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Verica Tričković: nach | schrift

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Verica Tričković

nach | schrift


1

hier sind wir nicht
benachbarte Wundgebiete tragen dürre Früchte
der Durst sagt uns dass wir sind diese Lichtlinien
außer uns wir sind am graben wir tragen Wasser
in trockenen Händen wie in Himmelsschalen

das ist das Unsere wir richten uns ein
über uns die Mauer an der wir hängen
wir sind Akrobaten jeder an seiner Seite
das schaut aus als würden wir Eins
wir sind weil wir gehen


2

das beste Wasser trinken
aus der tiefsten Verletzung
aus dem tiefsten Schmerz steigen –
solche Stiegen bedarf es – ein Übergehen –
Wasser dem Wasser

so kommt es mir vor wenn ich dich betrachte
dich ins Land der Unmöglichkeiten einrichten
dein Exil auf fernen Berghängen enzianblau
das Zangengriffgefühl an Fingerspitzen
hinein gebettet in die Haut bist du nicht


3

in jedem Kelch aus Stein
Gesichter wie Fresken als wären sie erwacht
als trügen sie Krüge auf den Schultern
in denen der Wein der Erde sich mischt
als gebe es ohne Körper keine Müdigkeit

Erinnert an das Fest der Erde – den folgerichtigen
Prozess von Blume und Frucht – wir scheitern
ich will herausfinden woran uns einer Prüfung unterziehen
getrieben vom Verlangen nach Verstehen
im Glauben etwas entspinnt sich


4

wie jedes verängstigte Tier –
wovor? war es ein Mensch? war es ein Tier?
war es ein Unwetter? von welcher Himmelsrichtung?
war jemand dabei gewesen?
ich will mich verorten

ist jetzt Zeit zurückzukehren?
habe ich mäßigen Abstand gewonnen?
hat es lange genug abgehangen?
gibt es ein Lange genug für alle Dinge?
wonach richtet sich ein Kalender?


5

einmal sah ich den Fluss Acheron
im Stein das Gesicht mit halboffenen Augen
eingebettet in deiner Hand – wo kommt es her wo geht es hin?
ist es der Fluss der den Zufall formt? oder ist es der Fluss im Zufall?
der Zufall im Fluss oder …

Stück für Stück reißt der Wind vom Himmel
das fliegende Wasser hat den Raum verlassen zurück bleiben
Tropfen am Fensterglas – es sind Metastasen des Wassers
wie eine Handvoll Zucker hingeworfen auf den Tisch
vermengt im Verzeichnis der Wasserformen


6

kannst du mich sehen
kannst sehend mich See nennen
so beginnt Versöhnung

siehst du den Ruß sieh wie der Ruß sich drückt
wie ein Zusammen entsteht und hält und hallt
getrieben ins Blei stiftet der Ruß die Schrift
sie schreibt dich die Zeichen zeichnen dich die Luft ist
beschriftet mit dir mit Wasser


7

es hätte sein können dass wir zueinander finden
dass uns Ruhe findet wie Gräser dass es nicht aufhört
zu ruhen nicht einmal ruht das sich noch offen hält
das Auge des Veilchens ist blau ist das Loch
aus dem der Himmel unter der Erde herschaut

Pferde fliehen über Weiden
heran rollen Worte unbeirrt
du Molika still deine Eulen
du der Wald ist taub
du versehentlich


8

wir üben Disziplin
wirklich wie Wärme im Weinen
unwirklich wie Augenlicht
davon nicht sprechen
davon sprechen doch

kannst du mich hören
kannst hörend mich Reh nennen
unüberwindbar münden wie das Wort


9

Vater unser heilen soll dein Wille gib uns Aufgaben Vater
dir im Namen und des Sohnes und des heillosen Geists
Vater unser gib deinen Erzeugnissen – denen
aus deinen Rippen denen aus deinen Hoden – gib uns Kraft


In Verica Tričković: um | schrift. Gedichte. Frankfurt a.M. (Gutleut Verlag) 2022. 104 Seiten. 27,00 Euro.


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