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Tania Rupel Tera: die leere Stelle

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Tania Rupel Tera
die leere Stelle


Einmal nahm mich Mama hoch, um mich zu beruhigen, sie hüpfte durch die Küche kreuz und quer, und ich sah etwas, das meine Aufmerksamkeit erweckte. Da standen wir, ich klopfte auf sein Gesicht, Mama machte ihr Eselgeräusch und übergab mich blitzschnell in Papas Händen. Dann sagte er jene Worte zu mir, die unvergesslich bleiben sollten: Mein Kind, das ist Onkelchen Lenin.

Vor meinen Augen - das lächelnde Gesicht mit Bärtchen, die typische Hand zur Begrüßung, in meinen Ohren - die Stimme vom Papa. Er hat mit solch einer Wärme erzählt, dass ich gleich Vertrauen schöpfte. Zu mir durchdrang der Kern der Botschaft, sowieso habe ich längst bemerkt - von den Wänden gucken eingefrorene Gesichter, die ich kenne. So wurde mir bewusst: Aha, Onkelchen ist auch Familie. Gleich da, vor dem kleinen, schwarz-weißen Foto, habe ich ihn in mein Herz geschlossen. Vaters Worte waren sicher in der Richtung gewesen: Er ist ein Guter, er liebt die Menschen, besonders die Armen; die Gerechtigkeit; er hat die Welt zum Besseren verändert, bla, bla. Bald änderte sich die Lage zu Hause. Vater fing an, sehr oft mit Opa zu streiten, er glaubte nicht mehr an Onkelchen, war irgendwie böse, traurig. Eines Tages hat er sogar das Foto entfernt und nie mehr über ihm gesprochen. Aber das kam später. In jener noch ruhigen Stunde wurde in mein junges Hirn gepflanzt: Lenin ist dein Onkel.

Lustigerweise passierte es fast genauso einmal im Haus meiner Großeltern mütterlicherseits. Oma pendelte mit mir auf dem Arm, hin und her, das Karussell drehte sich wieder. Dort war alles noch anziehender, unerforschter, denn wir waren selten im Dorf. Opa und Oma hatten wenig Zeit, sie waren Bauer, schufteten hart für ihr Brot. Als Kind musste man heulen, um ein bisschen Zärtlichkeit von Oma zu bekommen. Sie nahm mich hoch, ich sah ein Bild an der Wand - besonders bunt, glänzend, hatte meine Hand ausgestreckt und Großmutter fing an, zu erzählen.

Meine Kleine, sagte sie, das ist eine Ikone – die Mutter Gottes mit dem Jesuskind. Diese Figur auf dem Schrank ist auch er, aber schon als Erwachsener. Für dich ist es früh die ganze Geschichte zu erfahren, jedoch musst du das Wichtigste wissen. Er ist der Beste auf dieser Welt. Er liebt alle Menschen, für ihn sind alle gleich, für uns alle hat er sich geopfert. So ähnlich waren ihre Worte, sie war tiefgläubig, Kommunismus und Partei existierten für sie nicht. Ich habe sie dann wirklich sauer gemacht, hab ihr blitzschnell widersprochen. Man kann sich selber ausmalen - ein kleines Kind schüttelt den Kopf: Nee, ne, Omi, Onkelchen Lenin ist der Beste, nicht dieser … Um ein Haar hätte sie mich fallen gelassen.

Sie stand kurz sprachlos im Raum, danach machte sie das Eselgeräusch und schon war´s entschieden. Noch bei diesem Besuch sind wir, ich und meine Schwester, heimlich in der Dorfkirche getauft worden. Mama hat eine Urkunde mit Datum bekommen. Tja, soviel zu den Äußerlichkeiten. Alles andere blieb jahrelang in mir drin. Jene Zerrissenheit zwischen den beiden Onkels, zwischen Partei und Gott, Mama und Papa, meinem späteren Streben nach Glauben und Zuversicht und den hartnäckigen Zweifeln. Aber das alles kam erst später.

Inzwischen sind wir umgezogen, wohnten in der Hauptstadt, dort schrumpfte für mich die Familie endgültig. Ich verlor meinen ersten, den besten Onkel dieser Welt. In der Schule, wahrscheinlich als Zweit- oder Drittklässlerin, entdeckte ich in einem Zimmer das Porträt von Onkel. Unwillkürlich schrie ich vor Freude. Was folgte ... ah, jetzt ist es lustig, einst tat es sehr weh. Die Scham bei der Blamage war beißend, in einer Klasse, in der du neu bist und jeder wusste, du kommst aus der tiefen Provinz, aii, aii. Dank dieses verflixten Halbwissens hatte ich eine Weile solchen Kummer. Aktuell würde man sagen: Ich bin Opfer von Fake News geworden, und zwar vom eigenen Vater verbreitet.

Meine Güte, wie haben wir später gestritten! In meiner Rebellionsphase habe ich ihn damit konfrontiert - wie konnte er so einen Blödsinn seiner kleinen Tochter auftischen! Lenin war mein erster „falscher“ Mann sozusagen. Wegen dieser unechten Verwandtschaft habe ich später nie ein Foto oder Plakat an die Wand geklebt. Diese blöde Geschichte hat meine Existenz geprägt, in meiner unbewussten Tiefe. Als Jugendliche hatte ich keine eigenen Idole mehr, keine Sänger, Poeten oder Gruppen. Ich habe einige sehr gemocht, dennoch mit einer Vorsicht! im Hinterkopf. Hatte Angst, enttäuscht zu werden, konnte mich nicht wirklich verlieben. Aber das kam noch später.

Damals als kleines Kind begann ich heimlich zu beten, denn ich wollte die ganze Familie in Harmonie wissen, konnte mich nicht für eine Seite entscheiden. So, dachte ich, wenn uns etwas drohte, musste ich handeln. Ich hatte das Gefühl, es klappt schon, es war eine Magie. Übrigens häuften sich langsam auch meine eigenen Probleme, für die ich beten wollte.

An einen bestimmten Tag erinnere ich mich gut. Ich wünschte mir ein Geschenk, schlich mich in die Küche und fing an mit den Kreuzzeichen. Ich versuchte sie genauso zu machen wie meine Großmutter vom Dorf. Für mich war es schon zur Routine geworden, diesmal hatte mich aber das Glück verlassen. Auf einmal schrie Opa: Was macht das dumme Kind da? Was soll das? Er war im Schock, ich auch, ich zitterte vor seiner Stimme in meinem Rücken. Alle daheim rannten zum Tatort. Mein Körper vibrierte, trotzdem hielt ich weiter die Hände zum Gebet und schaute voller Hoffnung zu Onkelchen Lenin. Nun betete ich für meine Rettung. Dann hörte ich Papa: Meine Güte, du betest zu ihm! Er begann zu lachen. Sein Vater fand es überhaupt nicht lustig. Ich war so unglücklich, dass ich schon murmelte: Lieber Gott, lass Opa mich lieben, lass Papa mir nicht böse sein! Bitte, lieber Gott … Mama machte den Esel nach und nahm mich an die Hand.

Nach einigen Tagen konnte ich nicht anders, habe wieder angefangen. Zwischendurch hat Mama mich beruhigt, dass es nicht so schlimm sei. Dennoch, betonte sie, besser nie draußen die Kreuzzeichen zu machen und niemandem erzählen, dass ich getauft bin. Meine Schwester machte sich über mich lustig, ich hörte einfach nicht auf. Ab und zu tat ich es innerlich, ab und an am Fenster, trotz Verbot sogar draußen im Hof. Mir fehlte aber das sympathische Lächeln von Onkelchen. Ich hatte mich daran gewöhnt, ihn zu sehen, wenn ich mir etwas wünschte. Einmal habe ich es im Haus meiner christlichen Oma versucht. Dort hat mir niemand was Böses gesagt. Ich ging gezielt vorbei an jener Figur, an den Ikonen, schaute kurz, machte drei Mal die Kreuzzeichen, beugte den Kopf, trotzdem hatte ich vor Augen den anderen Onkel. Denn jener, mit seinen ausgestreckten Händen, mit seinem nackten Körper, hängend wie in der Luft, machte mir doch Angst. Oma sagte, für mich wäre es besser, ich wende mich an die Gottesmutter. Ich tat es, und wieder sah ich nur das Ziegenbärtchen und die Ballonmütze vor mir.

Ach, es war wie verhext. Mittlerweile gab es das Foto nicht mehr, an der Stelle - nur ein kleines Rechteck, gezeichnet mit einem dünnen, dunklen Strich. Ich ging weiter dorthin, beugte nicht mehr meinen Kopf, schaute ruhig, andauernd, wie durch ein Fenster. Manchmal hatte ich das Gefühl, ich entdecke da etwas und flüsterte meine sehnsüchtige Kinderworte. Hin und wieder merkte ich, dass Mama oder Papa mich dabei ertappten. Sie schwiegen aber, taten so, als ob sie nichts gesehen hatten. Und allmählich vergaß ich das Onkelchen, ich vergaß die traurige Mutter mit ihrem leidenden Sohn. Ich schaute und schaute, und diese leere Stelle, die ein wenig heller war, sie verwandelte sich in eine richtige, in meine eigene Ikone.


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