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Thomas Hettche: Unsere leeren Herzen

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Timo Brandt

Leeren Herzens liebt mich dennoch die Literatur


"Die längste Zeit, wir sind dabei es zu vergessen, war die Welt Natur, und Natur ist sprachlos. Von Wörtern, von Bildern, von Musik immer umgeben, schicken wir uns an, mit Haut und Haaren so sehr Teil der digitalen Welt zu werden, wie wir bisher Teil dieser Natur waren, und vergessen darüber, dass die Magie von Sprache immer darin bestanden hat, Sprache in der Stille zu sein. [...] weshalb einer der wenigen tatsächlich utopischen Räume, den wir uns in dieser Welt geschaffen haben, dabei ist zu verschwinden."

Nur selten trifft man Bücher, denen man nach der Lektüre aufs Tiefste dankbar ist. Ich bin der Literatur allgemein aufs Tiefste dankbar und so auch jedem ihrer Stücke, aber es gibt diese Bücher, von denen man sich schon bei der ersten Lektüre ständig durchdrungen und erkannt fühlt. Man spürt in den Sätzen, dass die Gedanken des Werkes auf einer Ebene berühren, die man noch nicht bewusst freigelegt hat, die sich aber jetzt aufzutun beginnt, mit einer Menge an geistigem Neuland.

So ein geistiges Neuland erschließendes Buch war für mich „Unsere leeren Herzen“ von Thomas Hettche. Ein Buch, in dem es um die Literatur (inmitten von allem anderen) geht: warum und wie sie uns angeht, was sie erreichen kann und wie sich ihre Parameter und Grenzen heute neu konstituieren – und wie sie sich immer schon neu konstituiert haben und doch einigen Dingen verpflichtet bleiben müssen, ohne die sie nicht existieren können.

"Es bleiben die Künste immer orientiert auf die Zeiten der Kriege, aus denen sie kommen oder die sie erwarten."

"Stets ist Literatur eingerückt in die Perspektive ihrer Zeit, erstaunlich und anrührend aber ist, dass es an gelungenen Texten immer etwas gibt, das sich irgendwann mit Gewinn aus dieser Perspektive auch wieder lösen lässt."

In lose aufeinander folgenden Kapiteln, die untereinander teilweise kommunizieren, aber alle eigenständig funktionieren, und mit einem eindringlich-unaufdringlichen Ton, der mich ein bisschen an die joviale Sondierung in Marcel Beyers „Das blindgeweinte Jahrhundert“ erinnert hat, bewegt sich Hettche durch die Welt der Literatur und die Welt des Zeitgeistes, legt sie übereinander, schlägt die Schnittmengen an und verknüpft sie mit den ewigen Fragen des Schreibens, Schaffens: Was ist Literatur, wohin kommt man mit ihr nicht? Wie kann etwas so Problematisches wie Sprache – trotz allem – Wegweiser und Funke sein? Immer wieder kommt Hettche im Umfeld dieser Fragen, die er in Werken und Geschichten verdichtet, zu erstaunlichen Perspektiven und Denkstößen.

"Aber wer benennt, bringt zum Schweigen, was er bezeichnet. Im stummen Blick der Tiere schaut diese unvermeidliche Schuld uns an. Deshalb ängstigen und betören ihre Blicke uns gleichermaßen. Immer schon haben die Schriftsteller diese Schuld aufzuheben versucht, und so haben Tiere in der Literatur von jeher eine besondere Stellung, zu der auffallend oft gehört, dass sie sprechen können."

Es ist, obwohl es viel um die Liebe zur Literatur geht – um das Aufzeigen ihrer inneren Wahrheit, auch ein sehr kritisches Buch, das sich teilweise als essayistische Diagnose gebärdet. Denn so weitläufig literarische Werke auch angelegt sind: sie müssen in der Lage sein, die Distanz zu unseren innersten Räumen mit einem einzigen Abschnitt, einem einzigen Satz, einem einzigen Wort zu überbrücken. Deswegen brauchen wir die Literatur: weil nichts so schnell die Dinge komprimieren und entfalten kann, die wir übersehen, nicht wahrnehmen oder begreifen, nicht wertschätzen oder überblicken können, oder die wir einfach (noch) nicht verstehen.

"Wir leben inmitten einer Revolution, deren Tragweite einzuschätzen uns deshalb so schwer fällt, weil wir auf die Wahrnehmung katastrophaler Umstürze eingerichtet sind, nicht auf langsame Veränderungen."

Und obwohl scharfsinnig, wird der Ton des Buches nie bitter oder über die Maßen appellierend. Zärtlichkeit, Hinweis, Nonchalance und Klarheit regieren. Oder, wie Hettche es formuliert:

"Immer geht es um eine Literatur, die uns weniger belügt, als wir selbst es tun."

Wie nebenbei liefert einem das Buch Antworten und Erkenntnisse, ohne die dazugehörigen Fragen implizit zu stellen; andere Fragen werden wiederum implizit gestellt und die Antworten mal deutlich, mal angedeutet, herausgearbeitet, am Beispiel von Passagen aus der Weltliteratur, von Wilhelm Raabe bis Ernst Jünger, Ovid bis Robert Louis Stevenson. Hettches Belesenheit wirkt dabei fast schon einschüchternd, aber da er einer Positionierung oft die ausbalancierte Darreichung vorzieht, wirkt das Buch insgesamt sehr uneitel, wenn auch hier und dort auf fast enervierende Weise komplex, sobald er einige Fäden plötzlich in einer Passage bündelt.

"Es gibt kein weißes Blatt. Niemals. Unser Schmerz ist immer schon da."

Aber Literatur ist nun mal komplex und die essayistisch-rhetorischen und gleichzeitig fachlichen und gleichzeitig poetischen Dimensionen von Hettches Sprache verdeutlichen das in jeder Faser, nicht nur thematisch.

Und so hat man hier ein Buch voll Geist, voller Verdichtungen, voller elaborierte Ideen. Für mich, nachträglich, eines der Bücher des Jahres 2017.

"Jede Zärtlichkeit ist Geste. Meine Zunge ist belegt mit Sprache. Wenn ich mich recke, wenn ich mich strecke, wenn ich die Arme ausbreite, tanzen an meinen Fingerspitzen die Elmsfeuer der Literatur."

Wie können wir Literatur begreifen? Ist sie ein Rätsel, das wir nicht lösen, sondern das uns löst? Und reicht das oder müsste es umgekehrt sein? Inwiefern ist Erkenntnis Gewinn und inwieweit ist sie die Gewissheit über die Leere unserer Herzen – und ist dieser leere Raum mit ihrer Hilfe leichter, oder sogar schwieriger, weil gewissenhafter, zu füllen?

"Am Ende der "Eberjagd" [von Ernst Jünger] heißt es von Richard, er habe nun begriffen, "dass Tatsachen die Umstände verändern, die zu ihnen führten. Wenn Literatur ein Erkenntnisinstrument ist, dann in eben dieser Weise."

Und wie lebendig ist der Text? Wie tot ist Sprache, die uns elektrisiert, der wir ihre Botschaft entziehen, entreißen – kopflos vielleicht?

"Es rührt die Lebendigkeit des Textes von der Macht des Lesers her, ihn zu Tode zu bringen"

Um vielerlei Fragen kreisen Thomas Hettches Erkundungen. Dass Literatur die bessere Geschichtsschreibung ist, weil sie nicht auf die Utopie des Fortschritts festgelegt ist, sondern sich der Ewigkeit und gleichsam der Gegenwart des menschlichen Dilemmas verpflichtet sieht, wird ebenso verhandelt wie jene traurige, tröstliche, ungeheuerliche Wahrheit, dass Literatur, dass Schreiben und Lesen letztlich Übungen im Sterben sind. Diese Fragen und Nuancen machen das Buch so wertvoll, so reich. Ich werde es noch oft zur Hand nehmen – eines dieser Bücher, die eine Begleitung für den Rest des Lebens sein könnten. Aus denen man immer wieder etwas Neues und etwas Bekanntes lernen kann.

"Denn der Tod geht unter die Haut, die ich küsse. Der Tod wartet in dem Geschlecht, das ich liebe. Er schwimmt in den Augäpfeln, deren Blick mich in der Welt hält. Meine Liebe entgeht ihm nicht."


Thomas Hettche: Unsere leeren Herzen. Über Literatur. Köln (Kiepenheuer & Witsch) 2017. 208 S. 20,00 Euro.
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