Veronika Reichl: Das Gefühl zu denken
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Jan Kuhlbrodt
Veronika Reichl: Das Gefühl zu denken. Erzählungen. Berlin
(Matthes & Seitz) 2023. 251 Seiten. 22,00 Euro.
Was heißt Denken?
Das ist der Titel eines Vortrags, den Heidegger 1952 in ein
Mikrofon sprach und in dem er versuchte, das Wesen des Denkens zu erfassen, das
Wesen dessen, was den Menschen nach der Vorstellung einiger Theoretiker vom
Tier und anderen Wesenheiten unterscheidet. Natürlich steht diese Abgrenzung
auf wackeligen Füßen, aber der schwankende Boden ist etwas, was die Philosophie
überhaupt auszeichnet.
„Das Gedächtnis“, formuliert Heidegger, „ist die Versammlung
des Denkens. Worauf? Auf das, was uns im Wesen hält, insofern es zugleich bei
uns bedacht ist.“ Und etwas weiter: „Wird es bedacht, so wird es mit Andenken
beschenkt.“
Das Bedachte ist also im vorliegenden Fall, im Vortrag
Heideggers, aber auch im zu besprechenden Buch das Denken selbst. „Wir bringen
ihm das Andenken entgegen.“
Heidegger meint hier kein Andenken im Sinn eines Souvenirs,
sondern im Sinne eines Denkens an etwas heran. Also nicht im Sinn einer
Erinnerung, sondern eher in dem eines Erschließens. Dieses Erschließen, und
jetzt verlassen wir den Schwarzwaldphilosophen, kann lustvoll sein, aber auch
voller Qual, einsam oder im diskursiven Zusammenhang einer Gruppe, langwierig
oder eruptiv, plötzlich, wie wenn man auf Rügen durch einen Buchenwald wandert
und sich auf einmal zwischen den Bäumen das Meer zeigt, in einer für den Moment
schockierenden Weite.
Während ich das schreibe, schon mit den ersten Worten,
vollführen meine Gedanken Kapriolen. Das Denken greift ins Denken ein. Denken
also ist Sprache und Widerspruch. Text aber ist geronnenes Denken, und Lesen
ist der Prozess, jenes geronnene Denken wieder zu verflüssigen.
Bei Matthes und Seitz ist ein Buch von Veronika Reichl erschienen, welches den im ersten Moment der Lektüre para-doxen Titel „Das Gefühl zu denken“ trägt. Als Genrebezeich-nung der Texte steht auf dem Vorsatzblatt Erzählungen. Eine weitere Paradoxie also. Es handele sich also um Texte, die das Gefühl zu denken erzählen. Diese Spannungen aber machen den Reiz des Buches aus, und entfalten einen für mich unwider-stehlichen Sog.
Reichls Erzählungen gehen auf Interviews mit Theo-retikerinnen und Theoretikern zurück und erzählen die Vielfalt der Möglichkeiten der Begegnungen mit theoretischen Texten: Das beglückende im Empfinden der Klarheit der Gedanken Ockhams zum Beispiel; aber auch der produktiven Verun-sicherung bei der Lektüre zeitgenössischer Texte, die letztlich dann doch wieder zu einer Klarheit führen.
„Um vier ist Carla mit einem Mal hellwach. Butlers komplizierte Sätze betreffen einen zentralen Aspekt ihres eigenen Lebens! Carla kann noch nicht formulieren, wie genau, aber dass es so ist, ist mit einem Mal glasklar.“
Reichl referiert nicht. Es geht also nicht darum,
theoretische Positionen der Philosophiegeschichte darzustellen und zu
erläutern, sondern es geht um die Möglichkeiten, Momente und um die
vielfältigen Arten und Weisen, ihnen zu begegnen, um sie zu verinnerlichen, zu
verstehen, anzueignen. Sichtbar wird auch immer wieder der prekäre soziale Raum
des Wissenschafts-betriebs.
Natürlich fand ich mich in einigen Erzählungen wieder, oder
vielmehr entdeckte ich Parallelen, zu meinen eigenen Bemühungen mit philosophischen
Texten klarzukommen. Und das Lesen selbst stellt sich als in vieler Hinsicht
spannungsreiche Angelegenheit dar.