Ulf Großmann: Erfülltes Leben
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Foto: Kritzolina
Ulf Großmann
Erfülltes Leben
(Prosa, Förderung durch den Freistaat Bayern,
vertreten durch die Bayerische Staatsbibliothek 2023)
„Hier wird Zukunft neu geboren“, hatte die menschliche
Pflegekraft des Gerontology-service-point 173 vor einem halben Jahr zur
Begrüßung gesagt. Cosima Brooklyn hatte genickt und war mit dem Ikea-Bein
zuerst in ihr Zimmer gestolpert. Einen Menschen sah sie danach nur noch in
Ausnahmesituationen. Nach der Gesundheitsreform aller bisherigen
Gesundheits-reformen, auch Mutter der Gesundheitsreformen genannt, die der
Weltgesundheitsminister in seiner allumfassenden Weisheit erarbeitet hatte,
stand Cosima Brooklyn kein mit Organen versehenes biologisches Individuum zur
Verfügung. Sie hatte einen zu niedrigen Kontopflegegrad.
Heimlich sprach man bei Personen wie ihr von einer Art
Pandemie. Eigentlich hatten die Geronten den Kampf verloren. Doch man behütete
sie noch.
Wie auch anderes in streng unter Verschluss gehaltenen
Papieren als vernichtungs-würdig deklariert wurde. Und trotzdem durfte es leben.
Wie die Vögel, die nicht säen und nicht ernten.
Die
Earth-State-Society hatte mit dem Tittytainmentprinzip die größten Probleme der
Welt gelöst. Sicher gab es concentration camps für unnütze Objekte. Das
berüchtigtste sollte sich in Jamaica befinden.
Aber das war ein anderes Kapitel.
Cosima Brooklyn lebte sich schnell ein. Man machte ihr es
leicht. Zuerst kam der Schwebestuhl. Dann das 24-Stunden-Bett. Diese Maßnahmen
erleichterten ihre Pflege für die Einrichtung. Das sah sie ein. Immerhin hatte
sie am Eingang ihre Eigenverantwortung schriftlich abgegeben.
Vorher beim Arzt hatte sie die Sterbehilfe abgelehnt. Das
galt bei vielen als unsozial. Man hatte ihren Willen respektiert und fett auf
die Akte gestempelt.
Das war Monate her.
Cosima Brooklyn lag fixiert und infusionsentspannt im Bett.
Der Pflegeroboter warf die gebrauchte Windel in den
Müllschacht. Vorher hatte er die Person entsprechend dem Reglement der
Pflegeeinrichtung gesäubert und desinfiziert.
Eine Stunde später brachte die Eat-Drohne das Essen und
setzte es auf dem Nachttisch ab. Der fuhr ans Bett und platzierte das Tablett
vor Cosima Brooklyns Gesicht. Die Mobili-tätsinfusion zischte in die Adern.
Die Energytentakel des Tabletts begannen mit der Fütterung.
Zwei öffneten den Mund, zwei löffelten das optimierte Industrieprodukt des
veganen Vitaminbreis hinein. Zwei weitere brachten mit geschickter Massage den
Schluckreflex zur Funktion. Cosima Brooklyn fand die Prozedur grässlich. In der
freien Welt hätte sie es entwürdigend genannt. Aber hier ging es einfach nicht
anders.
Die alte Dame wusste, dass sie zum Ende der Woche die
kostengünstigere Variante einer Magensonde erhalten würde. Sie träumte von
frischem Mett, von Braten, Brot mit Leberwurst. In ihrer Kindheit hatte es das
noch gegeben. Später hatte man es verboten. Vor zehn Jahren wurden die letzten
Tiere auf Gnadenhöfe überführt.
Cosima Brooklyn stellte sich vor, wie sich beim Gedanken an
einen saftigen Braten trotz der Sonde etwas Speichel im sonst nutzlosen Mund
sammeln würde. Oder würde auch dies irgendwie unterbunden werden?
Nach der Fütterung erfolgten eine kurze Säuberung und die
Nap-Sleep-Infusion.
An diesem Nachmittag kam wie jeden Dienstag eine
Besuchsrobbe zum Kuscheln durch die osmotische Tür. Diese Robbe wurde von der
Universal-Mash-Breifirma gesponsert und ließ kaum eine Stelle des Körpers aus.
Cosima Brooklyn hasste dieses Monster, aber es gehörte zum
Programm. Jeden Dienstag. Und später kam, wie jeden Nachmittag, der sogenannte
Aufmunterhund, der auf fünf Minuten Schwanzwedeln über dem Gesicht der
Pflegeperson programmiert war. Cosima Brooklyn schloss die Augen. Genoss die
anschließende sedative Infusion.
Kurz vor dem Abendessen erschien der Avatar ihres Sohnes.
Individuen der Gattung Homo aus der Familie der Menschenaffen durften auf Grund
der Hygienevorschriften keine biopersönlichen Besuche vornehmen.
Ein Prachtkerl aus dem Bundesstaat Jamaica. Er berichtete
von seinen Erfolgen. War jetzt Chef der ökologisch geführten Solution-Bank und
lächelte siegessicher. Dabei war er früher, ihrer Meinung nach, ein Tunichtgut
gewesen, hatte kurze Zeit sogar auf der Straße gelebt. Jetzt ging es ihm
richtig gut.
Cosima Brooklyn lächelte zurück. Alles hatte sich scheinbar
prächtig gefügt.
Zum Abendbrot wurde ihr wieder professionell, nach dem
Pflegestandard ihres Kontopflegegrads, Brei von den Tischtentakeln zugeführt.
Ein veganes Produkt mit Bananenaroma. Sie hasste Bananen. Mit der Magensonde
wäre auch das bald egal. Ohne Geschmack könnte sie sich alles vorstellen.
Später veranlasste das Bett die übliche Levitation zum
Windelwechsel. Der Pflegeroboter übernahm den Rest.
Danach war Telezeit. Vor ihrem Gesicht erschien der
virtuelle Bildschirm. Heute war das Sportprogramm dran. Fußball. Die virtuellen
Mannschaften von ExxonMobil 07 und Sweet-Haribo-United spielten gegeneinander.
Das Endergebnis wurde vom Publikum gewählt. ExxonMobil 07
würde wieder Universalmaster werden, denn sie hatten schon das zehnte Spiel in
Folge gewonnen. Der Sportmoderator lobte wie immer das soziale Engagement des
Konzerns. Dann erlosch der Bildschirm und verschwand.
Die Nachtrobocopin schwebte durch die osmotische Tür,
fixierte Cosima wieder etwas fester für den Tiefschlaf. Die Nightinfusion rann
in den Blutkreislauf. In medikamentöser Fixierung lag die Pflegeperson geborgen
im Bett. Sie hatte noch immer ein erfülltes Leben. Ihre Mutter kam vorbei.
Sagte, sie erwarte sie bald. Cosima Brooklyn nickte.
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