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Tobias Roth: Kirchspiele - Orvieto, Santa Maria Assunta

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Dass sie es mit Lukrez halten, ist ihnen nicht zuzutrauen, aber gut genug. Die Farben streben ins Offene, Geschichten und Ornamente sind der Weg: ein episches Gebäude, Verkürzung einfacher Formen. Die Fenster aus warmem, honiglichem Stein, eine große Rose aus Alabaster, die Hauptrose im Westen aber das helle Blau der Bäche und Kühle, das dunkle Blau des dämmernden Himmels. Die Kühle vor der Hitze der Welt. Groß genug, um den Papst zu empfangen, als seine Stadt in Rauch aufging; Giulio, Sohn des Giuliano, den sie in Santa Maria del Fiore erstochen hatten; Giulio, als Clemens VII., stand alles durch und erlag einem Pilzgericht. An diesen kühlen Steinen kühlten sie die Wunden ihrer gesprungenen Köpfe, in dieser himmlischen Pflanze aus Stein. Und in der Cappella di San Brizio wuchert der Rausch Luca Signorellis, Übermut der Leiber, Grotesken. Oben die Verschlingung aller Wesen, das Horn der Fülle zerschellt an den menschlichen Stirnen und ausgegossen steht da der Wirbel aller Lebensformen. Der Atem Belebung als wollüstiger Seufzer, vom Satyr bis zum Engel. Alles aufgefangen in den Symmetrien einer pflanzlichen Ranke. Die Gestalten sinken ein in das Flirren des Ornaments. Hochwald der italienischen Gotik, wo der Marmor immer kühl ist, eine Burg aus gefrorenem Licht gegen die harte Hand der Sonne. Und die Grotesken, sie zitieren ein Werk, das Giovanni Pico nur der Anekdote nach geschrieben hat: Alles was es gibt und noch etwas mehr. Man könnte in ihnen wohnen. Man sollte in ihnen wohnen. Die Cappella del Santissimo Sacramento ist den Betenden vorbehalten, aber dem Deutschen sagt das vielsprachige Schild, das den Zugang regelt: „Besucher dürfen nur für die Anbetung der Masse eintreten.“


(Orvieto, Santa Maria Assunta)


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