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Verena Stauffer: Ousia

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Kristian Kühn

Verena Stauffer: Ousia. Gedichte. Berlin (kookbooks) 2020. 110 Seiten. 19,90 Euro.

Die Natur der Materie


Ousia, was für ein großer Titel, unter dem Verena Stauffer 2020 ihren zweiten Gedichtband bei kookbooks erscheinen lässt. Groß und umfangreich ist auch die Textauswahl, von einem beobachtenden nature writing ausgehend und weit darüber hinaus, hin zum Märchenhaften, bis zur Naturphilosophie changierend. Das volle Programm, allerdings in umgekehrter Reihenfolge, als hier eben angedeutet: Vom doppelten Wesen der Materie hin zur doppelten Welt des Märchenhaften, dann des Weiblichen, dann des Dies und Das. Ich mag dieses Buch, aber es ist auch ein bisschen ermüdend, zumal es Fährten legt und dann wieder verwischt und neue Fährten und nochmal neue, für jeden Geschmack etwas. Und wieder verwischt. Ein sehr weibliches Buch, das die Schöpfung liebt und unbedingt verteidigt gegen mentale Vergiftungen.

Aber fangen wir mit der Philosophie an. Die bisherigen Rezensionen des Bandes haben allesamt darauf hingewiesen, wie schwer der Begriff Ousia für uns heute erklärbar ist, irgendwas zwischen Wesen, Essenz und Konstanz.

Um eine Chance zu haben, den interessantesten Teil (zumindest für mich), das erste Drittel, zu verstehen, benutze ich jetzt zur Erklärung einen Auszug aus dem Essay „Platon und seine Lehre“ von Apuleius, der nicht nur den Mysterienroman „Der goldene Esel“ verfasst hat, sondern auch Isis-Priester und mittelplatonischer Philosoph gewesen war. Keine Panik – ganz kurz:

In Kapitel 5 (Platons Naturphilosophie: die Ursprünge der Dinge) schreibt er: dass das Göttliche unkörperlich sei und deshalb unermesslich.* Und jetzt kommts: „Die Materie aber bezeichnet Platon als unerschaffbar und unzerstörbar. Sie sei weder Feuer noch Wasser noch ein anderer von den ersten und selbständigen Grundstoffen. Vielmehr hat der göttliche Weltgestalter sie als erste von allem, in jeder Hinsicht gestaltungsfähig und bildsam, ferner roh und ohne jede Gestalteigenschaft gebildet.“**
    Platon nenne die Materie unendlich, weil sie unbegrenzt groß ist. Er gestehe der Materie aber weder zu, dass sie körperlich, noch dass sie ganz und gar unkörperlich sei. Weil ein Körper immer ein und dieselbe Form habe, halte Platon die Materie nicht für körperlich.

Sie sei aber auch nicht ohne Körper, weil sie unentwegt Körper hervorbringe. Nur ihrer „Anlage und ihrem Wesen nach“ erscheine sie körperlich. Sie habe die Insignien zum Körperlichen, ihr Wesen sei somit die Anlage dafür, aber selber habe sie keinen. „Daher werde auch die Materie weder allein durch den Gefühlssinn noch ferner allein durch Vermutung des Denkens erkannt.“

In Kapitel 6, die Ideen und die zwei Arten der Substanzen, führt Apuleius dann kurz aus, dass jedes Ding, das zu einer Form werden will mit Körper, im Platonismus zugleich Abdruck einer unkörperlichen Idee sei. Soweit Apuleius als Rüstzeug für das erste Drittel der Ousia-Texte von Verena Stauffer.

„Naphta ist Ousia / zu Substanz gepresst“ – streut sie später mal einfach in ihr Gedicht „Flieder“ (S. 97) ein. Immer wieder geht es bei ihr um die Oberfläche und um den Grund von Materie. In „Reismühlen am nördlichen Traumsee“ (S. 8) heißt es:

„Sich ihr zu unterwerfen, der erwärmenden Sublimen,
und der uranfänglichen Erde, die stand, sich nicht bewegte“
   
Wer ist diese Sublime? Die Sonne? Eine Form der sich im zweiten Teil des Bandes abzeichnenden Weiblichkeiten? Wenn es nach Platon ginge, wäre es die kosmische Seele, doch löst Stauffer das Rätsel nicht auf. Man erahnt aber, dass das weibliche Prinzip der stoffwebenden Vierheit auch in ihrer Genesis eine Rolle gespielt haben muss, denn ihr Zyklus „Para dies – ein Triptychon“ enthält nicht drei sondern vier Gedichte. Darin der wichtige Text „Atmen“, in dem von der Erde, dem Erdreich, als Dunkelwolke gesprochen wird.

„Zu Sand zerbröseltes Gestein, das wie Worte in den Fluss fällt. Doch die gesprochenen Worte
sie treiben davon, sind das Rascheln der Sprache, das sich verfärbende Laub sie abwerfender
Münder. Die Wurzeln darüber, an den rieselnden Hängen, zeichnen fragile Bilder in die Luft
Erzählen eine verzweigte Geschichte, der einst nutzbar gemachten harschen Umgebung
die zum Paradies verfiel“ (S. 17)

Stauffer verwendet wieder und wieder für die Scheinwelt materieller Eindrücke und einer fast vom Menschen vernichteten Naturganzheit in viele zerklüftete Einzelteile Bilder; die mich an Proteus denken lassen, diesen Gott einer sich laufend ändernden Materie, den man, wenn man ihm die Fessel anlegen will, um sein Wesen zu sehen, nie zu Gesicht bekommt, sondern immer nur seine wechselnden Schreckensgesichter***. Was gibt dem Wesen der Natur Substanz? (In der Mikrophysik können wir eigentlich nur tanzartige Bewegungen feststellen, doch keine Konstanz, kein gefestigtes Bild einer uns in unserer Einbildung geläufigen Form. Für die Quantenphysik gibt es keinen Tisch, kein Bett, keinen Stuhlgang, nicht mal einen Tod.)

Hier bei Stauffer verdünnisiert sich die Materie, indem sich die Eindrücke verdicken, wird zum Ideenkörper Para dies – quasi zu einer Gegengenesis. Der Mensch als Gegenschöpfer, der die formative Materie zurückführt in ihren Urzustand der unsichtbaren prima materia durch Verfälschung, Unkenntnis, Sprachverwirrung.

              „[...] Erzählen von Beweglichkeit, von menschlicher Hand
vom Rutschen und Schlittern ihrer Stämme über glitschige Felsen in den seichten
smaragd-schimmernden Fluss. Das Wasser treibt die Mühlen
ihre hölzernen Schaufeln an, laut schlagen die Fallhämmer im Feuchten
darüber ein Nieseln aus Nebel, der Geruch von nassem Holz und frischem Eisen“
(S. 17)
          
Stauffer scheut sich dabei nicht, eine fast biblisch prophetische Sprache zu verwenden, wie etwa William Blake in seinem Gedicht Jerusalem“

„Beglänzte Gottes Angesicht
Die Hügel, von Gewölk umhüllt?
Und ward Jerusalem erbaut,
Wo Leid aus Satans Mühlen quillt?“

Das zweite Gedicht des zerbrochenen Paradies-Zyklus handelt von einem Schutzmantel, der eine Antwort sein könnte gegen den Zerfall, gegen die Verletzlichkeit und die Verletzungen, die der Mensch sich selber antut, ist er doch selbst ein Teil der Natur, die er nicht mehr versteht:

„ein Wort, ein versunkenes Schatzkästchen eines roten, offenen Munds
aus dem es einmal in den Fluss gesprungen war und nicht mehr gefunden wurde“
[…]
„Die Menschen wissen es nicht, sie haben vergessen, es gesprochen zu haben
sie haben vergessen, aus welchem Mund und Grund es gefallen war
Der Überfluss der Sprache hat die Menschen verdorben
sie legen sich ihre Versionen zurecht. Wo ist ihr Gewissen zu suchen?
Ich suche es im Schießpulverturm nahe des Ufers
sind doch alle Worte gelöst aus Kopfkanonen, was ist ein Abschuss, ein Tod?“
(S. 18)        

Der babylonischen Intellektualität des Menschen gegenüber steht bei Stauffer eine gewisse Verzauberung, eine schöpferische Weiblichkeit:

„Weiter unten, im fließenden Immergrün, liegen Gründe
Schichten aus Steinen und Ursand. Ich sehe Schlangen, sie lauern
dabei sind es versunkene Stöcke. Das Wasser lässt allen Grund verschwimmen
zeigt Starres bewegt. Oder ist etwa mein Blick verschwommen? Schlange, wo, wo?
Niemand weiß, wie tief der Schlamm reicht, denn aller Grund kämpft
gegen Oberflächen und alle Oberflächen kämpfen gegen Grund“ (S. 18)
          
Wobei die Texte beim Lesen fast noch weniger Freiheit lassen als im Märchen, fast biblisch ziehen sie das Narrativ, magisch zumindest – alles erscheint bei Stauffer im ersten Teil ihres Ousia-Bandes wie ein Teppich, wie ein Netz voller Verdinglichungen im Sog zurück zum Grund – selbst Schrift schon ist verdickende Mündung, kein Fließen mehr wie Sprache in den Mund. Das dritte Gedicht vom vierteiligen Triptychon heißt „Grenzen“:

„Was die Worte von mir trennt, macht sie zu toten Fischen des Gesagten
Aus mir geströmt, rutschen sie verklingend ins Wasser, schaukeln durch die Wehr
trudeln über eine Brücke aus Beton ins nächste Kraftwerk. Für Augenblicke hängen sie
am eisernen Rechen, der jedes Treibgut den Turbinen fernhalten soll, doch bald
werden sie mitgerissen, in die Francis-Turbine des Stahlunternehmens“
(S. 19)
         
Immer zwei Welten, eine märchenhaft dingliche und eine noch dinglichere. Gemäß ihrer Suche nach Oberfläche und Grund, wobei die Oberfläche mir als Verzauberung des Grundes erscheint. Worte sind hier keine Steuerung, sie strömen als Brocken. Ein bisschen wie bei E.T.A. Hoffmann, zum Beispiel im Goldenen Topf. Es gibt Gründe, aber wir kennen sie nicht. Das vierte Gedicht des Triptychons (S. 20) sagt es ganz genau, dass es mit der Sprache so ist, wie mit der Mikroseite der Materie:

„Es ist nur in Vergessenheit geraten, weil Worte Gebilde auf Quellwasser sind
die sich einmal zeigen, scharf und detailgetreu, um dann für immer zu verschwinden
Oberflächen entstehen aus Tiefen“

Eine Zauberwelt, man könnte versuchen, sie anzuhalten wie ein Standbild, ein Stillleben, zum Teil geschieht dies bereits bei Stauffer. Dann wird die Zeile zu einem holzartigen Ersticken. Doch dann wieder kommt die Brise, eine kleine Brise Kitsch:

„Lebe wie ich für das Spiel der Wellen
Im leichten Auftrieb des Winds“ (S. 24)

Ein Schlängeln zur Sonne hin:

„Echte Himmelsschlüssel wachsen im Dunkel der Brocken
daneben Hänsel und Gretel, frische Farne, Mimosen vielleicht“ (S. 26)

Und das Weibliche, die Göttin Natur, Anahita wird genannt:

„Anahita wispert: Im Fluss die greinenden Sorgen, verloren, allein. Legenden, Alter, Schein“
(S. 29)
Und
„Gugu-cu, Gugu-cu, weise Frauen murmeln einander zu“ (S. 29)

Doch gibt es auch, vermeintlich zum Ende hin, Gedichte über sterile Tage, ganz ohne Zauber:

„Da scheint die Sonne nicht, doch sie, die Frau ist bereit, „trägt das Brennholz. Jeden Tag“ (S. 40)

Alles ist in den Grund eingeschrieben, auch die Würde der Pflanzen, einst hatten sie versucht, zu gehen, doch sie verkrallten dabei ihre Wurzeln immer tiefer und fester in die Erde hinein. (S. 41)

„Inzwischen wächst die Pflanze zum Menschen
und der Mensch zur Pflanze
Hand in Hand verändern sie sich
Greifen ineinander ein“ (S. 41)

Alles ist eingeschrieben. Doch wir haben das magische Wort vergessen:

„Stattdessen sitzen wir in unseren Küchen
in unseren Einbauküchen, schreiben Gedichte
über Würmer und Öl, Monde und Gendergerechtigkeit
Gedichte die uns ersetzen“ (Verkleidung, S. 42)

So grundverschiedene Gedichte folgen, auch immer wieder welche in russischen Landschaften, auch ökologische, politische. Und der letzte Satz im Buch (Fantoscope, S. 109) lautet:

„Wir werden leuchten, wenn die Erde uns zu Öl verkocht“



* Die Worte Platons lauten wie folgt: „Gott zu finden ist schwer und, wenn man ihn gefunden hat, ihn den Vielen mitzuteilen unmöglich.“ (Timaios 28C)
** Timaios 51A
*** Zu den Fesseln: Vergil, Georgica (Landbau) II, 399 ff:


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