in denen mit
unvergleichlich strenger Genauigkeit die zart gebildete Novelle dem Roman
entspricht. Wenn dort der Jüngling die Geliebte entblößt, so ist es nicht um
der Lust, es ist um des Lebens willen. Er betrachtet nicht ihren nackten Körper
und gerade darum nimmt er seine Hoheit wahr. Der Dichter wählt nicht müßige
Worte, wenn er sagt: »Hier überwand die Begierde zu retten jede andere
Betrachtung«. Denn in der Liebe vermag nicht Betrachtung zu herrschen. Nicht
dem Willen zum Glück, wie es ungebrochen nur flüchtig in den seltensten Akten
der Kontemplation, in der »halkyonischen« Stille der Seele verweilt, ist die
Liebe entsprungen. Ihr Ursprung ist die Ahnung des seligen Lebens. Wie aber die
Liebe als bitterste Leidenschaft sich selbst vereitelt, wo in ihr die vita
contemplativa dennoch die mächtigste, die Anschauung der Herrlichsten ersehnter
als die Vereinigung mit der Geliebten ist, das stellen die Wahlverwandtschaften
im Schicksal Eduards und der Ottilie dar. Dergestalt ist kein Zug der Novelle
vergeblich. Sie ist der Freiheit und Notwendigkeit nach, die sie dem Roman
gegenüber zeigt, dem Bild im Dunkel eines Münsters vergleichbar, das dies
selber darstellt und so mitten im Innern eine Anschauung vom Orte mitteilt, die
sich sonst versagt. Sie bringt damit zugleich den Abglanz des hellen, ja des
nüchternen Tages hinein. Und wenn diese Nüchternheit heilig scheint, so ist das
Wunderlichste, daß sie es vielleicht nur Goethe nicht ist. Denn seine Dichtung
bleibt dem Innenraum im verschleierten Lichte zugewendet, das in bunten
Scheiben sich bricht. Kurz nach ihrer Vollendung schreibt er an Zelter: »Wo
Ihnen auch mein neuer Roman begegnet, nehmen Sie ihn freundlich auf. Ich bin
überzeugt, daß Sie der durchsichtige und undurchsichtige Schleier nicht
verhindern wird, bis auf die eigentlich intentionierte Gestalt hineinzusehen«.
Dies Wort vom Schleier war ihm mehr als Bild – es ist die Hülle, welche immer
wieder ihn bewegen mußte, wo er um Einsicht in die Schönheit rang. Drei
Gestalten seines Lebenswerks sind diesem Ringen, das wie kein anderes ihn
erschütterte, entwachsen: Mignon, Ottilie, Helena. »So laßt mich scheinen bis
ich werde | Zieht mir das weiße Kleid nicht aus! I Ich eile von der schönen
Erde I Hinab in jenes feste Haus. I Dort ruh ich eine kleine Stille I Dann
öffnet sich der frische Blick | Ich lasse dann die reine Hülle | Den Gürtel und
den Kranz zurück.« Und auch Helena läßt sie zurück: »Kleid und Schleier bleiben
ihm in den Armen«. Goethe kennt, was über den Trug dieses Scheins gefabelt
wurde. Er läßt den Faust mahnen: »Halte fest, was dir von allem übrig blieb. |
Das Kleid, laß es nicht los. Da zupfen schon | Dämonen an den Zipfeln, möchten
gern | Zur Unterwelt es reißen. Halte fest! | Die Göttin ist's nicht mehr, die
du verlorst | Doch göttlich ist's«. Unterschieden von diesen aber bleibt die
Hülle von Ottilie als ihr lebendiger Leib. Nur mit ihr spricht sich klar das
Gesetz aus, das gebrochner an den andern sich kundgibt: Je mehr das Leben
entweicht, desto mehr alle scheinhafte Schönheit, die ja am Lebendigen einzig
zu haften vermag, bis im gänzlichen Ende des einen auch die andere vergehn muß.
Unenthüllbar ist also nichts Sterbliches. Wenn daher den äußersten Grad solcher
Unenthüllbarkeit wahrheitsgemäß die Maximen und Reflektionen mit dem tiefen
Worte bezeichnen: »Die Schönheit kann nie über sich selbst deutlich werden« so
bleibt doch Gott, vor dem kein Geheimnis und alles Leben ist. Als Leiche
erscheint uns der Mensch und als Liebe sein Leben, wenn sie vor Gott sind.
Daher hat der Tod Macht zu entblößen wie die Liebe. Unenthüllbar ist nur die
Natur; die ein Geheimnis verwahrt, so lange Gott sie bestehn läßt. Entdeckt
wird die Wahrheit im Wesen der Sprache. Es entblößt sich der menschliche
Körper, ein Zeichen, daß der Mensch selbst vor Gott tritt. – Dem Tod muß die
Schönheit verfallen, die nicht in der Liebe sich preisgibt. Ottilie kennt ihren
Todesweg. Weil sie im Innersten ihres jungen Lebens ihn vorgezeichnet erkennt,
ist sie – nicht im Tun sondern im Wesen – die jugendhafteste aller Gestalten,
die Goethe geschaffen. Wohl verleiht das Alter die Bereitschaft zum Sterben,
Jugend aber ist Todesbereitschaft. Wie verborgen hat doch Goethe von Charlotte
es ausgesagt, daß sie »gern leben mochte«. Nie hat in einem Werk er der Jugend
gegeben, was er in Ottilien ihr zugestand: das ganze Leben wie es aus seiner
eigenen Dauer seinen eigenen Tod hat. Ja man darf sagen, daß er in Wahrheit, wenn
für irgend etwas, gerade hierfür blind war. Wem dennoch Ottiliens Dasein in dem
Pathos, das von allen andern es unterscheidet, auf das Leben der Jugend
hinweist, so konnte nur durch das Geschick ihrer Schönheit Goethe mit diesem
Anblick, dem sein Wesen sich verweigerte, ausgesöhnt werden. Hierauf gibt es
einen eigenartigen und gewissermaßen quellenmäßigen Hinweis. Im Mai 1809
richtete Bettina an Goethe einen Brief, der den Aufstand der Tiroler berührt
und in dem es heißt: »Ja Goethe, während diesem hat es sich ganz anders in mir
gestaltet … düstre Hallen, die prophetische Monumente gewaltiger Todeshelden
umschließen, sind der Mittelpunkt meiner schweren Ahnungen … Ach vereine Dich
doch mit mir« der Tiroler »zu gedenken … es ist des Dichters Ruhm, daß er den
Helden die Unsterblichkeit sichere!« Im August desselben Jahres schrieb Goethe
die letzte Fassung des dritten Kapitels aus dem zweiten Teil der
Wahlverwandtschaften, wo es im Tagebuch der Ottilie heißt: »Eine Vorstellung
der alten Völker ist ernst und kann furchtbar scheinen. Sie dachten sich ihre
Vorfahren in großen Höhlen, ringsumher auf Thronen sitzend, in stummer
Unterhaltung. Dem Neuen, der hereintrat, wenn er würdig genug war, standen sie
auf und neigten ihm einen Willkommen. Gestern, als ich in der Kapelle saß und
meinem geschnitzten Stuhle gegenüber noch mehrere umhergestellt sah, erschien
mir jener Gedanke gar freundlich und anmutig. Warum kannst du nicht sitzen
bleiben? dachte ich bei mir selbst, still und in dich gekehrt sitzen bleiben,
lange, lange, bis endlich die Freunde kämen, denen du aufstündest und ihren
Platz mit freundlichem Neigen anwiesest«. Es liegt nahe, diese Anspielung auf
Walhall als unbewußte oder wissentliche Erinnerung an die Briefstelle Bettinens
zu verstehen. Denn die Stimmungsverwandtschaft jener kurzen Sätze ist
auffallend, auffallend bei Goethe der Gedanke an Walhall, auffallend endlich,
wie unvermittelt er in die Aufzeichnung der Ottilie eingeführt ist. Wäre es
nicht ein Hinweis darauf, daß Goethe sich Bettinens heldisches Gebaren in jenen
sanftern Worten der Ottilie näher brachte?
Man ermesse nach alledem, ob es Wahrheit ist oder
eitel Mystifikation, wenn Gundolf mit gespieltem Freisinn behauptet: »Die
Gestalt Ottiliens ist weder der Hauptgehalt, noch das eigentliche Problem der
Wahlverwandtschaften« und ob es einen Sinn gibt, wem er hinzufügt: »aber ohne
den Augenblick, da Goethe das geschaut, was im Werk als Ottilie erscheint, wäre
wohl weder der Gehalt verdichtet noch das Problem so gestaltet worden«. Denn
was ist in alledem klar, wenn nicht eins: daß die Gestalt, ja der Name der Ottilie
es ist, der Goethe an diese Welt bannte, um wahrhaft eine Vergehende zu
erretten, eine Geliebte in ihr zu erlösen. Sulpiz Boisseree hat er es
gestanden, der mit den wunderbaren Worten es festgehalten hat, in denen er dank
der innigsten Anschauung von dem Dichter zugleich tiefer auf das Geheimnis
seines Werkes hinweist als er ahnen mochte. »Unterwegs kamen wir dann auf die
Wahlverwandtschaften zu sprechen. Er legte Gewicht darauf, wie rasch und
unaufhaltsam er die Katastrophe herbeigeführt. Die Sterne waren aufgegangen; er
sprach von seinem Verhältnis zur Ottilie, wie er sie lieb gehabt und wie sie
ihn unglücklich gemacht. Er wurde zuletzt fast rätselhaft ahndungsvoll in
seinen Reden. – Dazwischen sagte er dann wohl einen heitern Vers. So kamen wir müde,
gereizt, halb ahndungsvoll, halb schläfrig im schönsten Sternenlicht … nach
Heidelberg.« Wenn es dem Berichtenden nicht entgangen ist, wie mit dem Aufgang
der Sterne Goethes Gedanken auf sein Werk sich hinlenkten, so hat, er selbst
wohl kaum gewußt – wovon doch seine Sprache Zeugnis ablegt – wie über Stimmung
erhaben der Augenblick war und wie deutlich die Mahnung der Sterne. In ihr
bestand als Erfahrung was längst als Erlebnis verweht war. Denn unter dem
Symbol des Sterns war einst Goethe die Hoffnung erschienen, die er für die
Liebenden fassen mußte. Jener Satz, der, mit Hölderlin zu reden, die Cäsur des
Werkes enthält und in dem, da die Umschlungenen ihr Ende besiegeln, alles inne
hält, lautet: »Die Hoffnung fuhr wie ein Stern, der vom Himmel fällt, über,
ihre Häupter weg«. Sie gewahren sie freilich nicht und nicht deutlicher konnte
gesagt werden, daß die letzte Hoffnung niemals dem eine ist, der sie hegt,
sondern jenen allein, für die sie gehegt wird. Damit tritt denn der innerste
Grund für die »Haltung des Erzählers« zutage. Er allein ist's, der im Gefühle
der Hoffnung den Sinn des Geschehens erfüllen kann, ganz so wie Dante die
Hoffnungslosigkeit der Liebenden in sich selber aufnimmt, Wenn er nach den
Worten der Francesca da Rimini fällt »als fiele eine Leiche«. Jene paradoxeste,
flüchtigste Hoffnung taucht zuletzt aus dem Schein der Versöhnung, wie im Maß,
da die Sonne verlischt, im Dämmer der Abendstern aufgeht, der die Nacht
überdauert. Dessen Schimmer gibt freilich die Venus. Und auf solchem geringsten
beruht alle Hoffnung, auch die reichste kommt nur aus ihm. So rechtfertigt am
Ende die Hoffnung den Schein der Versöhnung und der Satz des Platon,
widersinnig sei es, den Schein des Guten zu wollen, erleidet seine einzige
Ausnahme. Denn der Schein der Versöhnung darf, ja er soll gewollt werden: er
allein ist das Haus der äußersten Hoffnung. So entringt sie sich ihm zuletzt
und nur wie eine zitternde Frage klingt jenes »wie schön« am Ende des Buches
den Toten nach, die, wenn je, nicht in einer schönen Welt wir erwachen hoffen,
sondern in einer seligen. Elpis bleibt das letzte der Urworte: der Gewißheit
des Segens, den in der Novelle die Liebenden heimtragen, erwidert die Hoffnung
auf Erlösung, die wir für alle Toten hegen. Sie ist das einzige Recht des Unsterblichkeitglaubens,
der sich nie am eigenen Dasein entzünden darf. Doch gerade dieser Hoffnung
wegen sind jene christlich-mystischen Momente fehl am Ort, die sich am Ende –
ganz anders wie bei den Romantikern – aus dem Bestreben alles Mythische der Grundschicht
zu veredeln, eingefunden haben. Nicht also dies nazarenische Wesen, sondern das
Symbol des über die Liebenden herabfahrenden Sterns ist die gemäße
Ausdrucksform dessen, was vom Mysterium im genauen Sinn dem Werke einwohnt. Das
Mysterium ist im Dramatischen dasjenige Moment, in dem dieses aus dem Bereiche
der ihm eigenen Sprache in einen höheren und ihr nicht erreichbaren hineinragt.
Es kann daher niemals in Worten, sondern einzig und allein in der Darstellung
zum Ausdruck kommen, es ist das »Dramatische« im strengsten Verstande. Ein
analoges Moment der Darstellung ist in den Wahlverwandtschaften der fallende
Stern. Zu ihrer epischen Grundlage im Mythischen, ihrer lyrischen Breite in
Leidenschaft und Neigung, tritt ihre dramatische Krönung im Mysterium der
Hoffnung. Schließt eigentliche Mysterien die Musik, so bleibt dies freilich
eine stumme Welt, aus welcher niemals ihr Erklingen steigen wird. Doch welcher
ist es zugeeignet, wenn nicht dieser, der es mehr als Aussöhnung verspricht:
die Erlösung. Das ist in jene »Tafel« gezeichnet, die George über Beethovens
Geburtshaus in Bonn gesetzt hat:
Eh ihr zum kampf erstarkt auf eurem sterneSing ich euch streit und sieg von oberen sternen.Eh ihr den leib ergreift auf diesem sterneErfind ich euch den traum bei ewigen sternen.
Erhabner Ironie scheint dies »Eh ihr den leib
ergreift« bestimmt zu sein. Jene Liebenden ergreifen ihn nie – was tut es, wenn
sie nie zum Kampf erstarkten? Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die
Hoffnung gegeben.