Ulrike Schrimpf: fragen zu ohrringen: totenkopfäffchen
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Ulrike Schrimpf
engramme:
dinge ohne augen zeugen.
gedichte zu
den arolsen archives

I. fragen
zu ohrringen: totenkopfäffchen
ich
habs ihnen gezeigt ich bin sehr alt
geworden was
macht die güte eines blickes
aus vielleicht
sind es schlittenbahngeformte
lippen augenlider
die aus decken zu bestehen
scheinen und sich
in leichtem fall auf eine
beschützung
vorbereiten möglicherweise auch
ein sich
vorsichtig in den vordergrund
schiebender
schneidezahn was sonst nicht
ihre art ist
mutmaßlich ein zur seite
geneigter kopf
oder unmerklich aufgerichtete
schultern die
einen pullover aus wolle nicht
ausfüllen können
vielleicht ist es zudem
der
blusenkragenschnabel eines zu weit
geworfenen
vogeltiers das hat mich so
ergriffen
wie gehen andere
mit briefen um nie
war
der passende moment offensichtlich
zu klein für ihre
zwecke reißen sie in
der tat schon im
ansatz aus den nähten
zertrümmern
vorstellbare basislager was
sie bei sich
behielt sind schreie im
amt der schönheit
von arbeit hängen
tropfen aus sirup
nicht an ohren werden
tropfen aus blut
kleiner als fingernägel
gelagert reglose
totenkopfäffchen einem
mittelalter
entnommen in dem ein mädchen
wenn sie aus der
schule kommt ohne umstände
verschleppt werden
kann keine einzige
begründung bekommt
sie im folgenden nichts
mehr von dem
zurück was ihr anhing und
zugeneigt war so dass zwei minimal
schmückende stücke
am ende den
einzigen beweis
stellen: dass
ich
überlebt habe
Helena Poterska wurde mit
16 Jahren von den Nationalsozialisten auf ihrem Schulweg gekidnappt und in das
Konzentrationslager Posen gebracht. Ein Paar Ohrringe mit roten Steinen sind
von ihr geblieben. 2018 haben die Arolsen Archives sie an ihre Tochter
übergeben.
Die Arolsen Archives sind ein
internationales Dokumentationszentrum zu den national-sozialistischen
Gewaltverbrechen mit der weltweit umfassendsten Sammlung zu den Opfern und
Überlebenden des Nationalsozialismus. 1963 erhielten die Arolsen Archives 4700
Umschläge mit sogenannten Effekten: Uhren, Eheringe, Brieftaschen, Modeschmuck,
Brillen, Fotos mit Widmungen und mehr – alles persönliche Gegenstände, die die
Nationalsozialisten den Inhaftierten bei ihrer Einlieferung in die
Konzentrationslager abnahmen. Sie stammen von Menschen aus über 30 Ländern und
waren von der SS unter den Namen der Häftlinge in den „Effektenkammern“ der Konzentrationslager
eingelagert worden. Die Arolsen Archives haben es sich seither zur Aufgabe
gemacht, das Raubgut an die Überlebenden oder Angehörigen der Opfer
zurückzugeben.