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Uwe Nerlich: Deine Stimme hockt

Rezensionen/Lesetipp > Rückschau
Uwe Nerlich

DEINE STIMME HOCKT

Deine Stimme hockt
An einem See.
Traumblau. Todstill.

Manchmal pflückt sie
Aus dem goldenen Zweig
Ein Blatt.

Das schwebt [kein Punkt]
(Der vun Gehanru)

In Vollendung

Nach seinem Erscheinen in Walter Höllerers Sammlung „Transit“ (1956) hat dieses Haiku-ähnliche Gedicht nur einmal das Licht der Welt erblickt, allerdings eingebettet in ein gewaltsames, neunfaches Abbruch-Verfahren durch Robert Gernhardt in der FAZ vom 10. 6. 2006. Mit Nerlichs ersten drei Zeilen endete die ganzseitige Rückschau des Frankfurter Lyrikers auf die gesamte Anthologie, die er überaus kritisch durch die Leitmotiv-Linse im „Zeichen der Fische“ (so der Untertitel seines Beitrags) bewertete. Neun Gedichtanfänge klatschte Gernhardt wie zunächst zappelnde Fische in sein Seziergefäß, um seine Negativ-These von der „Austauschbarkeit“ der Werke konkret zu bekräftigen: Alle Neune, so der Frankfurter, beschworen „durch die Bank“ das „Frauenhafte“ in „derart hohen Tönen“ wie ein „Unisono“. Gernhardt übernimmt hier unbesehen Leslie Meiers alias Peter Rühmkorfs scharfsinnig-gallige „Transit“-Rezension aus „Konkret“ von 1958.
         Kollektive „Austauschbarkeit“? Weit gefehlt, beide Lyriker verkennen die Einmaligkeit von Uwe Nerlichs kunstvoll verknapptem Gedicht! „Transit“ (S. 331) präsentiert den Dichter mit „geb. 1930 in Flensburg, Studium der Philosophie und Mathematik in Frankfurt/M.“ Heute ließe sich verkürzt hinzufügen: Der hochbetagte Uwe Nerlich, in Fachkreisen bis heute vor allem als Experte für militärstrategische Fragen aus der Zeit des Kalten Krieges bekannt, organisiert von München aus den vertraulich tagenden „Vaduz Roundtable“.
     Vorweg sei‘s gesagt: Nerlichs Einzelwerk ragt allein unter den Beiträgen heute noch anerkannter LyrikerInnen aus der Sektion „Dunkel – Innere Landschaft“ von „Transit“ hervor: keine schwerfälligen Genitive wie bei Günter Grass („Lachenden Tieres trockenes Horn“, S. 81), keine überladenen, schrägen Metaphern à la Karl Krolow („Mit dem hygienischen Weiß der Verzweiflung“, S. 74) und Nelly Sachs („Dem gekreuzigten Fisch“, S. 83); es „Benn-t“ auch nicht wie bei Hans Magnus Enzensberger („im klippenkalk der côte ragouse“, S. 86).  Nerlich hält mit den schön entfrachteten Gedichten von Marie Luise von Kaschnitz, den frühen Klassikern Günter Eichs, selbst mit Paul Celan und Ingeborg Bachmann mühelos Schritt.  
         In sieben Zeilen tuscht der junge Dichter sparsamst eine Dialogsituation, die in den beiden Dreizeilern durch starke Gegensätze gekennzeichnet ist. Das (vorschnell angenommene) lyrische Ich spricht eine vertraute („Deine“) Stimme an, auf die das Du reduziert oder konzentriert ist. Sie ist aktiv in dem, was man einer Stimme nicht zuschreibt – sie „hockt“; aber gleichzeitig ist sie nicht nur still, sondern „Todstill“, und dazu „Traumblau“. Das Stakkato der beiden Adjektive schafft eine bedrückende, ja, gefährliche, Atmosphäre. (Leslie Meiers/Peter Rühmkorfs vielfach berechtigtes Ätzen gegen die überforderte Farbe Blau (in „Konkret“, 1958) greift hier nicht.)
       Ganz anders der zweite Dreizeilenset mit seinem Perspektivwechsel, ohne Anrede, aus dem Naturelement Wasser wird nun Land – fester Boden? Hier „pflückt sie“, die Stimme, zuweilen; weder bricht sie gewaltsam ab noch wartet sie, bis sich etwas von selbst löst. Gepflückt wird keine Frucht, auch kein grünes oder welkendes Blatt, sondern ein märchenhaft goldenes „aus“ dem ebenfalls „goldenen Zweig“, dessen größeres Ganzes, Baum oder Busch, unausgesprochen bleibt. Und dieses Blatt wirbelt nicht etwa oder dreht gar spektakuläre Pirouetten, auch torkelt es nicht, nein: „Das schwebt“, und damit bleibt in der Schwebe, ob es von sich aus aktiv ist oder von der Luft, dem dritten Natur-Aggregatzustand nach Wasser und Erde, getragen wird.
     Mehr noch: Das Blatt schwebt zwei Zeilen lang, und weiter. An seinem Ende (so Uwe Nerlich auf Anfrage) soll, anders als von „Transit“-Herausgeber Höllerer gesetzt, „Natürlich kein Punkt“ stehen. Wird es, im See oder auf Land auftreffen, oder im Ungefähren? „Das schwebt“ – zwei Wörter wiegen den ganzen dritten „Dreizeiler“ auf und erhalten damit ein ungeheures Gewicht. Virtuos reduziert der junge Dichter das formal auf Verknappung ausgerichtete Haiku, dessen traditionelle Dreizeiler er verdoppelt hat. Auch an die jeweils festgelegte Anzahl von 5 – 7 – 5 Silben (Moren) hält er sich nicht. Aber eines getraut sich der spielerisch mit der Formstrenge des Haiku umgehende junge Lyriker nicht – kein Wunder, denn selbst der Klassiker Arakida Moritake (1473-1549) wagte es vor ihm nicht: Dessen Haiku von der nicht zulässigen Gegenbewegung einer Blüte hin zum Baum musste deshalb auf einer „momentanen Sinnestäuschung“ (so die profunden Haiku-Kenner Eduard Klopfenstein/Masami Ono-Feller) beruhen: „Schwebt da eine abgefallene/Blüte an den Ast zurück/…Ah, ein Schmetterling!“               
          Wer spricht/schreibt in den letzten vier Zeilen Nerlichs – das lyrische Ich? Das wäre auch jetzt vorschnell, weil der auskunftsbereite Uwe Nerlich auf die neugierige Frage, wer denn das dialogische Stimm-Gegenüber sei, sich selbst ins Spiel bringt, und damit die „Stimme“. Sie wird zur realen Person Britta Titel. Der Uwe Nerlich von heute erinnert sich im e-Post-Austausch gut an die Dialogsituation von vor rund 70 Jahren mit der fast gleichaltrigen, auch jetzt noch von Nerlich hochgeschätzten Lyrikerin; sie ist ebenfalls durch ein Gedicht in „Transit“ vertreten, nur wenige Arbeiten von ihr wurden veröffentlicht, etwa in „Junge Lyrik 1957“).
     Nerlich antwortete in der „besondere[n] Zweisamkeit“ mit Britta Titel damals auf ihr komplex-schillerndes Gedicht „Stimmen im Wasser“ als „Teil unseres Dialogs“. Es liegt (leider ohne genaue Quelle) fast vollständig gedruckt vor und begann in lyrischer Prosa: Vor dem Fenster der in der Nacht aufwachenden Person „war großer See“, Land war nur in der Ferne über die Lichter in Sicht. Dann folgte ein Überblick über die das Gedicht strukturierenden "Stimmen im Bauche des Sees/der Ertrunkenen/der Verwunschenen/der Ungeborenen“. Die Farbe „golden“ verband sich im Teil „Lieder der Ungeborenen“ mit Gefährdung, denn das „Fischlein goldenes“ wurde vom „Hecht/der wilde Freier“ bedroht.
      Die hockende Stimme könnte dadurch zu einer gebärenden Stimme werden. Ein Abgrund liegt in der Luft. Der junge Dichter wendet aber, im Bilde gesprochen, das Blatt. Seine Replik – das macht das ganze Gedicht so spannungsvoll – transformiert die bedrohliche Lage, die sein erster Dreizeiler aus dem Gedicht der Dialogpartnerin übernimmt, perspektivisch durch den meditativen Part ins Rettende. Kann aber das hin und wieder gepflückte schwebende goldene Blatt aus der Märchenwelt eine solide Antwort auf das Bedrohliche sein (wofür steht es: für Kunst, für eine Utopie, für die Kraft des Dichters an Land?) – oder ist es purer Eskapismus?
       Walter Höllerer ist der Dritte im Club der toten Dichter, der trotz seiner Ahnung das Gedicht im Kern verkannt hat, auch wenn er es mit einer seiner „Randnotizen“ hervorhebend würdigt. Ja, hier geht es um einen „Atemzug“, um die mit dem Momenthaften verbundene „Eindringlichkeit“ (S. 90). Aber in jenen Atemzug „preßt“ sich kaum „die Welt“, und mitnichten „erstarrt in der Landschaft“ die „Gestik dessen, der lebt und da ist“.  
      Der da heute noch „lebt und da ist“, schreibt von sich, dass er jenes äußerst sparsame Gedicht ohne „Hintersinn und Kontext“ verfasst habe. Die „Zurückgezogenheit aus der Realität“ seines Gedichts am Rande dessen, was sagbar ist, sei auf seine damalige Adorno-Nähe in Frankfurt zurückzuführen. Zu verstehen sei dies als Antwort auf Adornos Diktum, Lyrik nach Auschwitz sei unmöglich. Der angedeutete biografische Aspekt, im Kleinen, belegt, dass der alte Nerlich beim jungen Dichter übersieht, dass dieser konkrete, im Leben stehende Lyrik geschrieben hat, auch wenn sie auf den ersten Blick im fast zeitlosen Gewande ohne Welthaltigkeit, im Großen, daherkommt.
    All dies spricht dafür, dass Uwe Nerlichs vollendetes Gedicht in einem „Conrady“ oder „Echtermeyer“ bislang unerkannter oder verkannter lyrischer Glücksfälle stehen müsste.
Transit. Lyrikbuch der Jahrhundertmitte, herausgegeben und mit Randnotizen versehen von Walter Höllerer. Frankfurt a.M. (Suhrkamp Verlag). 1956. 334 Seiten. Vergriffen, antiquarisch um die 40,00 Euro. Das Nerlich-Gedicht S. 90f.

Der Autor Der vun Gehanru (Pseudonym) ist ein Fachkollege Uwe Nerlichs.
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