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Udo Grashoff: Zoo

Gedichte > Münchner Anthologie

Udo Grashoff


Zoo

sie schlafen noch nicht,
sie kommen ganz langsam
aus ihrer Apathie
an den Rand der Betonfestung
wo wir uns nebeneinander gehockt haben,
jenseits des Jauchegrabens
unter das Mondlicht
um sie zu sehen,
weiße Wölfe, einer kommt nach dem anderen
vor an die Kante
bleibt stehen,
du ziehst deine Hand aus meiner Hand
sie blicken dich an




veröffentlicht in Belletristik Nr.13. Berlin (Verlagshaus J. Frank) 2014

Carl-Christian Elze


Gedichtinterpretation


Udo Grashoffs Gedicht tritt leise und langsam, Zeile für Zeile, immer näher an uns heran, genau wie die weißen Wölfe darin, die ganz langsam bis an den Rand ihrer Betonfestung kommen. Und schließlich blickt uns dieses Gedicht am Ende mitsamt seinen Wölfen tief in die Augen und tief ins Herz, dass wir darüber sanft erschrecken müssen; genauso erschrecken müssen wie die Personen innerhalb des Gedichts.
Doch worüber erschrecken wir? Warum können wir uns plötzlich so gut vorstellen, dass auch wir beim Anblick dieser weißen Wölfe unsere Hand von der Hand eines vertrauten und geliebten Menschen wegziehen? Was hat das zu bedeuten? Welche inneren Kräfte wirken hier? Fast erweckt das Gedicht den Anschein, nur erzählen zu wollen, und doch führt es uns am Ende zu einem Geheimnis, das wir nicht so einfach durchschauen können. Genau das ist die Stärke dieses Gedichts. Nachvollziehen und nachfühlen können wir es von Anfang an, aber uns selbst verstehen in diesem geglückten Nachvollziehen, das können wir noch lange nicht. Also erneut die Frage: Worüber erschrecken wir nun eigentlich?

Wir sitzen zusammen mit einem Menschen, dem wir gerne unsere Hand anvertrauen, in einem Zoologischen Garten, vor einem Gehege mit weißen Wölfen – das ist die Ausgangssituation. Natürlich steht mir als Leipziger sofort der graue Betonfelsen mit dem trüben Wassergraben vor Augen, der im Leipziger Zoo die Bühne für die weißen Wölfe abgibt, und ich nehme an, auch Udo Grashoff, der in Leipzig lebt, kennt diesen Ort genau. Nun aber weiter: Das Paar im Gedicht hat die Nacht abgewartet, es sitzt unterm Mondlicht, was nicht ganz einfach ist in einem Zoo, der schon 18.00 Uhr geschlossen wird – man muss sich verstecken und sich einschließen lassen. Eine andere Erklärung wäre: Es ist ein später Winternachmittag und der Mond ist bereits aufgegangen. Wie auch immer, man beobachtet hingehockt und Hand in Hand die weißen Wölfe, die ganz zweifellos wunderschöne Tiere sind und eine große Faszination ausüben. Man betrachtet im Mondlicht ihre schneeweißen Felle auf dieser nahezu hundertjährigen grauen Betonanlage, die an Eintönigkeit kaum zu übertreffen ist. Die Wölfe schlafen noch nicht und kommen langsam aus ihrer Apathie, wie es im Text heißt – sie treten einer nach dem andern an den Rand des Jauchegrabens und blicken uns an. Aber was genau blickt uns da an? Sind es unsere gefangenen Brüder und Schwestern, die sich plötzlich zu erkennen geben, und uns sogar den Geliebten oder die Geliebte kurz vergessen lassen? Oder ist es ein noch unheimlicherer Spiegel, der uns für Sekunden vorgehalten wird, in der Art, dass wir uns selbst erkennen in diesen hellen wölfischen Augen? Erkennen wir plötzlich unsere Gefangenschaft auch jenseits dieses Jauchegrabens, in diesem Gehege, das größer ist und Welt heißt? Erschrecken wir vielleicht gar nicht so sanft, wie am Anfang gedacht, sondern maßlos darüber, dass wir alle Gefangene sind in unseren Körpern und unsere Befreiung immer auch Tod heißt? Blickt uns auf unbestimmte Weise unser Tod an, den wir so fürchten? Müssen wir deshalb die Hand aus der Hand des Geliebten ziehen, weil wir plötzlich nicht mehr von seiner Existenz getröstet werden können in diesem ungeheuerlichen, mondlichtigen und wolfäugigen Angriff von Einsamkeit und Verlassenheit?
Oder ist alles ganz anders? Ist es gar kein Erschrecken, das uns widerfährt? Ist es vielmehr eine große, fast übernatürliche Verlockung, der wir gegenüber stehen? Und wenn ja, was lockt uns da, dass wir die Hand aus der Hand des Geliebten ziehen?

Udo Grashoff




Carl-Christian Elze

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