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Tadeusz Dabrowski: Wenn die Welt schläft

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Monika Vasik

Tadeusz Dabrowski: Wenn die Welt schläft. Gedichte 2015-2021. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Frankfurt a.M. (Schöffling & Co.) 2022. 104 Seiten. 22,00 Euro.

„Ohnehin wird sich alles in Erzählung verwandeln“


Jedes Jahr werden zum Welttag der Poesie am 21.März die „Lyrikempfehlungen“ veröffentlicht, um die Stimmenvielfalt der Poesie und die Gedichtbandproduktion des vergangenen Jahres ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken. Spannend, gelegentlich vorhersehbar, ist jedes Jahr, welche Lyriker*innen mit ihren aktuellen Büchern gelistet werden, weil es in der Natur einer Auswahl liegt, dass Lyrikbände, die man selbst für lesenswert hält, nicht auf der Liste zu finden sind. Zugleich bietet diese Liste eine Chance, von Büchern zu erfahren, die bisher unter der eigenen Wahrnehmungsschwelle blieben.
            Tadeusz Dąbrowski war vor wenigen Monaten für mich solch ein neuer Name. Der 1979 geborene Lyriker und Essayist zählt heute zu den bedeutendsten poetischen Stimmen Polens. Er wurde früh von Tadeusz Różewitz gefördert, auf dessen Empfehlung er 2006 den Preis der polnischen Kulturstiftung erhielt, und er zeigt nicht nur durch Widmungen im aktuellen Lyrikband seine Verbundenheit mit polnischen Schriftstellern wie Zbigniew Herbert, Adam Zagajewski oder Wacław Tkaczuk. Bislang sind von ihm ein Roman und zwei Gedichtbände ins Deutsche übertragen worden. Einer dieser beiden, Die Bäume spielen Wald (Edition Lyrikkabinett), eine Auswahl von Gedichten der Jahre 2005 bis 2014, stand im Jahr 2015 ebenfalls auf der Liste der Lyrikempfehlungen.
          Wenn die Welt schläft wurde von Renate Schmidgall aus dem Polnischen übersetzt. Es ist wieder ein Auswahlband und enthält Gedichte der Jahre 2015-2021. Die Texte wurden den 2016 bzw. 2020 in Polen veröffentlichten Lyrikbänden Ausdrucksmitte(l) und Scrabble entnommen, ergänzt durch einige neue Gedichte, entstanden 2020-2021. Gern hätte ich etwas über die Auswahlkriterien erfahren, doch im Buch und auf der Verlagshomepage fehlen diesbezügliche Hinweise.

Die Texte sind inhaltlich heterogen, doch lassen sich Themenfelder abgrenzen. Mal verdichtet Dąbrowski Szenen und Reisen in Polen, mal sein Schweifen in die Ferne, etwa nach Sarajevo, in die Schweiz, nach Deutschland und Amerika, mal Reisen mit dem Wort und ins Gedicht. Er arbeitet sich an katholischen Prägungen ab, umkreist die Themen Sterben, Verschwinden und Tod, etwa jenen seines Vaters. Daneben gibt es „Liebesgezwitscher“, wie es in einem Gedicht heißt, dem Begierde und Enttäuschung inhärent sind. Und es gibt „das ganze Gestammel der Welt“, an dem sich die Verse reiben. Auf-fallend ist, dass etliche Texte Momentaufnahmen gleichen, ähnlich Fotografien oder gemalten Bildern. Es ist die Ästhetik von Oberflächen, zweidimensional, oft derart dicht gepackt, dass kaum Raum für Reflexion, ein Zwischen oder für den Blick in die Tiefe bleibt. Andere Gedichte ähneln kurzen filmischen Sequenzen oder sind kleine Erzählungen in nüchternem Tonfall, etwa das Gedicht „Beischläge“, das in 19 Versen beiläufig das kurze Leben eines Mädchens von deren Zeugung bis zu ihrer Vergewaltigung und Ermordung streift. Die Datierung „Danzig 2015“ legt nahe, dass dieser journalistisch anmutende Text mit poetischen Einsprengseln sich auf einen realen Kriminalfall bezieht.

Die Gedichte des Bands sind nahe am alltäglichen Sprechen, meist freirhythmisch und ungereimt, mal absatzlos, mal in Strophen gegliedert. Die Längen der Verszeilen variieren stark. Zudem spielt Dąbrowski gern mit Enjambements. In vielen Texten spricht ein lyrisches Ich, von dem sich vermuten lässt, es steht in großer Nähe zum Autor. Auch ein „du“ wird angesprochen, eine Frau oder das eigene Selbst. Im letzten Gedicht des Bandes mit dem Titel „Komet“ heißt es über die Geburt des Dichters, dass

„auch ich mich eines Tages konkretisiert habe,
genau vor 42 Jahren, wie ein Komet am Himmel,

von dem sich alle Augenblicke
kleine und große Phrasen lösen.“

Damit ist schon ein Problem benannt, das ich mit diesem Buch habe. Es gibt zweifellos gute und einige sehr gute Gedichte in diesem Band. Doch hier spricht ein Komet, der gern abgegriffene Klischees, Phrasen und Allgemeinplätze einsetzt.

„Die Grenze zwischen einem
würdigen Menschen und einem Lumpen
ist hauchdünn“

Seltene Reimereien wie „Bei Renoir stolpere ich / übers Trottoir, bei Miró muss ich aufs Klo, bei Matisse vermiss ich dich“ sind vielleicht witzig gemeint, doch ich finde sie platt. Erstaunlich auch, wie wenig reflektiert das Gedicht Zürich „Zum Storchen“ des Paul Celan (ich verdanke diesen Hinweis Alexandru Bulucz) von Dąbrowski für ein eigenes Gedicht benutzt wird. Zudem kreisen zu viele Gedichte um das Thema Männlichkeit. Das kann man mögen, ich mag es nicht. Lesend stolpere ich über Allmachtsperspektiven und Männerträume, die an der Verfügbarkeit jener Frauen festhalten, aus deren Mund Sätze fließen wie „Du kannst mich nehmen, wann du willst“. Oder Vergleiche anstellen, dass Dichtung zum Leben gebraucht wird „wie eine hübsche Fixerin, die du / gerne bumsen würdest“. Und es gibt Triggersätze, die ich nicht mehr hören kann und will, etwa

„ich werde dich kitzeln in dem Städtchen unter der Narbe (dort mache ich dir ein Kind)“

Hier gibt es kein „wir“ eines Paares, sondern die Gottähnlichkeit eines Mannes, der einer Frau ein Kind macht. Man könnte nun dieses Bild von Männlichkeit mit familiären und religiösen Prägungen erklären und mit der großen Bedeutung der katholischen Kirche in Polen. Allerdings ist „ich mach dir ein Kind“ auch eine Drohung, ruft Erinnerungen an erzählte und erlebte verbale sexuelle Belästigungen wach und an ein toxisches männliches Selbstverständnis. Es ist vermutlich einer der am häufigsten Frauen entgegengeschleuderte oder hinterhergerufene Satz, meist verbunden mit zotigen Anreden, herabwürdigenden Gesten und Geräuschen. Tagsüber wird solch ein Satz als übergriffig erlebt, spätabends oder nachts wird er zur Bedrohung, dann nämlich, „wenn die Welt schläft“ und damit auch jene Menschen, die einer Frau zu Hilfe kommen könnten. Mir reicht die Realität, ich möchte solche Sätze nicht auch noch in einem Buch lesen müssen. Kann sein, ich bin einfach nicht die richtige Zielgruppe! Gedichte wie das folgende bestätigen nur meine Vorbehalte:

Schuhe

»Ich muss sie zum Schuster bringen,
es ist nur die Ferse
etwas abgenutzt«,

sagt meine Mutter und hält in der Hand
meine Winterschuhe
aus der Zeit, als ich eine Ehefrau hatte.


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