Thomas Böhme: Grünlaken
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Crauss.
Thomas Böhme: Grünlaken. Roman. Leipzig (poetenladen) 2023. ISBN 978-3-948305-18-5.
223 Seiten für 22,80 Euro.
Thomas Böhme in Bestform
Alan Wake als intellektuelles Summen im Kopf: Nature Writing auf der Höhe der Zeit
Sowohl Thomas Böhmes letzter Gedichtband Strandpatenschaft (2021) als auch sein aktueller Roman Grünlaken (2023) zählen zu den besten Büchern des Autors. Böhme geht auf die Siebzig zu, seine Bücher als Alterswerk zu bezeichnen, wäre jedoch falsch. Denn selten war der Dichter so dicht am Puls des zeitgenössischen Schreibens, ohne diesen durch Sprödigkeit der Sprache, Anbiederung an jugendliche Wendungen oder ein zu dringendes Wollen abzudrücken. Die Gedichte genauso wie der Roman sind in einer Leichtigkeit verfasst, die nicht mit Leichtfertigkeit zu verwechseln ist. Ebenso wäre es verfehlt, Grünlaken lyrisch zu nennen, bloß weil frühere Prosastücke Böhmes einen eher lyrischen Duktus hatten.
»Am Ende des vorigen Jahrhunderts, als die Volkspatronate wie Kartenhäuser in sich zusammenfielen, hörte ich sie wieder, die Okarina.« Grünlaken trieft ähnlich wie Karen Duves Regenroman von Matsch und Schauder, von der Sinnlichkeit einer Wildnis, die sich nach dem Zusammenbruch der ›Zivilisation‹ Gegenden und Gemüter zurückerobert. Grünlaken ist eine Fundgrube von Asservaten, eine Geschichtensammlung über die Verschlossenheit eines Gesellschaftssystems, das als Staatsform nicht mehr funktioniert, als Organismus unter verwilderten Bedingungen aber weiter mutiert.
Hier ist ein Simplicius unterwegs auf der Suche nach Ordnung und Halt. »Um
etwas wiederzufinden, muss ich mich ganz dem Zufall anheimgeben.« Irgendwo im
›Niemandswo‹ vermutet Adrian Gallus das in Wirklichkeit vergangene Land der
Okarina zu finden. Nicht umsonst erinnert die Ortsbezeichnung an Böhmes
Gedichtband Abdruck im Niemandswo
(2016), in dem es bereits um eine Sperrzone
ging und den Eintritt in den kartenlosen
Raum. Auch in Grünlaken verschwimmen
die Eindrücke, die Zeit hebt sich auf zwischen Realem und Erinnerung. »Für
einen, der täglich die geografischen Werke aus circa zwölf Jahrhunderten
einsehen konnte, ist es absurd, jetzt nicht einmal eine schlichte Wanderkarte,
geschweige denn GPS zur Verfügung zu haben.« Was nutzt das Wissen der Welt,
wenn man es nicht anwenden und mit seinem Inneren in Einklang bringen kann! So
taucht während der Wanderschaft an Gallus‘ Seite immer wieder der
Kindheitsfreund Ruben auf, konsequenterweise stets in der passenden Montur, und
selbstverständlich in immer anderen Altersphasen.
Der Junge hatte die Okarina
»von einer Reise mit seinen Eltern mitgebracht, und immer, wenn er davon
prahlte, bekamen seine Augen jenen fiebrigen Glanz, der mich überzeugte, dass
jedes einzelne Wort gelogen war.« Der ganze Roman ist ein Lügenkonstrukt oder,
wohlwollender, ein Fiebertraumtagebuch. Gallus, vormals Mitarbeiter eines
dubiosen Forschungsinstituts, schreibt Notizbücher voll, die wiederum in Verhörprotokollen
einer parastaatlichen Behörde erwähnt werden, die Gallus auf seine bürgerliche
Identität zurück-schrumpfen will und mit seiner Hilfe nach dem Landesverräter
fahndet — handelt es sich dabei um Adrian Gallus alias Andreas Hahn selbst oder
um den verschwundenen Freund Ruben? »Nach wie vor drehen wir uns im Kreis oder
werden vorsätzlich in die Irre geführt.« Gallus
beschließt, seine »Flucht mit einer Flucht [zu] beginnen« und wacht am Ende auf
in einer wattierten Welt, in der ein Drohbrief in einem gefütterten Umschlag
daherkommt, die Beschreibung der psychiatrischen Anstalt, aus der der
Protagonist nur knapp mit dem Leben davonkommt, aber durchaus eine
Triggerwarnung verdient hätte. »Es ist mir übrigens jeden Tag aufs Neue ein
Rätsel, wie ich dorthin gelange.«
Überhaupt muten die einzelnen Kapitel, unterteilt in manchmal nur
halbseitige Abschnitte sowie die achronologische Präsentation der Handlung wie Episoden
aus Alan Wake an. Im Videospiel
findet der Protagonist ebenfalls immer wieder Manuskriptseiten, die aus seinen
eigenen Werken zu stammen scheinen und das Puzzle der Suche nach seiner Frau
vervollständigen. Ob es des Autors Absicht war, sei dahingestellt. Böhme hat
hier jedenfalls ein vollkommen zeitgenössisches Stück Prosa verfasst, dem
selbst neuere Dystopien wie etwa Joshua Groß‘ Flexen in Miami hinterherhinken.
Grünlaken liest sich spannend, nicht trotz, aber auch
nicht wegen der vielen Leerstellen, die Böhme in der Handlung lässt. Der Roman
schafft es, nicht nur in der dichten Beschreibung der Natur-, sondern auch der
mentalen Wildnis magisch zu wirken und durch motivische wie sprachliche Loops und
Allusionen (teils bezogen auf das eigene Werk, aber auch auf Grimm’sche Wälder
und H. H. Jahnns Idealgemeinschaft Ugrino)
ein ›Summen im Kopf‹ zu erzeugen, das einer literarischen Psychose gefährlich
nahe ist. Soll man dem Buch eine Verfilmung wünschen? Dreht David Lynch noch?