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Stefan Hölscher: Paar windige Worte zur wunderbaren Welt der Literaturkritiker*innen

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(12.03.2021)
Stefan Hölscher:

Paar windige Worte zur wunderbaren Welt der Literaturkritiker*innen
In seiner immer noch höchst lesenswerten Autobiographie „Mein Leben“ beschreibt Marcel Reich-Ranicki diverse Episoden, in denen ein Dichter (es sind hier tatsächlich, wenn ich mich recht erinnere, nur Männer gewesen) langjährig oder sogar lebenslang voll Groll ihm gegenüber war, wenn er eines seiner Werke zum Teil auch nur recht punktuell kritisiert hatte, selbst wenn er zuvor alle Opera desselben Dichters mit höchstem Lob bedacht hatte. In gewisser Hinsicht ist das natürlich eine ziemlich alte Geschichte: die von persönlicher Gekränktheit, die, wenn es um die eigenen Babys – und das sind die eigenen Bücher ja nun mal – geht, besonders schnell und heftig hervor zu lodern vermag.
    Nun sind die Gepflogenheiten, was Kritik angeht, ja mittlerweile deutlich andere geworden als zu Zeiten des großen MRR. Ungebändigte Leidenschaftsbekundung und laut dröhnendes Kritikergewitter sind heutzutage nicht mehr so gefragt. Sie würden vermutlich als Machogehabe alter weißer Unwesen ausgelegt werden, also als plumper Anachronismus in einer Kultur, deren Träger*innen durch und durch soft zu sein haben - möglichst immer und überall. Außerdem gibt es ja einfach auch viel weniger Zeitungen und viel weniger Kritiker*innen als früher; und in Zukunft, wenn sich einige öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten auch noch vom Feld der Literaturkritik verabschiedet haben, wird es wohl noch ein paar weniger geben.
    Bei nicht wenigen der wenigen, die es noch gibt, kann man auch den Eindruck bekommen, dass sie sich vor allem solche Werke zum Rezensieren vornehmen, bei denen die apriori-Wahrscheinlichkeit, dass sie sie grundsätzlich positiv finden, von ihnen auf mindestens 90% geschätzt wird. Was meines Erachtens nicht illegitim ist, da es ja immer auch um eigene Lebenszeit geht und Opera, die man schätzt, auch zu substanzielleren Kritiken inspirieren können. Außerdem korrespondiert diese Auswahl mit der Erwartung der Produzent*innen, also der größeren oder kleineren Dichterfürst*innen, wie auch mit der Erwartung von deren begeisterter Anhängerschaft. Die Erwartung ist: die Kritik möge, nein solle, das Werk bestätigen. Und dieses Wort ist hier nicht im Sinne eines so gearteten Validierungsprozesses gemeint, dass auch ein Urteil herauskommen könnte, dass die Validität zumindest in gewisser Hinsicht nur eingeschränkt bescheinigt oder gar bestreitet, sondern Kritik hat die in der Produzent*innen-Meinung bestehende Bedeutung des Werks zu spiegeln und vollumfänglich, das heißt, zu nicht weniger als 100%, zu bestätigen. Tut sie das nicht, droht Ungemach, und weil Ungemach nicht schön ist und heute nicht nur angesichts softer Empfindlichkeiten viel schneller noch als zu Zeiten von MRR passiert, sondern dank der Welt der Social Media auch viel heftigere Stürme nach sich ziehen kann, wird sich Kritiker*in gut überlegen, was sie tut. Schon aus Selbstschutzinteresse.
    Dem steht natürlich entgegen, was mit jeder verfassten Kritik heutzutage mehr denn je winkt: nämlich Ruhm, Macht und vor allem Geld. Da die Kritiker*innen-Honorare ähnlich denen der Profifußballer (sorry, ich bleibe hier bei der maskulinen Form als offenem Protest gegen den gender pay gap) angeschwollen sind, tut man es primär der Kohle wegen.
   Im Ernst: Zu den Entwicklungen des Geschäfts gehört schon lange die immer üblicher werdende Gratisrezension, also: Es schreibt die Kritiker*in komplett für umme. Aber warum tut sie es dann? Ich kann hier nur für mich sprechen. Ich tue es für verschiedene Medien immer mal wieder, 1. weil mich bestimmte Neuerscheinungen interessieren, 2. weil ich, wenn ich weiß, dass ich eine Rezension dazu schreibe, ein Buch sehr stringent lese, statt – was ich sonst oft zu tun pflege – es nur häppchenweise lesend und dann wieder monatelang aus der Hand legend jahrelang mit mir herumzuschleppen (was kein schönes Wort angesichts nicht selten schöner Bücher ist), 3. weil ich meine Eindrücke so stärker reflektieren und auf den Punkt bringen muss, 4. weil ich mich auch auf diese Weise bilde und 5. (hier kommt ein nichteitelkeitsfreier Faktor ins Spiel) weil ich dadurch auch etwas Einfluss nehmen kann. So weit, so gut, oder auch nicht, denn im wild-romantischen Kritiker*innen-Leben gibt es nun immer wieder auch mal kritische Momente, und das nicht nur, wenn man sich zwischendurch doch unnützerweise wieder fragt, wieso eine solche Tätigkeit in unserer Zeit und unserem Kulturbetrieb ökonomisch so wenig, um nicht zu sagen, faktisch gar nichts wert ist, sondern auch, wenn einem gerade mal wieder der Wind der Bestätigungskultur-Erwartungen rau um die Ohren bläst, sei es als Erwartung „nun schreib endlich mal was über mein großartiges Werk und über mich“ oder sei es als abgrundtiefe Enttäuschung, die die Kritiker*in mit ein paar nicht so positiven Worten hat anrichten können.
  Mit all dem muss man als Nichtkritiker*in kein Mitleid haben. Ein Beraterkollege (psychologische Beratung ist das, womit ich mein Geld verdiene) pflegt zu sagen: „Da, wo ich bin, will ich sein. Alles andere war mir bisher zu teuer.“ Recht hat er. Stellenwert und Wert von Literaturkritik im heutigen und künftigen Kulturbetrieb müsste man allerdings vielleicht mal wieder stärker überdenken – solange es sie noch gibt, sofern man das denn auch längerfristig noch wollen würden sollte.


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