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Tobias Roth: 100 Franken

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Tobias Roth

100 Franken


Im Anschluss an das Plädoyer für eine surreale Prosa und Lyrik



Alexander Graeff hat in seinem Plädoyer für eine surreale Prosa und Lyrik (fixpoetry.com – Ausgabe vom 14.7.2014) unter anderem die Problematik eröffnet, inwiefern die Schreibart des Realismus den Realitätsgehalt verbürgen und beanspruchen kann, der ihren Namenspatron abgibt, und gerade in dem Moment seines Textes, als er den überzeugenden und auch m.E. einzig gewissenhaften abschlägigen Bescheid in Aussicht stellt, eine Kernfrage eben jenes Realismus berührt, namentlich: wonach man die Aussage Alberto Giacomettis Realismus ist Quatsch zitieren solle.
Ich weiß nicht, ob die Ursache ein teilrealistischer Antrieb ist oder mehr ein Verhältnis der Treue zur Welt, die der Übersetzer seinem Original gegenüber spüren mag, dass ich mich schäme, das Dilemma dieser fehlenden Zitation verursacht zu haben. Umso mehr, als ich ein beständiger und überzeugter Papagei des Satzes Realismus ist Quatsch bin und ihn mit Lust verbreite. Das hat zu dem Notbehelf geführt, dass ich den Satz zwar zitiere, aber beständig mangelhaft zitiere, d.h. nicht nach einer vertrauenswürdigen Drucksache, sondern nach meiner Küche. Dort nämlich hängt, Fries, das schon vielen Umbau überstanden hat, der Satz auf einer Postkarte, die einst ein Berliner Museum zu Werbezwecken herausgab, fünfmal nebeneinander. Nicht einmal, welches Museum zu welchem Zweck, weiß ich mehr zu sagen, so sehr entgleitet mir der Satz, der mir doch jeden Morgen fünffach auf den Hinterkopf leuchtet.

Das ist ein durchaus realistischer Einblick in mein Gedächtnis und meine Küche, aber ob es mir jemand glaubt? Welches Bild sich nun jemand von meiner Küche macht? Woher soll ich das wissen? Schert es mich? Natürlich nicht; an dem Zitat auf der Postkarte kondensiert auch in diesem Fall eine Einschätzung des Realismus. Die Frage, was es bedeuten kann, wenn ich Graeffs Text und Giacomettis Satz und meine Zitationsprobleme schlicht per Schrift in Konstellation setze, als Wörter, nicht mehr und nicht weniger, erscheint mir viel reizvoller als die Frage, wie ich ein Bild von einer Küche vermitteln kann, das als realistische Schreibart durchgeht.
Das Problem liegt durchaus im Verhältnis von Sachen und Wörtern, von res und verba. Schreckliche Vorstellung! Ganz so, wie Goethe mit dem herrlichen Reimwort „Darm“ ausruft: „Dass Gott erbarm!“, die Vorstellung des Realisten, der plötzlich auf das Problem res und verba kommt und weinend zusammensinkt, weil all seine Plots und Gestalten und Milieuschilderungen – selbst wenn es hoch kommt – nur die halbe Miete zahlen, höchstens res. (Man hört die Tage viel Kritik über die Art wie die zeitgenössische Literatur angeblich beschaffen sei. [...], heißt es bei Graeff und in diesem Sinne meine ich mit „Realist“ hier den Popanz, der entsteht, wenn man all das vage ablehnende Feuilleton als wirklichkeitshaltigen realistischen Text liest.) Wirklichkeitsgehalte? Se non è vero, è ben trovato: wenn es nicht wahr ist, so ist es doch gut erfunden. Mehr wird man auch gar nicht verlangen können.

Aber zurück zu Alberto Giacometti. Vielleicht, sehr wahrscheinlich sogar, ist meine Scham mangelnder Zitation betreffs Alberto Giacometti Folge universitärer Ausbildung – also Folge einer grundlegend surrealen Angelegenheit. Denn auf der anderen Seite, und gerade weil hier „Realismus“ freilich als Kampfbegriff geführt wird, oder besser: als solcher nutzbar gemacht werden soll (mir drängt sich das Bild auf, dass in den Anfängen der biologischen Kriegsführung schlichtweg Leichen in die belagerte Stadt katapultiert wurden), erscheint mir Graeffs zehnte Fußnote als wunderbare Inszenierung dessen, was den „lauen“ Realismus überschießt. Die Fußnote an sich bezeugt die Treue der Welt und ihrem Überfluss gegenüber, die den linearen Text überschwemmt; die zehnte Fußnote im Einzelnen sagt den Mangel der Schrift gegenüber der Welt aus, den ungenügenden Zugriff auf Alberto Giacometti.
Ein Ärgernis des Realismus ist vielleicht, dass er das beides getrost unter den Tisch seiner Darstellungsart fallen lässt. Surreal ist er nicht; naturalistischer Dokumentationswille treibt ihn nicht. Würde man auf die Idee kommen, die Schreibweise Arno Schmidts in den lauen Topf des Romanrealismus zu werfen? Ich sicherlich nicht; und zugleich kenne ich kaum eine Schreibweise, die derart von Realien überfließt. Ähnlich ist es mit Stillleben des Goldenen Zeitalters oder den Kuppeln Andrea Pozzos. Ähnlich ist es, wenn ich im Berliner Ensemble sitze und Thomas Bernhards Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen sehe und dort unten auf der Bühne tatsächlich Claus Peymann sitzt und Claus Peymann spielt und an der Stelle, an der Bernhards Text vorschreibt „Peymann beißt in sein Schnitzel“, in ein Schnitzel beißt.
Das ist freilich realster Realismus – aber in einer Komplikationsstufe, die die Frage um die eigene Fiktionalität in denkbar anregender Art und Weise stellt, und es als völlig undenkbar erscheinen lässt, dass sich der Betrachter oder Leser im Werk „verliert“ oder wie es sonst so heißt, sprich: den Realismus als Realität kauft oder glaubt. Im Grunde bezweifle ich, dass das je passiert ist, nicht im Romanwahnsinn des 19. und nicht in den Computerspielen des 20. und 21. Jahrhunderts, ich bezweifle zutiefst, dass je jemand wirkliche Angst vor den Zauberkünsten dreier Frauen gehabt hat, die dem Papageno den Mund verriegeln. Genauso wenig wie ich glauben kann, dass jemand auf die Rhetorik eines Satzes wie Aber zurück zu Alberto Giacometti hereinfällt und wirklich beginnt, an einen Rahmen aus Hören und Sprechen zu glauben, und den Rahmen aus Lesern und Schreiben zu vergessen. Das würde für mich an Wahnsinn grenzen; genauso wie die Künstlerverbannung Platons oder der Theaterbrief Rousseaus mir an Paranoia zu grenzen scheinen – wenn sie auch, in diesem Sinne, gewichtige Spießgefährten gegen den Realismus abgeben könnten. So sehr ich nun auch zweifle und im Grunde leugne, dass Realismus Trompe-l'œil zu werden vermag, verlange ich doch, dass die Kunst sich als Kunst markiert und ausstellt und die Verwicklungen ihrer Vermittlungen tanzen lässt.

Realismus ist Quatsch lässt sich gut, wie Graeff es getan hat, als essenzielle Antwort auf die Frage nach der Wirklichkeit, zugleich als Panier des Konstruktivismus ausrufen, fraglos; so rufe auch ich. Folge universitärer Ausbildung, wohl auch fraglos. Auch gräme ich mich gar nicht so sehr um die Frage, ob Giacometti wirklich Realismus ist Quatsch gesagt hat oder nicht, sondern vielmehr um die Frage, wo es steht. Denn es geht ja nicht um Giacometti als Menschen, sondern um Giacometti als Figur. Wenn den Satz, mit all seinem Schneid und seiner Schlauheit, meine Tante erfunden hat, ist das nicht so fulminant. Denn soweit ich meine Tante kenne, hat sie kein bildhauerisches Oeuvre geschaffen, das in sich schon einen schönen Kommentar zu Realismus und Abbildlichkeit abgibt; zugleich ein Oeuvre und Kommentarsensemble, das in der Schweiz auf Banknoten über 100 Franken statuiert ist, und die bezaubernde Volte liefert, dass ich in der Schweiz im Namen einer surrealen Kunst reale Käufe tätigen kann.
Anders aber wäre es, wenn ich mir eine andere Tante denke (vielleicht habe ich gar keine Tante), die den Satz, mit all seinem Schneid und seiner Schlauheit, erfunden hat, ihn aber in einem Theaterstück der Figur Alberto Giacometti in den Mund legte. Das wäre für mich geradeso gut als eine Interviewaussage Alberto Giacomettis, und ebenso zitierfähig. Ben trovato einerseits, Giacometti spielt Giacometti andrerseits. Beides eint aber die Bedürftigkeit des Zitats – und zwar aus dem Grund, dass sich das Vexierspiel der Vermitteltheit, der Künstlichkeit, der Fiktion in der Schrift ganz anders und lustiger entfalten kann, wenn ihr Bezugspunkt wiederum als Schrift sichtbar wird: Das Quellgebiet der literarischen Phantasie mit offenem Visier bezeichnet. Das leistet mir die Angabe, dass es sich überhaupt um ein Zitat handelt. Wenn ich sage, Giacometti sagt: Realismus ist Quatsch, erwähne ich Giacometti ja nicht deswegen, weil ich Angst habe, einfach zu behaupten, Realismus sei Quatsch, ohne einen diskursiven Schlägertrupp von verbürgten Kanongrößen hinter mir zu haben, und auch nicht, weil ich mich mit Giacometti als einer Person identifizieren will, die bekanntlich sehr gern Haferflocken gefrühstückt hat, wie auch ich bekanntlich sehr gern Haferflocken frühstücke. Es geht vielmehr darum, Gedanken aufzurufen, an sie anzuknüpfen, und gleichzeitig die Distanz zu ihnen anzugeben, insofern das nicht meine Gedanken sind. Der Lust, mit Tesserae von Tatsächlichkeiten zu spielen und sie mit Phantastereien zu verkitten, korrespondiert das Ausdrucksbedürfnis, dass die Welt nicht schlichtweg die eine Welt ist, auch das Schriftstück nicht schlichtweg ein einziges Schriftstück.

Wird sich darauf wohl der Realist einlassen wollen? Denn der Bezugspunkt in der Welt ist durchaus nicht ohne Bedeutung für eine Schreibart, die sich einen deus absconditus von Wirklichkeit als Namenspatron holt, sich darüber hinaus vielleicht sogar eine gewisse Aktualität „einfängt“ (wie man sich eine Geschlechtskrankheit „einfängt“). Diese Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit, ob als Vorbemerkung eines Buches, eines Filmes, eines Hörspiels, was soll ich mit dieser Ansage? Wieso glaubt die Geschichte, der Legitimation der Begebenheit zu bedürfen? Eine Steigerung der Glaubhaftigkeit im Angesicht der Unwahrscheinlichkeit des Vorgefallenen, das kann kaum der Sinn sein. Geschichten so phantastisch, dass einem die Haare zu Berge stehen, findet man zuhauf und zuvörderst bei den Historikern, und die durchschlagendsten Aussagen über die Wirklichkeit sind noch immer im Vexierspiel der Fiktion geäußert worden. Indes ist, was tatsächlich vorfällt, im Vergleich zum Geschriebenen immer, wie Thomas Bernhard irgendwo in einem Interview sagt, gewaltiger. Den Chronistenposten haben nun schon der Naturalist und der Historiker besetzt, wohin soll nun der Realist? Von Platon hätte er es erwartet, von Rousseau und Giacometti und den Konstruktivisten hätte er es erwartet, aber dass es aus dem sorgsam recherchierten Wald seiner wahren Begebenheit zurückruft Realismus ist Quatsch, das ist schon arg.

res und verba. Was den lauen Realismus lau macht, ist sicherlich in den Spannungen zu suchen, die er zwischen den Gegenständen und den Worten, die sie vergegenwärtigen sollen, unterlässt aufzubauen. Ohne Spannung kein Ton. Wie aber soll sich jene Spannung einstellen und was wird sie leisten? Es wird sich lohnen, diese Frage stilistisch zu nennen, denn was dem sog. Realismus wohl am meisten Feuer (im Grunde sogar: friendly fire) aus dem Feuilleton zuzieht, ist die Vorhersehbarkeit und milde Temperatur seines Stils, bzw. gerade das geringe Maß an literarischer Stilisierung in der Wortgestalt des einzelnen Satzes. So wären also realistische Beschreibungen oder realistische Dialoge gemessen an der Ansicht der Dinge und der Rede der Leute bemüht um Kongruenz. Je mehr das in den Vordergrund tritt, umso weniger wird sich das gestaltende Subjekt aussprechen können, durch das sich das einfallende Licht bricht.
Die Stimme des Textes ist aber nicht nur die gestaltende, sondern auch die gestaltete, und so ist es auch ihr angewiesen, Engagement auszuleben – gleichsam doppelt mit ihrer Gestaltung und gegen ihre Gestaltung. Diese Tätigkeit und dieses Eingreifen (das Wort „Verfremdung“ ist leider schon besetzt und zu scharf) beginnen im Grunde bereits dort, wo alles (getreulich!) als historisch, vermittelt und wandelbar dargestellt wird und sich der Bedingungsreichtum und die Unwahrscheinlichkeit des Vorfallenden und des Erfundenen entfalten können. Die geschlossene Bildoberfläche einer realistischen Schilderung ohne doppelten (z.B. intertextuellen, analytischen, etc.) Boden kann hier zu leicht Ignoranzchancen bieten. Wo man „nichts zu sehen bekommt, was man nicht zu sehen bekommt“, ist man mitten in Niklas Luhmanns Umschreibung von Pornographie; spannend wird es, wo durch ein Gelände, vielleicht gar eine Landschaft von Lücken die Deutung des Lesers herausgefordert wird. Nochmal Luhmann: „Man sieht, dass man nicht sieht, was man nicht sieht, und diese Beobachtung ist für das Bewusstsein viel reizvoller als die platte Ansicht der Dinge.“ Vielleicht platzt jetzt der Knoten vollends: Denn die Anforderung und Anstrengung, die surreale Literatur an ihre Leser stellt, scheint mir den Anforderungen und Anstrengungen, die die Welt von ihren Bewohnern verlangt, ausgesprochen verwandt.
Varianten dieser Spannung gibt es ohne Grenzen, dass es überhaupt passiert, ist entscheidend; es passiert ja sogar in der Spannungsvariante des exponierten Nullpunktes, wie in dem Satz Peymann beißt in sein Schnitzel oder in Uwe Nettelbecks Dolomitenkrieg. Hohe Flüchtigkeit der Differenzen; wie der Unterschied zwischen einem lyrischen Ich und einem auktorialen Erzähler. In einem surrealen und entsprechend auch souveränen Schriftwerk entsteht die Spannung zwischen Wirklichkeit und Wahrnehmung in einer Art und Weise, die die Nabelschnur der Begebenheit nicht nötig hat, den Karton der Welt, von dem der Roman abgezeichnet wird. Ohne an den Büchern einen Strich zu ändern: Die Regieanweisung Peymann beißt in sein Schnitzel hätte auch dann eine wunderbare Wirkung, wenn es eine Person namens Claus Peymann nie gegeben hätte, und Nettelbecks Dolomitenkrieg wäre eine mitreißende Lektüre, wenn dieser Krieg nie stattgefunden hätte. Was hingegen würde mit der zeitgenössischen Romanproduktion, aufgelegt viel und viel gescholten, geschehen, wenn es zum Beispiel Berlin überhaupt nicht gäbe? Daß Gott erbarm! (Ich darf das unumwunden behaupten, da ich so gut wie nichts aus der zeitgenössischen Romanproduktion kenne.)

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