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Steven Uhly: Zurück

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Steven Uhly

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Mein Vater war ein sehr gerechter Mann, er behandelte meine Schwester und mich vollkommen gleich. Er liebte uns aus seinem Hochstand heraus, während wir unten grasten und blökten. Er behielt uns im Auge, und gleichzeitig schweifte sein Blick über die Wipfel unseres kollektiven Bewusstseins, immer auf der Suche nach Wild. Seine Schrotflinte war die Wut, mit der er alle gleich traf. Das Wild war die Obsession meines Vaters, in seiner Zivilisation durfte es so etwas nicht geben. Ich habe lange gebraucht, bis ich das Wild sah, das mein Vater jagte. Es war alles, was plötzlich auftrat und ebenso plötzlich wieder verschwinden konnte. Ich konnte nicht morgen mit einem Mal etwas anderes wollen als heute, das war nicht erlaubt, denn der Mensch meines Vaters ist nicht so. Als ich fünf Jahre alt war, fragte er mich, ob ich das Schachspiel erlernen wolle. In meiner Naivität wollte ich. Er machte aus meinem Leben einen Intensivkurs, und erst, als mir nach mehreren Monaten ein Remis gelang, ließ er mich in Ruhe. Seitdem haben wir nie wieder Schach miteinander gespielt.
         Meiner Schwester erging es nicht anders. Kinder waren für unseren Vater immer Jungen, auch wenn sie Mädchen waren. Meine Schwester entwickelte früh ein untrügliches Gespür für schöne Dinge, schöne Kleider, schöne Schuhe, schöne Puppen, schöne Autos, schöne Männer. Aber da sie theoretisch ein Junge war, gab es nichts dergleichen für sie. Doch meine Schwester war klüger als ich, sie machte sich früh selbständig und verschaffte sich ihre Genüsse, ohne zu fragen. Ich habe bis heute nicht verstanden, wie es ihr gelang, sich so früh Respekt bei meinem Vater zu verschaffen, vielleicht hing es mit ihrer Altklugheit zusammen, die so vollkommen war, dass meine Eltern in ihr ein sehr frühreifes Kind sahen. Gleichaltrige haben sie nie interessiert, es wird wohl auch nicht mehr geschehen. Ich bin zwei Jahre jünger als sie und bis heute nicht aus dem Bann ihrer Verachtung für Kleinere herausgekommen. Natürlich liebt sie mich, glaube ich. Aber ihre Liebe hat etwas Herablassendes, als wäre sie meine Mutter, die mir nichts Rechtes zutraut, und nicht eine Schwester, wie ich sie mir immer gewünscht hätte, liebevoll und kameradschaftlich. Ihre Imitation meiner Mutter geht soweit, dass sie offen behauptet, eigentlich habe sie mich erzogen, da unsere Mutter immer viel zu sehr damit beschäftigt gewesen sei, auf die Wünsche unseres Vaters einzugehen. Ich weiß nicht, wieviel Wahres daran ist, das eine oder andere mag ich durch sie gelernt haben, doch es gibt nur eines, das wirklich wichtig war: Ich wollte nie so affektiert werden wie sie, ich wollte nie irgend jemanden nachahmen, weil es eine Lüge war. Im Gegensatz zu meinen Eltern habe ich ihr die Frühreife nicht abgenommen, sie war für mich immer nur ein kleines Mädchen, das in viel zu großen Schuhen durch das Leben läuft. Aber was unsere Mutter angeht, hatte sie Recht. Sie lebte wirklich in einer bedauernswerten und für uns oftmals frustrierenden Hingabe an alle Verrücktheiten unseres Vaters. Sie unterbrach alles, was sie mit ihren Kindern tat, wenn mein Vater rief. Aus dem einzigen Urlaub, den wir ohne ihn machten, weil er beschlossen hatte, die Zeit mit seinen Freunden zu verbringen, mussten wir früher zurückkehren, weil er sich mit Ari, seinem besten Freund, fürchterlich zerstritten hatte. Wir erfuhren lange nicht, was geschehen war, Ari verschwand aus unserem Leben. Viele Jahre später traf ich ihn durch Zufall, als ich meinen Militärdienst beendet hatte und begann, Philosophie zu studieren. Er war aus der Stadt gezogen, weil mein Vater ihm damit gedroht hatte, seinen Ruf zu zerstören, falls er es nicht täte. Ari hatte es nach vielen Jahren der Freundschaft gewagt, meinem Vater seinen Geliebten vorzustellen, beim Kegeln in der Altstadt von Jaffa. Der Wutanfall meines Vaters muss so plötzlich und gewaltig gewesen sein, dass ich froh bin, niemals Ähnliches erlebt zu haben. Ari wirkte auch nach vielen Jahren noch bitter und enttäuscht.
         Ich selbst lernte früh, mich zu verbiegen, während meine Schwester ihn ganz einfach genauso anhimmelte wie unsere Mutter. Die beiden hatten es leicht, mein Vater war ein sehr attraktiver Mann, er hatte jene hochgewachsene, schlanke Stämmigkeit, die allen Bewegungen eine ruhige Kraft verleiht. Wäre er nicht so cholerisch gewesen, auch ich hätte ihn geliebt. Aber ich hatte zuviel Angst vor ihm. Seine Männlichkeit war so intensiv, sein Bewusstsein dieser Männlichkeit so vollkommen, dass er vermutlich jedes andere männliche Wesen als Rivalen ansah. Der Tag, an dem ich feststellte, dass unser Vater regelmäßig in Bordelle ging, war weniger ein Schock als eine Bestätigung dafür, dass wir ihm niemals würden genügen können. Und dieses Gefühl war sehr seltsam, ich wurde den Eindruck nicht mehr los, dass er uns alle von hinten nehmen würde, wenn er es nur wollte.
       Natürlich schwankte ich später immer zwischen Mädchen und dominanten Frauen, natürlich änderte sich nichts daran, als es mir bewusst wurde, natürlich gebe ich die Hoffnung nicht auf, eines Tages die wahre Liebe zu finden. Meine Schwester hatte nur Supermänner, die bereits bewiesen hatten, was in ihnen steckte. In der Schule waren es Sportlehrer und später Triathleten in der Spitzenforschung und andere Überflieger, alle mindestens zwanzig Jahre älter als sie. Als Dreizehnjährige verliebte sie sich in einen Geigen-Virtuosen, der fast vierzig Jahre alt war. Er spielte die erste Geige im städtischen Symphonieorchester und ging eine Zeitlang bei uns ein und aus, weil meine Mutter viel von hoher Kultur hielt. Nach seinem dritten Besuch verkündete meine Schwester, sie wolle Geige lernen. Sie nahm Unterricht und wurde vom Virtuosen entjungfert, was ihre Verachtung für mich und meine Freunde noch steigerte. Der Virtuose kam ein halbes Jahr lang, danach verschwand er aus unserem Leben, und meine Schwester begann, intensiv Sport zu treiben.
         Ihre Affären taten ihrer Liebe zu unserem Vater keinen Abbruch, im Gegenteil, es war, als färbe jede neue unmittelbar auf ihn ab, weil er der Größte von allen Männern war, obwohl er nie Sport getrieben hatte, nicht ein einziges Musikinstrument spielte und auch sonst keine Spezialität hatte. Er beschränkte sich darauf, seine Kontakte zu nutzen, Planspiele auf höchster Ebene zu veranstalten, sich von dunklen Limousinen abholen zu lassen, wenn jemand mit Verbindungen ins Ausland gebraucht wurde. Wenn er nichts zu tun hatte, saß er oft stundenlang im Wohnzimmer und hörte Nachrichtensendungen aus aller Welt, ohne eine Regung zu zeigen.
         Meine Mutter war ganz das Gegenteil, sie interessierte sich für viele Dinge, las gern und liebte ausgedehnte Spaziergänge, zu denen sie ihn gelegentlich überreden konnte. Sie war für die sonntäglichen Hauskonzerte zuständig, die sie allein am Klavier und später gemeinsam mit meiner Schwester bestritt. Es gab nur klassische Musik, und eigentlich nur deutsche Musik. Damit zermürbte mein Vater einen verfeindeten Nachbarn, der in Auschwitz gewesen war. Für unsere Mutter war alles eine Frage des Rechtes, sie hatte das Recht, das zu spielen, was sie wollte und fühlte sich von unserem Vater beschützt. Alles begann eigentlich ganz harmlos, der Nachbar zog ein, als ich neun Jahre alt war, damals spielte meine Mutter nur gelegentlich deutsche Musik. Als der Nachbar das erste Mal Brahms durch die Wände hörte, war er empört. In seiner Unwissenheit griff er meinen Vater öffentlich an, es fehle ihm an Taktgefühl, eine solche Person könne unmöglich der Mietgemeinschaft vorstehen. Seitdem gab es so lange deutsche Musik, bis der Nachbar wieder auszog. Und dann blieb es bei deutscher Musik, eigentlich weiß niemand genau, warum, aber ich glaube, sie gefiel meinen Eltern, nachdem sie ihre Vorurteile abgelegt hatten. Mein Vater lebte in dem Glauben, er würde den Nazis noch im Nachhinein den Sieg über ihn schenken, wenn er ihnen auch nur die kleinste Wirkung auf sein Innenleben zugestand. Er hatte sich eine bis an die Liebe bewaffnete Normalität erbaut, die nur er selbst wieder hätte einreißen können. Es gab keine Chance für uns, ihm jemals näher zu rücken. Die Frauen flohen in die Anbetung, ich verkroch mich in meiner eigenen Nichtigkeit. Der Tag, an dem ich mein Philosophiestudium abbrach, war vielleicht der schlimmste in meinem Leben. Mein Vater setzte seine Verachtung mit der Präzision eines Skalpells an meine Selbstliebe. Er hörte auf, mit mir zu sprechen, wenn er das Wort an mich richtete, dann nur, um Befehle zu erteilen. Ich hatte seinem spinozistischen Ideal nicht genügt, obwohl mein Studienabbruch genau in dem Augenblick geschah, als mir klar wurde, dass meine Gefangenschaft im Großen und meine Verlorenheit im Kleinen nichts anderes waren als ein verborgenes Erbe meines Vaters.
         Als ich seine allzu hohe Liebe enttäuscht hatte, begann für mich ein anderes Leben. Meine Mutter entließ mich aus ihrem Schoß, meine Schwester aus ihrem Spott. Unsere Beziehung kühlte ab, ich ging nach Europa, nach Dänemark, dem einzigen Land, für das mein Vater ein Flugticket kaufen wollte, obwohl er betonte, es habe nichts mit den Dänen zu tun. Wenn die Nazis einen Einfluss auf ihn gehabt haben, dann den, dass niemand einen Einfluss auf ihn haben durfte, auch nicht die Dänen. Ich wusste natürlich nicht, was ich in Dänemark tun sollte, ich kannte das Land nicht, Dänemark war nichts anderes als eine der wenigen versöhnlichen Referenzen in der jüngeren Geschichte Europas, und selbst das hatte etwas Legendäres, Mythenhaftes. Das Einzige, was ich gelernt hatte, war das Uhrmacherhandwerk, es hatte mich meine ganze Jugend gekostet. Während die anderen draußen Fußball spielten, hockte ich beim alten Daniel zwei Häuserblocks von zu Hause entfernt an der Werkbank über Kleinstmechanismen gebeugt. Mein Vater war erst zufrieden, als ich den gleichen Rundrücken hatte wie Daniel. Immerhin brauchte man keine Sprachkenntnisse, um Uhren zu bauen, und so flog ich im Winter 72 nach Kopenhagen, ohne zu wissen, was auf mich zukam und mit dem elenden Gefühl, meine Heimat zu verlieren. Die Kälte und die zurückhaltende Mentalität der Menschen, die fremde Architektur, die breiten Straßen, auf denen ich mich schutzlos fühlte, die eigenartige Sprache, die ich nicht lernen konnte oder wollte, alles machte mir Angst in Kopenhagen. Ich lebte wie ein aufgescheuchtes Reh in der Stadt, und versuchte gleichzeitig, eine dänische Normalität zu entwickeln. In einem kleinen Betrieb fand ich eine Anstellung als Uhrmacher. Im Laufe der nächsten Monate schlug ich einige Verbesserungen vor, die bald ihre Wirkung entfalteten. Unsere Uhren kamen in Mode, der Betrieb begann zu wachsen und ich wurde nach einem Jahr zum Geschäftspartner gemacht. Bjorn hatte den Betrieb von seinem Vater übernommen, ich fand nie heraus, ob er seine Arbeit gern machte oder nicht. Er war zehn Jahre älter als ich, aber seine jungenhafte Art täuschte darüber hinweg. In seiner anti-autoritären Art war er schon häufig von Mitarbeitern ausgenutzt worden, und war deshalb froh, den praktischen Teil der Verantwortung an mich abtreten zu können.
         Das Bewusstsein, die Geschicke des Unternehmens zu leiten und sein eigentlicher Motor zu sein, entblößte einen Instinkt in mir, der mich endlich das Wild sehen ließ, vor dem mein Vater sich so gefürchtet hatte, und vor dem ich mich nun auch fürchtete. Ich legte mir einen Kommandoton zu und wunderte mich, warum die Arbeiter ihre Gespräche einstellten, wenn ich in die Nähe kam. Ich arbeitete selbst Tag und Nacht und trieb die anderen unentwegt an. Als ich Agneta kennen lernte, lebte ich zwischen manischer Arbeitswut und depressiven Wochenenden. Oder ich fuhr nach Christiania, um mich dort zu bekiffen. Agneta war in Antwerpen geboren, aber ihre Eltern hatten Belgien nach der Gründung der Europäischen Gemeinschaft verlassen und waren nach Kopenhagen gekommen. Ihr Vater war auf undurchsichtige Weise reich geworden, seine Familie hatte Ausläufer in Südafrika, aber er behauptete, mit Diamanten habe er nichts zu tun. Mir waren ihre Eltern gleichgültig. Agnetas Mutter war vollkommen grau, zumindest löste sie bei unserer einzigen Begegnung ein graues Gefühl in mir aus. Agneta war das genaue Gegenteil, sie strahlte von innen heraus, ihre braune Haut glänzte und ihre Augen sandten ein helles, intelligentes Licht aus. Sie lebte in Christiania aus Überzeugung und mit Billigung ihres betont liberalen Vaters, der sie manchmal dort besuchte.
         Eines Tages “stellte” sie mich. Sie musste mich seit längerem beobachtet haben, denn sie warf mir Opportunismus vor, und ich war so breit und sie so schön, dass ich ihr Recht gab und sie anlächelte. Sie ging wütend davon und ich versank in eine jähe Depression. Aber am darauf folgenden Wochenende fuhr ich wieder auf die Insel und setzte mich wieder an dieselbe Stelle. Es gab dort ein Kulturzentrum, wo Konzerte stattfanden und wo man in Ruhe gelassen wurde. Ich wusste nicht, dass Agneta eine der Organisatorinnen war, und ich kannte die Regeln von Christiania nicht. Für mich war es ein exotischer Ort, an dem alles wild und zugleich gut war. Eine Art Kurort mit anästhesierender Wirkung. Agneta stand an der seitlichen Theke, während vorne eine junge Isländerin seltsam verschlungene Stücke spielte und mit einer Stimme sang, die klang, als wäre sie ihr selbst fremd. Wenn sie nicht sang, sah sie aus, als lausche sie ihren verflogenen Lauten nach. Agneta hatte eine ganze Weile wie berauscht dagestanden und zugeschaut, was in mir eine brennende Eifersucht auf die Isländerin auslöste. Als sie mich endlich bemerkte, gelang es mir, so zu tun, als hätte ich sie noch nicht gesehen, obwohl ich mich gleichzeitig für mein kindisches Verhalten verachtete. Ich wollte wohl gefunden werden, um mich nicht mehr verloren zu fühlen, und sie fand mich. Sie kam auf mich zu und lächelte zu meiner Überraschung ein offenes freundliches Lächeln. Ich hielt ihre forsche Art für eine überlegene Strategie und wurde nervös. Ich täuschte mich, aber das sollte ich erst viel später erkennen, als es zu spät war. Ich verspürte das dringende Bedürfnis, sie zu beleidigen, aber ich wagte es nicht, weil sie vollkommen freundlich war. Sie entschuldigte sich sogar für ihren wütenden Abgang bei unserer ersten Begegnung. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, ich hielt meine eigene Reaktion für so hündisch, dass ich ihre Wut geradezu selbst verspürt hatte. Wir plauderten ein wenig, aus irgend einem mir rätselhaften Grund fasste Agneta sofort Vertrauen zu mir und erzählte mir recht viel über sich und ihre Familie. So erfuhr ich, dass sie nicht lesbisch war, wie ich bereits befürchtet hatte, sondern verliebt in einen der wichtigen Männer der Freien Republik Christiania. Er war nicht viel älter als sie, aber er liebte eine andere. Ich wollte nichts davon hören, ich wollte, dass sie mich liebt, und sie liebte mich sehr bald, denn sie nahm mich mit zu ihrem Häuschen, wo sie zusammen mit vier anderen Männern und Frauen lebte, und machte Dinge mit mir, die mir filmreif erschienen.
     Ich hatte bald einen festen Platz in Agnetas Alltagsökonomie: Sie himmelte ihren anarchistischen Prinzen an und ich war das Double im Bett. Damit waren ihre akuten Probleme gelöst und meine begannen. Natürlich konnte ich mich nicht damit anfreunden, nicht der Mittelpunkt ihres Lebens zu sein. Heute denke ich, dass kein Mann es je hätte sein können, und dass sie sich aus praktischen Gründen in einen Unerreichbaren verliebt hatte. Damals verstand ich davon nichts und lief Sturm gegen ihren Säulenheiligen. Das brachte mir Spott ein, den ich nicht mehr los wurde. Als es mir also endlich gelungen war, wenigstens für meine Schwester einen Ersatz zu finden, begann die berufliche Krise. Bjorn verlor nach und nach die Kontrolle über sich und gab das Geld mit beiden Händen aus. Wir hatten nie eine vertragliche Übereinkunft getroffen, obwohl wir es immer vorhatten. Das heißt, ich hatte es vor, Bjorn hatte eine Allergie gegen alles, was ihn zu sehr einengte. Das rächte sich, als er so hohe Spielschulden machte, dass er seinen Teil des Unternehmens verkaufen musste. Ich hatte nicht genug Geld, ihm den Betrag zu geben, den er brauchte, und er wollte seinen Anteil nicht splitten. Der neue Besitzer hatte deshalb genau so viel Macht im Betrieb wie ich. Es war ein abgebrühter, braun gebrannter Sonnyboy mit reichem Hintergrund, der mich vom ersten Tag an vor sich her trieb. Er traf Entscheidungen, ohne mich zu fragen, er entließ Mitarbeiter, denen ich vertraute, griff mich vor der Belegschaft an und isolierte mich nach und nach. Ich sah in ihm sehr bald die jugendliche Version meines Vaters und verfiel in eine wochenlange Depression, der ich nur mit starken Medikamenten beikam.
         In dieser Zeit hatte ich kaum Kontakt zu meiner Familie. Aus spärlichen Telefonaten mit meiner Mutter erfuhr ich, dass unser Vater einen leichten Herzinfarkt während eines Hauskonzertes erlitten hatte. Er hatte drei Tage in einem Krankenhaus gelegen und war dann auf eigene Verantwortung entlassen worden. Ich konnte mir vorstellen, wie das abgelaufen war. In seiner Einflussangst hatte er vermutlich nicht einmal eine Beruhigungsspritze zugelassen. Meine Mutter schien sich keine Sorgen zu machen, sie glaubte fest daran, dass mein Vater besser als jeder Arzt wusste, wann er was brauchte. Ich selbst verspürte nicht die geringste Sorge um meinen Vater, es erschien mir geradezu widernatürlich, dass er sterblich sein sollte oder auch nur Schwäche zeigen könnte. Meine Schwester hatte unmittelbar nach meiner Abreise einen hochdekorierten General geheiratet und war im achten Monat schwanger. Sein Name war mir aus dem Geschichtsunterricht geläufig, er hatte irgend etwas mit dem Untergrund in den Jahren vor der Staatsgründung zu tun. Es interessierte mich nicht weiter, es gab ja auch eigentlich keine Neuigkeiten.
         Agneta beherrschte mein Leben durch ihre Distanz, Lars, mein neuer Geschäftspartner, indem er mir auf den Leib rückte. Ich fand allmählich heraus, dass er unseren Betrieb als Umschlagplatz für  Informationen benutzte, die er in den Uhren versteckte. Als ich ihn zur Rede stellte, drohte er mir ganz offen und stieg mit spöttischem Lächeln in seine schwarze Limousine. Ich ertrug meine Lage ein weiteres Jahr, dann machten meine Nerven nicht mehr mit, ich bekam Rückenschmerzen und eine Stauballergie, schlief schlecht und hatte unentwegt Durchfall. Ich trat Lars meinen Anteil für einen lächerlichen Betrag ab und machte mich selbständig. Die zweistöckige Wohnung mitten im Zentrum und nur zehn Minuten von Christiania entfernt musste ich aufgeben, Agneta war ohnehin nie hierhergekommen. Ich zog in den Süden, wo die Stadt einen Arbeitergeruch verbreitete. Agnetas Leben waren der Kampf gegen die dänischen Behörden, die sie immer wieder als “rotten” beschimpfte, und der Streit um die Grenzen des Möglichen in Christiania. Sie hatte sich zur schärfsten Kritikerin ihres Idols aufgeschwungen und machte ihm mit ihren brillanten Argumenten das Leben schwer. Offenbar hatte sie erkannt, dass nur der Hass seine Aufmerksamkeit auf sie lenken würde. Aber abgesehen davon hatte sie Recht. Christiania wurde von Drogendealern überschwemmt, die aus ganz Europa kamen, um in der rechtsfreien Republik ihre Geschäfte abzuwickeln. Konflikte mit der Polizei waren an der Tagesordnung, und alles nur, weil einige Leute stur an ihren Idealen festhielten. Ich gab mich der Hoffnung hin, sie werde irgend wann erkennen, dass nur ich ihre wahre Liebe war, aber ich lag natürlich ganz falsch und rieb mich statt dessen an meinen Fronten auf. Es gelang mir nicht, selbständig zu arbeiten. Ich hatte keine Disziplin. Ich begann, Gras zu rauchen, um mich besser konzentrieren zu können. Das gelang eine Weile, aber mein Konsum wurde immer größer, bis ich täglich nach Christiania fuhr, um Agneta zu sehen und immer größere Mengen Gras, Dope und schließlich auch Kokain zu kaufen. Als ich Agnetas Gleichgültigkeit und die Gräue meines Alltags nicht mehr ertrug, ließ ich mich wochenlang nicht mehr in Christiania blicken. Ich verkroch mich mit einem großen Vorrat an Drogen in meiner Wohnung und vegetierte solange vor mich hin, bis nichts mehr vorhanden war und ich sieben Kilo Gewicht verloren hatte. Mein Geschäft betrat ich nicht ein einziges Mal in jener Zeit. Mein Plan war, allen zu fehlen, vor allem natürlich Agneta. Aber es gelang nicht. Sie meldete sich nicht und irgendwann stieg die Angst in mir hoch, sie könne einen anderen Liebhaber gefunden haben, einen Ersatz für den Ersatz, der ich gewesen war.
         Eines Morgens blickte ich in den Spiegel und stand vor einer Ruine. Mir wurde klar, dass wir ein Hase-und-Igel-Spiel gespielt hatten. Überall, wo ich hinlief, war sie schon längst gewesen, sie musste alle meine Strategien und Tricks durchschaut haben, wahrscheinlich war sie mit Brüdern aufgewachsen, zumindest wurde mir bewusst, dass ich ihr niemals das Wasser reichen würde. Vermutlich war ich nicht einmal ein richtiger Mann für sie. Als ich gerade noch genügend Geld für einen Kontinentalflug hatte, kaufte ich mir ein Ticket nach Lissabon und ließ alles andere hinter mir. Ich nahm weder meine Möbel mit oder verkaufte sie, noch kündigte ich meine beiden Mietverträge. Ich verschwand. Von Agneta habe ich bis heute nichts mehr gehört, aber sie ist mir noch manches Mal in Gestalt anderer Frauen begegnet und hat mich in die Flucht geschlagen. Mein Vater besorgte mir einen Kontakt zu Salomão Pereira, einem Bankier, der für Gulbenkian gearbeitet hatte und dabei reich geworden war. Er gab mir ein zinsgünstiges Darlehen, mit dem ich in der Baixa von Lissabon ein Uhrengeschäft eröffnen konnte.
         Es war die Zeit nach der Nelkenrevolution, die Stadt wurde von Angolanern überschwemmt, die sich auf der Praça da Figueira trafen und dort gemeinsam ihre Arbeitslosigkeit ertrugen. Sie kamen nie in mein Geschäft, wo ich jeden Tag mindestens zwölf Stunden arbeitete. Ich hatte mir vorgenommen, nicht an meiner verzweifelten Liebe zu Agneta zu zerbrechen und legte mir deshalb eine eiserne Disziplin zu. Aber die Nachfrage war gering, die Leute hatten kein Geld für exklusive Uhren. Nach und nach wurde mein Geschäft zur Reparaturwerkstatt für alle, die in der Baixa eine Uhr hatten. Davon konnte ich einigermaßen bescheiden leben. In dieser Zeit der völligen Einsamkeit entwickelte ich die Angewohnheit, auf die Praça da Figueira zu spazieren und dort abends den Angolanern beim öffentlichen Karten- oder Würfelspiel zuzuschauen. Ich war einer jener stummen Zuschauer, die sich stets im Hintergrund hielten und nie etwas sagten, obwohl ich schnell und ohne Mühe Portugiesisch gelernt hatte. Allmählich lernten die Angolaner, mich von den anderen Weißen, die dort herumlungerten, zu unterscheiden, wohl auch, weil ich fast immer das Gleiche trug, einen unscheinbaren grauen Anzug mit Mantel und eine Baskenmütze, die ich auf dem Flughafen von Madrid gekauft hatte, um die Glatze zu verbergen, die sich an meinem Hinterkopf gebildet hatte. Im Sommer ließ ich den Mantel im Geschäft oder im Stockwerk darüber, das ich angemietet hatte und wo ich wohnte. Der Blick aus meinem Schlafzimmerfenster ging auf den großen Aufzug hinaus, den Eiffel gebaut hatte, und den ich nicht ein einziges Mal benutzte in den fünf Jahren, die ich in Lissabon lebte. Ich zog es vor, die steilen Straßen zu erklimmen bis zur Rua da Rosa, wo es ein Bordell gab, das ich besuchte. Nachdem ich ein paar Mal dort gewesen war, bildete ich mir ein, in eines der Mädchen verliebt zu sein. Sie war Angolanerin und gerade erst siebzehn Jahre alt. Ihr Körper strahlte eine kindliche Erotik aus, die mir wohlige Machtgelüste verursachte, und ihr voller afrikanischer Mund mit den fast schwarzen Lippen machte einen wehrlosen Eindruck auf mich. Sie hatte ein hübsches Puppengesicht, aber es gelang mir nicht, ihm irgend einen intensiven Ausdruck zu entlocken. Wenn wir miteinander schliefen, kam sie nach zehn Minuten zum fingierten Höhepunkt, und tat danach nichts mehr. Das war vermutlich ihre Methode, der ganzen Sache zu entfliehen. Manchmal war ich mir nicht einmal sicher, ob sie nicht eingschlafen war. Für mich aber war selbst das noch ein Ausdruck von Wehrlosigkeit. Nach einem Jahr, in dessen Verlauf ich immer häufiger und schließlich fast jeden Abend in die Rua da Rosa gegangen war, nahm ich sie zu mir nach Hause, weil ich sie, wie ich behauptete, aus der Prostitution holen wollte. In Wahrheit betrachtete ich sie fortan als meine persönliche Hure, und wenn sie den Sex verweigerte, was in den darauf folgenden Jahren immer häufiger vorkam, wurde ich so lange wütend, bis sie nachgab. Wenn sie sich an meine Wut gewöhnt hatte und wieder aufbegehrte, wurde ich noch wütender. Unser Leben spielte sich fast ausschließlich im Haus ab, morgens gingen wir gemeinsam einkaufen, weil ich befürchtete, sie könne mir davonlaufen. Den Tag über arbeitete ich in der Werkstatt, während sie sich oben langweilte, Essen kochte und zu einer Frau mit schönen Brüsten und weiblichen Hüften wurde.
      Eines Tages verlor ich die Kontrolle. Sie hatte angekündigt, lieber als Nutte in der Rua da Rosa zu arbeiten, als einem Tyrannen wie mir ausgeliefert zu sein. Ich hatte getobt und ihr ausgemalt, wie sie eines Tages enden würde, wenn erst ihre Schönheit dahin wäre und sie ohne jede Ausbildung auf der Straße stünde. Aber diesmal ließ sie sich nicht einschüchtern. Sie sagte: “Es hat bessere Männer vor dir gegeben, und es wird bessere Männer nach dir geben. Wer weiß, vielleicht nimmt mich einer von ihnen mit nach Hause.” Sie stand auf und wollte gehen, aber ich versperrte ihr die Tür. Als ein spöttischer Ausdruck in ihr Gesicht trat und sie sagte: “Du hast Angst, allein hier zurück zu bleiben, gib es zu”,  ergriff ich sie und warf sie auf das Bett. Ich zerriss ihre Kleider und versuchte, in sie einzudringen. Sie kämpfte stumm und verbissen und zerkratzte mir das Gesicht. Als ich endlich ihre Arme hinter den Rücken gebogen hatte, während ich mit der Stirn ihren Kopf nach unten drückte, damit sie mich nicht beißen konnte, verschaffte ich mir mit der freien Hand so rücksichtslos Zugang, dass sie sich vor Schmerzen krümmte. Aber sie hörte nicht auf zu kämpfen, und so blieb mir nichts anderes übrig, als ihr so lange mit der Hand wehzutun, bis ihr Widerstand gebrochen war. In jener Nacht erlebte ich mich als das Wildeste, was ich je gesehen hatte. Sie zog sich vollkommen aus ihrem Körper zurück, mit apathischem Ausdruck nahm sie alle Stellungen ein, die ich verlangte, endlich konnte ich sie von hinten nehmen, was sie mir stets verweigert hatte, und obwohl ihr Gesicht schmerzverzerrt war, blieben ihre Augen reglos und gab sie keinen Ton von sich. Erst als ich sie ins Gesicht schlug, begann sie zu schreien. Ich ließ von ihr ab, sie raffte ihre Kleider zusammen und floh auf den Flur, wo sie sich hastig ankleidete und dann die Treppe hinunterstürzte. Während ich regungslos und immer noch mit erigiertem Glied dalag, wurde mir allmählich bewusst, was geschehen war. Ich war mir plötzlich sicher, dass mein Vater mit den gleichen Mädchen ins Bett gegangen war wie ich, und dass er es aus den gleichen Gründen getan hatte. Ich fühlte mich elend, die Erektion in meinem Glied wurde zum Krampf, der nicht nachließ.
         Gegen Morgen wurden meine Schaufenster eingeworfen und das Geschäft verwüstet. Ich zog mich an und ging hinunter, wo drei baumlange Angolaner damit beschäftigt waren, sämtliche Uhren zu zertreten. Als sie mich sahen, waren sie einen Augenblick lang unschlüssig, denn sie hatten vermutlich nicht mit meinem Erscheinen gerechnet. Sie stürzten sich auf mich und schlugen mich zusammen. Als ich ohnmächtig wurde, müssen sie sich davon gemacht haben. Meine Ohnmacht ging in einen tiefen traumlosen Schlaf über, aus dem ich erst gegen Mittag erwachte. Draußen hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Als ich mich mühsam aufgerappelt hatte, kam die Polizei. Ich verzichtete auf eine Anzeige, aber das löste Misstrauen aus und man nahm mich mit auf die Wache. Dort schwieg ich so lange, bis der Kommissar mich entließ. Als ich nach Hause kam, hatte man den größten Teil meiner Werkzeuge gestohlen. Ich ging nach oben und weinte zum ersten Mal seit vielen Jahren. Hass gegen meinen Vater wallte in mir auf, Hass gegen meine Mutter und meine Schwester, Hass gegen Agneta, Hass gegen mich selbst. Nach mehreren Stunden, in denen sich immer wieder Leute im Geschäft zu schaffen machten, packte ich meine Sachen zusammen und verließ das Haus. Ich hatte ein Konto beim Banco Sotto Mayor, dort ging ich hin, hob alles ab und fuhr zum Flughafen. Es tat mir leid, die Stadt zu verlassen, aber ich spürte, dass ich hier nichts mehr verloren hatte.
         Auf dem Weg zum Flughafen schaut mich der Taxifahrer mehrmals scheu von der Seite an, ich klappte die Sonnenblende herunter und betrachtete mich im Spiegel. Ich sah fürchterlich aus, mein Gesicht war voller Blutergüsse, überall war die Haut aufgeplatzt, die Augen waren verschwollen und verfärbt, an einer Stelle steckte sogar noch ein Glassplitter in der Stirn. Ich zog ihn heraus und warf ihn in den Aschenbecher des Wagens, der offen stand und voll war, weil der Fahrer eine Zigarette nach der anderen rauchte. Ich sah mich noch einmal im Spiegel an und versuchte, hinter die Beulen und Wunden zu schauen, auf mein eigentliches Gesicht. Aber es gelang mir nicht, ich hatte immer genau dieses Gesicht gehabt und jetzt war es offenbar geworden. Etwas musste sich ändern, aber ich wusste nicht, was es war. Ich wusste nicht einmal, wohin ich fliegen sollte.
         Am Flughafen ging ich in die Apotheke und kaufte Jod, Pflaster und Alkohol. Danach zog ich mich auf die Toiletten zurück, wusch mich gründlich, ordnete meine Kleidung, die ich seit der Nacht nicht gewechselt hatte, und versorgte meine Verletzungen. Als ich erneut die Abflughalle betrat, fiel mein Blick auf den großen mechanischen Time-Table, der beständig ein klapperndes Geräusch machte. Mein Blick folgte ziellos den Buchstabenreihen, erfasste geistesabwesend die Abflugzeiten und blieb plötzlich an einem Namen hängen. Berlin. Berlin ist ein jüdischer Nachname, ging es mir durch den Kopf. In diesem Augenblick verstand ich, was geschehen war und traf meine Entscheidung. Ich würde zurückkehren, an den Anfang. Und danach würde ich nach Hause fliegen. Von einem geteilten Land in das andere.

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