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Ulrich Schäfer-Newiger: Der Fisch in der Raki-Flasche

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Wenn das möglich wäre, so müssten wir sogar
die vorgeprägte Sprache abschaffen …
Orhan Veli



Ulrich Schäfer-Newiger


Der Fisch in der Raki-Flasche.
Orhan Veli zum Hundertsten



Das Bild vom Fisch in der Raki-Flasche wird der türkische Dichter Orhan Veli nicht mehr loswerden, so lange man sich an ihn erinnert.  Es entstand, als Veli ein Gedicht des seinerzeit berühmten und angesehenen türkischen Dichters Ahmet Hasim (geboren zwischen 1883 und 1887 vermutlich in Bagdad, gestorben 4.6.1933 in Istanbul) parodierte. Der hatte in seinem in klassischer Manier geschriebenen Gedicht Der Wunsch am Ende des Tages in der letzten Zeile den poetischen Wunsch geäußert: Könnte ich dann ein Schilfrohr sein in den Seen. Aus diesem, der gewohnten klassischen Poesie entsprechenden  Symbolik machte Veli in seinem mit der alten, schwülstigen Diwan-Dichtung abrechnenden Gedicht Eskiler AliyorumAltes Gerümpel seine letzte Zeile: Wäre ich auch noch ein Fisch in der Raki-Flasche!

Orhan Veli wurde vor hundert Jahren, am 13. April 1914 in Istanbul geboren, mitten im Zerfall des Osmanischen Reiches. Er starb, nur 36 Jahre alt, am 14. November 1950 ebenda. Zwischen diesen beiden Daten hatte bekanntlich nicht nur die Türkei, sondern ganz Mittel- und Osteuropa eine radikale gesellschaftliche Wandlung vollzogen, die hinsichtlich der Poesie in kaum einem Land so radikal ausfiel wie in der Türkei. Und keiner war so radikal wie Oran Veli. Deswegen soll an ihn hier an dieser Stelle erinnert werden.


Orhan Veli¹


In der Türkei erinnert man sich an ihn bis heute sehr gut. Zu Lebzeiten war er weithin bekannt und berühmt. Der oben zitierte Satz wurde zum geflügelten Wort. Auch die letzte Zeile der ersten Strophe des Gedichtes über Herrn Süleyman mit dem Titel Grabinschrift wurde in der Türkei zum geflügelten Wort: Schade um Suleyman Efendi, oder, noch deutscher: Schade um Herrn Suleyman. Diese erste Strophe des Gedichtes sei hier (in der Übertragung von Yüksel Pazarkaya)² wiedergegeben um einen ersten Eindruck von der Dichtung des Autors zu gewinnen:

Hicbir şeyden cekmedi dünayada              
Nasirdan çektiği kadar;                             
Hattâ cirkin yratildiğbile                             
O kadar müteessir değildi;                         
Kundurasi vurmadiğ zamanlarda               
Anmazdi ama Allahin adini,
Günahkâr da saylilmazdi
Yazik oldu Süleyman Efendi’ye.

An nichts litt er in dieser Welt so sehr      
Wie an seinem Hühnerauge.
Sogar, dass er hässlich war,
Störte ihn nicht sonderlich.
Wenn seine Schuhe zufällig nicht drückten
Dachte er nicht gleich an den Namen Gottes,
Aber ungläubig konnte man ihn auch nicht nennen.
Schade um Suleyman Efendi.

In Deutschland hingegen erinnert man sich an Orhan Veli Kanik (so sein vollständiger Name) kaum bis gar nicht, obwohl er zusammen mit Nâzim Hikmet (und seinen Freunden Oktay Rifat und Melih Cevdet und dem ebenfalls 1914 geborenen und 2008 verstorbenen Fazil Hüsnü Dağlarca) der große Erneuerer der türkischen Poesie im 20.Jahrhundert war. Mit seinen genannten Freunden gründet er die Dichtergruppe „Garip“ – Fremdartig, die sich die Erneuerung der türkischen Poesie in den dreißiger Jahren auf die Fahne geschrieben hatte. Aber es ist Hikmet, der in Hans Magnus Enzensbergers „Museum der modernen Poesie“ mit drei Gedichten alleine vorkommt, Veli hingegen findet keinerlei Erwähnung. In Joachim Satorius‘ „Atlas der neuen Poesie“ (1995) gibt es immerhin 6 Gedichte von Oktay Rifat und ebenfalls 6 Gedichte von Fazil Hüsnü Dağlarca. Dort wird in der biographischen Darstellung Rifats und Dağlarcas Orhan Veli lediglich namentlich erwähnt, ohne dass weiter erklärt wird, wer er war und worin seine poetologische Bedeutung lag. Selbstredend fehlt auch jeder Hinweis auf ihn in der von Harald Hartung herausgegebenen „Luftfracht. Internationale Poesie 1940 bis 1990“, erschienen 1991.

Im Netz findet sich heute noch eine empfehlenswerte, sehr instruktive und informative Darstellung der Poetik des Dichters aus dem Jahre 2006 von Simon Wagner. Deutschsprachige bzw. zweisprachige Bücher mit Gedichten von Orhan Veli sind hingegen nur noch antiquarisch zu erhalten, bedauerlicher Weise auch der großartige Gedichtband „Fremdartig“³. Die Suche bei Amazon bringt ernüchternde Ergebnisse.

Dieses Nichtkennen und Nichterinnern bei uns ist kein Zufall. Denn Velis Bruch mit der traditionellen, osmanischen, an strenge Formen gebundenen, in schwülstigen Metaphern und Bildern schwelgenden Diwan-Dichtung war radikal und erfasste alles: Metaphorik, Symbolik, Reim, Verschlüsselungen, Versformen, Vergleiche, vor allem aber den Inhalt, die ‚Gegenstände‘ der Poesie. Er lehnte – zunächst – konsequent diese Kriterien alle ab. Alles, was das lyrisch-symbolische Gedicht bis dahin und auch später und noch gegenwärtig ausmacht, vermied und verneinte er.

Unser Problem ist nicht die Verteidigung der Bedürfnisse einer Klasse, sondern die Suche nach einer Ästhetik der Mehrheit. Diese Ästhetik gilt es durchzusetzen. Es genügt nicht, neue Lehren in alte Formen zu zwängen. Wir müssen alles wegwerfen, was uns die alte Literatur gebracht hat, die unsere Ästhetik und unsere Absichten bis heute bestimmt. Wenn das möglich wäre, so müßten wir sogar die vorgeprägte Sprache abschaffen, die uns zwingt, beim Dichten mit den alten Wörtern zu denken.


Zur Umsetzung dieser seiner poetologischen Forderungen und Vorstellungen ging Veli einen Weg, der bis heute befremdet. Wie viele Erneuerer der Dichtung zu Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts hatte auch Veli das Gefühl, mit der Sprache, so, wie sie bis dahin gebraucht wurde, nicht das ausdrücken zu können, was er wollte, die Wahrheit nicht erfassen zu können, der Wirklichkeit nicht einmal nahe zu kommen. Wie viele wollte er ohne die traditionelle Sprache, ohne all die Wörter, an denen die Bedeutungen hingen wie schwere Steine, sprechen können. Er entlarvte dazu die „wegzuwerfende Sprache“ als diejenige der politischen und gesellschaftlich herrschenden Klasse, deren Mitglieder keinem Broterwerb nachgehen mussten. Auf der sprachlichen Ebene war für ihn daher die Konsequenz, das ‚einfache‘, ‚reine‘ Türkisch, das der von den ‚einfachen‘ Leuten gesprochenen Sprache angenähert war oder ihr entsprach, zu verwenden und auf „‘elitäre‘ Wörter und Satzkonstruktionen arabischer und persischer Herkunft zu verzichten.“ (Simon Wagner).

Deswegen fand in seiner Poesie das Hühnerauge des Herrn Suleyman, des türkischen Herrn Jedermann, Eingang. Ein nahezu ungeheurer Vorgang der Banalisierung der Poesie. Vor allem, als das Hühnerauge in Velis Gedicht für nichts anderes steht als für ein Hühnerauge. Es ist kein Bild für etwas anderes, das sich dahinter verbirgt, es enthält keine Metaphorik. Auf der poetologischen Ebene war man auf der Suche nach einem sprachlichen Kalkül, „das Nähe zur Wirklichkeit verhieß, man wollte Kontakt mit dem täglichen Leben und misstraute ehrenwerten, aber erborgten Gefühlen.“ (wieder Simon Wagner). Wörter und Begriffe, bis dahin beladen mit Symbolik und Bedeutung oder auch gar nicht Gegenstand traditioneller Lyrik, werden in Velis Gedichten bewusst in möglichst einfachen Aussagen zu geradezu bedeutungslosen Gegenständen:


Mein schöner Baum,
Wenn Du einmal vertrocknen solltest,
Werden wir hoffentlich auch
In eine andere Gegend ziehen

(aus dem Gedicht: 'Mein Baum'), oder:


Der Weg
Ist eben.
Die Straßenbahn fährt darauf,
Männer gehen vorbei,
Frauen gehen vorbei.

(Aus der Bebek-Suite, in der auf diese und ähnliche Weise

Begriffe wie „Grün“, „Frauen“, „Straßenbahnführer“, das „Meer“ – wer mag nicht das Meer/ wenn man auf oder an ihm/ Fische/ gefangen hat – „Fischer“ und „Haus“ zum Gegenstand der Lyrik Orhan Velis geworden sind.)


Wenn dann einmal doch ein so bedeutungsschweres Wort wie „Vaterland“ zum Gegenstand  eines Gedichtes wird, dann auf diese Weise:

Fürs Vaterland

Was haben wir nicht alles fürs Vaterland getan!
Manche von uns sind gestorben;
Manche haben Reden gehalten.


Knapper, konkreter und lakonischer kann das Verhältnis des ‚einfachen Mannes‘ und seiner Sprache überhaupt zu dem von politischen Rednern und Herrschern besetzten Begriff ‚Vaterland‘ nicht zum Ausdruck gebracht werden. Wortkargheit zeichnet den lyrischen Stil Orhan Velis aus. Und die Wörter, die er verwendet, sind einfache, alltägliche Wörter. Dass viele von ihm verwendeten Begriffe im traditionellen lyrischen Gebrauch schon damals ‚abgegriffen‘ und ‚abgenutzt‘ waren, kam seiner Poesie zugute: Die Wörter seiner poetischen Sprache sollten ja gerade frei sein von jeder hineingelesenen, assoziierten, hineininterpretierten oder angenommenen, von alter lyrischer Tradition her kommenden Bedeutung und Symbolik. Wortkargheit und epigrammatische Kürze (Yüksel Pazarkaya) ist der Gegenentwurf zur geschwätzigen, symbolisch überladenen, bedeutungsbemühten Sprache der üblichen Lyrik.

Die deutschsprachige Wiedergabe seines Gedichtes über den Monteur Sabri soll dieses Prinzip noch einmal verdeutlichen:


Monteur Sabri

Mit dem Monteur Sabri
Reden wir immer nachts
Und immer auf der Straße
Und immer betrunken.
Er sagt jedesmal:
‚Ich komme zu spät nach Haus‘
Und jedesmal
Hat er zwei Kilo Brot unterm Arm.


Dem letzten Satz darf hier nicht die Bedeutung einer Pointe oder eines Symbols beigelegt werden. Ein solcher Versuch würde für das „Verständnis“ des Textes keinen Gewinn bringen. Es handelt sich einfach um eine deskriptive Aussage, nicht mehr und nicht weniger. "Aber alles, was sich ereignet, ist mehr oder weniger gleich. / So ist nun mal das Leben." (Aus dem Gedicht So ist das Leben nun mal.)

Mit dieser seiner Lakonie erinnert Orhan Velis Sprache am ehesten an diejenige von William Carlos Williams. Eine tief empfundene Melancholie ist in ihr spürbar. Und wie jedem wahren Melancholiker ist Oran Veli auch das Parodistische, ein Humor, der beißt, nicht fremd. Deswegen erinnern seine Texte auch an diejenigen des Russen Danijl Charms.

Der Weg Oran Velis aus der traditionsbeladenen, unsagbar gewordenen Sprache war nicht die Suche nach einer autonomen Poesie, nach einer experimentell  unterfütterten, bedeutungs-kontroversen, erfahrungswidersprüchlichen, hochartifiziellen oder die eigene Unfähigkeit dokumentierenden ‚neuen‘ Sprache. Im Gegenteil: Sein Weg war der zur möglichst einfachen Sprache, zur von jedem alltäglich gesprochenen Sprache, in der die Wörter beim Wort genommen werden. Das war und ist das Fremdartige seiner Poesie bis heute. Das Fremdartige ist, dass sie jedem zugänglich ist. Velis Sprache ist nüchtern, unmittelbar, trocken, humorvoll, wird von jedem verstanden, wenn er nichts hineingeheimnisst. Oder anders formuliert: Sie ist nichts für intellektuelle, humorlose Sprachzerfledderer und –analytiker. Dieser ‚einfache‘ Weg, der überkommenen Sprache zu entkommen, dürfte der Grund sein, warum Oran Veli bei uns so wenig Interesse findet.

Wer sich doch für ihn interessiert, sollte schnell versuchen, die letzten noch vorhandenen, im Netz angebotenen Exemplare deutscher oder zweisprachiger Ausgaben seiner Gedichte zu ergattern.



¹ Quelle:

http://www.qwant.com/url?view=1&source=5&i=4&q=orhan%20veli&url=http%3A%2F%2Ftr.wikipedia.org%2Fwiki%2FOrhan_Veli_Kan%25C4%25B1k
² Alle hier in deutscher Sprache wiedergegebenen Gedichte von Orhan Veli sind Übersetzungen von Yüksel Pazarkaya. Sie sind dem – vergriffenen – Band: Orhan Veli Kanik: Fremdartig – Garip. Gedichte türkisch –deutsch. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Yüksel Pazarkaya, Verlag Dağyeli –Verlag Berlin, 2006, entnommen. Dieses Buch ist auch deswegen lesenswert, weil der Herausgeber am Ende, nach seinem Nachwort, die frühesten Gedichte Orhan Velis aufgenommen hat, die noch der traditionellen Form und dem üblichen Inhalt zugehörig sind und den Bruch der Poetologie Velis besonders greifbar machen.
³ Vgl. Anm. 2.

Zitiert aus dem Nachwort von Y. Pazarkaya in, „Fremdartig“ (vgl. Anm. 2).

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