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The Cure: Pornography

Memo/Essay > Memo
Stefan Heuer
Give me your eyes that I might see –
zum 40sten Jahrestag eines großen Albums


Im Juli 1984 lag ich am Strand von Hörnum und hörte Walkman. Es war warm, meinem Empfinden nach heiß … – und ich war verliebt. Das Mädchen, dem ich dies zu verdanken hatte, hieß Nicole und war bis zum gerade beendeten Schuljahr in meiner Klasse gewesen. In der letzten Schulwoche vor den großen Ferien hatte sie einen Stapel Platten ihres Bruders mit in die Schule gebracht, um sie zu Geld zu machen. Einige davon hatte ich zum Probehören mit nach Hause genommen – seitdem ist mein Leben ein anderes.

It doesn’t matter if we all die
Ambition in the back of a black car
In a high building there is so much to do
Going home time, a story on the radio
Something small falls out of your mouth and we laugh

Als ich diese Zeilen das erste Mal hörte, war ich 13. Meine Englischkenntnisse waren mittelmäßig, aber sie reichten aus, um zu verstehen.
     Es war die erste Platte, die ich von The Cure hatte und hörte (und mir für den Urlaub auf Kassette gezogen hatte), und versehen war sie mit einem Titel, der meine Eltern zumindest kurzzeitig am Erfolg ihrer Erziehungsbemühungen zweifeln ließ: Pornography. Wobei meine Eltern meinem Musikgeschmack stets aufgeschlossen und entspannt gegenüberstanden: Meine um fünf Jahre ältere Schwester hatte gute Vorarbeit geleistet und sie auf diesem Gebiet bereits mit der in voller Lautstärke durch die Wohnung dröhnenden Nina-Hagen-Platte Unbehagen abgehärtet – dennoch konnte/kann ich es ihnen nicht verdenken, dass sie sich ob meiner plötzlichen Obsession für derartige Texte und schlampig aufgetragenen Lippenstift und Kajal Gedanken machten (zumal Robert Smith damals noch öffentlich damit kokettierte, immer einen Strick bei sich zu tragen, um seiner Existenz bei Bedarf jederzeit ein Ende bereiten zu können). Erfreulicherweise vertrauten sie jedoch schon damals vollkommen zurecht auf meinen gesunden Menschenverstand.

Pornography erschien am 04. Mai 1982 – dabei waren die Vorzeichen für dieses Album so düster gewesen, dass viele damals darauf gewettet hätten, dass The Cure kein weiteres Album aufnehmen würden.
        Schon das vorangegangene Faith aus dem Jahr 1981 war durch Todesfälle in der Familie und im Freundes- und Bekanntenkreis der Band (die Mutter von Laurence Tollhurst erkrankte während der Tour und verstarb, ohne dass er sie noch einmal hatte sehen können) ein sehr ernstes, instrumentell reduziertes Album geworden, auf dem Songs wie The Funeral Party oder The Drowning Man eine sakrale Stimmung heraufbeschworen hatten. Nach den Aufnahmen und einer anschließenden Tour durch Europa, die am 03. Dezember 1981 im Londoner Hammersmith Odeon endete, hätten Robert Smith (Gesang und Gitarre), Simon Gallup (Bass) und Laurence Tollhurst (Schlagzeug, Keyboards) eine ausgiebige Auszeit voneinander gebraucht. Stattdessen entschied man sich, gleich zu Beginn des neuen Jahres mit der Arbeit an einem neuen Album zu beginnen und mietete sich im Londoner RAK Studio ein, und dies mit der festen Absicht, das »ultimativ intensive Album« zu machen.
   Schon bald kam es aus unterschiedlichen Gründen zu Spannungen zwischen den Bandmitgliedern. Smith warf Gallup vor, dass er nicht mit demselben Enthusiasmus wie er selbst ans Werk ginge. Ebenso wetterte Smith gegen seinen alten Schulfreund Tollhurst und erklärte, dessen Beiträge seien ungefähr so sinnvoll, »als wolle man mit einer Hand hinterm Rücken klatschen …« Massiv angefeuert wurden die Aufnahmesessions zudem durch eine enorme Menge an Pulvern, Pillen und Alkohol, was schließlich in einem bis zur Zimmerdecke reichenden Berg aus leeren Bierdosen und -flaschen in einer Ecke des Studios gipfelte.

Was nach 3 Wochen nächtlicher Arbeit herauskam, waren 8 Songs, deren Titel einer Rede am offenen Grab entnommen zu sein scheinen: One Hundred YearsA Short Term EffectThe Hanging GardenSiamese TwinsThe FigureheadA Strange DayColdPornography.
         Mit The Hanging Garden hatte Produzent Phil Thornalley (relativ jung und unerfahren und ehrlich schockiert, dass das offizielle Budget einen Posten für Kokain in Höhe von 1.600 Pfund beinhaltete …) auf Weisung von Chris Parry von Fiction Records einen der Songs soundtechnisch so aufpoliert, dass er als Single ausgekoppelt werden konnte. Insgesamt aber war und ist das Album ein Monster. Die Songs auf Pornography sind nicht kühl, sie sind kalt, bestehen aus schleppenden Gitarren, elegischen Keyboards, scheppernden Übersteuerungen und verzerrten Bandmaschinen, unterlegt von einem in den Magen schlagenden Bass sowie einem Gesang, der sich keinerlei Mühe gibt, den in ihm steckenden Weltschmerz zu verbergen.
        Erst bei mehrmaligem Hören und entsprechender Lautstärke tritt eine von Liebe umspielte Zärtlichkeit zutage, und mit ihr die Hoffnung, die aus der Ausweglosigkeit des menschlichen Seins resultierende Erkenntnis, das eigene Leben nur bis zu einem bestimmten Grad selbst bestimmen zu können, es überwinden zu können. Nur wenige Kritiker erkannten das, unter ihnen der britische Musikjournalist Dave Hill, der kurz nach der Veröffentlichung von Pornography bekannte: »However, I feel that Pornography was not designed to be objectified or probed, but taken en bloc as a very dense wash of emotional colour, portraying one soul on a leash, fighting back the panic in the dark – and, as such, it really works!«

Wie gesagt: eine Ausnahme. Größtenteils wurde Pornography in der Presse wie seine Vorgänger mit dem Attribut "depressiv" versehen – meist wurde zur Untermauerung dieser These eben jene erste Zeile des Openers One Hundred Years zitiert.
       Was damals nur wenige Kritiker bemerkten, zumindest nicht erwähnten, war die enorme Entwicklung, die die Band durchgemacht hatte. Innerhalb nur eines Jahres hatten sie die auf Faith vorherrschende Elegie in pure Energie verwandelt – heraus kam eine vernichtende, gewalttätige Abfolge aus Zweifel, Endlichkeitsbewusstsein und Aggression.

Kaum ein Cure-Song dieser Phase, der ohne die Worte face, black oder fall auskam. Viele Journalisten haben diese vermeintlich freiwillige Reduktion der Sprache bemängelt und sie als Einfallslosigkeit gegeißelt. Aber: Wie viel Zeit mag sich der durchschnittliche Musikjournalist für eine Platte nehmen, bevor er etwas über sie schreibt? Mit jedem Hören wird deutlicher, dass Smith diese Texte eben genau so schreiben musste, dass es ihm nur durch die Wiederholung der für ihn schlüssigen Wörter möglich war, die Texte und damit die Songs authentisch zu halten. Wenn es sich auch im dritten oder vierten oder fünften Song um etwas Schwarzes handelt – was dann anderes schreiben als black? Und auch die durchgängige Klangfarbe, der einheitliche Sound dieser Platte, der von einigen "Fachleuten" fälschlicherweise mit dem Begriff der Monotonie belegt bzw. mit ihr verwechselt wurde, spiegelt einzig und allein das hinter dem Album stehende System wider, wie Smith in einem Interview mit dem Record Mirror erläuterte: »I’ve always tried to make records that are of one piece, that explain a certain kind of atmosphere to the fullest. If you are gonna fully explore something, you need more than one song to do it. … I like a lot of music that is built around repetitions – Benedictine chants particularly, and Indian mantras. These musics are built around slow changes, they allow you to draw things out.«
        Es mag arg pathetisch klingen, aber der Wahrheit die Ehre: Pornography gab mir Hoffnung. Hoffnung, dass es weitergehen würde, wenn ich auch noch nicht wusste, wie. Hoffnung auch deshalb, weil es mich wissen ließ, dass ich mit meinen jugendlichen Zweifeln, Ängsten und Träumen nicht alleine war. Hoffnung auch deshalb, weil selbst der Verfasser der Songtexte die Hoffnung noch nicht aufgegeben hatte und die Platte mit

           I must fight this sickness
           Find a cure …

enden ließ, statt vom mitgeführten Strick Gebrauch zu machen ...


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Am 04. Mai 2022 jährt sich die Erstveröffentlichung von Pornography zum 40sten Male. Mein Walkman von damals ist lange schon kaputt und entsorgt, aber diesem Album hat die Zeit nichts anhaben können, es hat nichts von seiner Aktualität verloren – wie könnte es auch, war es doch bereits bei Erscheinen weit entfernt von jedweder Aktualität oder dem vorherrschenden und sich in den Charts widerspiegelnden Massengeschmack (die vorderen Plätze der deutschen Hitparade im Mai 1982: Nicole mit Ein bisschen Frieden, Trio mit Da Da Da, Hubert Kah mit seiner Rosemarie).

Im Freudentaumel des gewonnenen Grand Prix Eurovision de la Chanson und der in höchsten Wogen schwappenden NDW war an eine Chartplatzierung für Pornography in Deutschland nicht zu denken (anders in England, wo das Album immerhin bis auf Platz 8 der Charts kletterte). Der Hype, der die Band mit späteren Radio-Singles wie Lullaby oder Friday I’m In Love erreichte, war nicht einmal ansatzweise zu erahnen. Konzerte fanden noch in recht intimen Hallen wie der Herforder Scala statt.

Und heute?
Größer ist alles geworden, wie es mit steigendem Bekanntheitsgrad einer Band eben ist. Die Abstände zwischen den Alben werden immer größer, die Zeiträume zwischen den Tourneen sowieso.
Subjektiv kann ich sagen: An die Homogenität des Songwritings von Pornography ist Robert Smith nie wieder herangekommen. Deshalb jedoch zu behaupten, The Cure hätten ihre Karriere nach der Veröffentlichung von Pornography beenden und die Instrumente an den sprichwörtlichen Nagel hängen sollen, wie manche dies tun, ist ebenso ketzerisch wie falsch. Zwar konnten die seitdem veröffentlichten Studioalben der Band der Komplexität, der vor Energie strotzenden Reduktion des Pornography-Albums nicht das Wasser reichen, dennoch hat die Band auch danach noch zahlreiche Songs geschrieben, die ihr zu höchster Ehre gereichen. Die im Anschluss an Pornography eingelegte Phase mit kurz hintereinander veröffentlichten Singles, die 1983 als Patchwork-Album Japanese Whispers erschienen, bietet mit The Walk, den Lovecats und Let’s Go To Bed Perlen der Popmusik. Die 18 Songs umfassende Doppel-LP Kiss Me Kiss Me Kiss Me präsentierte vier Jahre später eine ungeahnte stilistische Vielfalt zwischen eingängigen Singles auf der einen und scharfen Gitarrenstücken und orientalischen Sprengseln auf der anderen Seite. 1989 dann das großartige Disintegration, ein Album, welches Gitarrenteppiche epischen Ausmaßes in den Vordergrund knüpfte und noch heute, 33 Jahre nach seiner Veröffentlichung, zurecht die Playlist eines jeden Cure-Konzerts dominiert. 2000 mit Bloodflowers ein Album, das gänzlich auf Videos und Singles (und damit auf Radio-Airplay) verzichtete und neun längere Gitarrenschwermüter kredenzte.

»Hörst du, Schatz? Sie spielen unser Lied!« Viele Paare haben ein Lied, ihr Lied, bei dem sie sich kennengelernt haben; das Lied, das damals im Radio lief, als er ihr bei der Autopanne geholfen hat. Vielleicht lief es auch, als sie sich nach monatelangem Anschmachten in der Diskothek vor der Männertoilette in die Arme gesunken sind.
        Ich habe kein Lied – ich habe ein ganzes Album. Und ich habe seinem Schöpfer zu danken. Und Nicole aus der 7c.


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