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Stefan Hölscher: Literaturkritik: ein Abgesang

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Stefan Hölscher

Literaturkritik: ein Abgesang

Oder über die Dummheit von denen, die es immer noch nicht lassen können, sich als Kritiker*in zu sehen

Manchmal schreibe ich Kritiken. Zumeist handelt es sich um Literatur-, oft um Lyrikkritiken, gelegentlich auch um Filmkritiken. Manchmal bezeichne ich mich sogar, wenn ich meine professionellen Rollen angebe, auch als Literaturkritiker. Dabei bin ich nur ein ganz, ganz kleiner Kritiker, einer vom Rande des Geschehens; denn meine Hauptprofession ist eine andere und ich schreibe ja auch nur gelegentlich Kritiken – vielleicht 20-mal im Jahr. Ich versuche die Sache aber ernst zu nehmen – so wie meine anderen professionellen Tätigkeiten auch. Im Ernst und selbst bei allem Spaß an der Sache, komme ich allerdings nicht umhin, ein paar Dilemmata festzustellen, von denen einige quasi schon in der Natur des Kritikenschreibens angelegt sind, andere aber mehr und mehr durch bestimmte Entwicklungen dazugekommen sind. Und letztere vor allem sind es, die je länger ich diese Art von Tätigkeit betreibe, mir umso säuerlicher aufstoßen.

Man könnte dabei auch von einer gewissen Verkommenheit sprechen, und damit meine ich natürlich nicht die Leute, die Kritiken schreiben oder gar die, die sie lesen, sondern, um es gleich hochgeschraubt zu formulieren, das System, in dem dies mittlerweile bei uns passiert, und das nach und nach immer mehr schwierige Auswirkungen produziert – auch bezogen auf die Menschen, die bereit sind, als Literaturkritiker*innen aufzutreten oder dies für sich in Erwägung ziehen. Die Gefahr, die dabei besteht, ist, dass on the long run da etwas wegrutscht, nach und nach eine Form der Kultur erodiert oder auf ein Niveau absackt, sodass man von einer ernstzunehmenden Literaturkritiklandschaft dann nicht mehr wird sprechen können. Vielleicht ist diese „Gefahr“ aber auch gar keine Gefahr, sondern einfach nur eine historische Entwicklung, die schon vor Jahren begonnen hat und sich nun konsequent weiter fortsetzt. Vielleicht, weil sie fällig ist, technologisch, kulturell, medial oder alles zugleich. Zeigen wird dies die Zukunft.

Was allerdings schon die Gegenwart zeigt, sind diverse Dilemmata in Kritiker*ins Dasein. Ein paar davon wie gesagt quasi schon eingewoben in die Tätigkeit selbst und damit von vornherein als Herausforderungen in Kauf zu nehmen. Dazu gehören besonders die folgenden: Wer versucht, in ernsthafter und das heißt auch differenzierter und etwas ausführlicherer Weise, über Kunst welcher Art auch immer zu schreiben, findet nur wenig Lesende, obwohl Kritiker*in natürlich gerne recht viele finden würde. Natürlich gibt es auch in Bezug auf das, was sich meint, „Kunst-Rezension“ nennen zu dürfen, einen Massenmarkt: Wer als Social-Media-Influencer*in über ein möglichst massentaugliches Trivialkunstprodukt, das ihm/ihr von den eigenen Sponsoren zugeschustert wurde, einen belanglos lobenden 5-Zeiler auf Instagram oder Co. absetzt, kann zwar je nach persönlichem Influencerpowerscore damit tausende Empfänger*innen erreichen – nur ist das eben so wenig eine ernstzunehmende Form von Kunstkritik wie ein Hamburger Royal TS ein liebevoll zubereitetes, individuelles Essen ist. Es ist trotz wohlmöglich hübscher Bild-Inszenierung so spannend und inspirierend wie ein vom Wind auf der Straße entleerter Müllbeutel.

Die relativ im Vergleich zu anderen medialen Feldern (wobei da nicht erst Fußball, sondern auch schon die heißen Tipps für sommerliche Grillaktionen der frustrierende Vergleichspunkt wären) äußerst geringe Zahl von Interssent*innen ist also bei ernsthafter Literatur- und Kunstkritik von vornherein klar. Alle Beteiligten – Produzent*innen, Kritiker*innen, Leser*innen etc. – haben sich damit abgefunden oder sollten dies zumindest tun, wobei es natürlich auch hier noch relevante Unterschiede gibt: die Größenordnung von Interessent*innen ist bei Lyrik-Kritik homöopathisch, bei Romanen – vor allem bei Werken bekannter Autor*innen – schon deutlich größer und bei Filmen, deren Sujet einen ordentlich marketing-angepieksten Nerv trifft, noch viel größer.

Ein zweites der Tätigkeit von Grund auf inhärentes Dilemma betrifft die Kritik in der Kritik. Manchmal möchte Kritiker*in ja auch etwas explizit Kritisches, gelegentlich sogar etwas sehr Kritisches über ein Werk äußern. Da hier allerdings, vor allem wenn es auch noch um Aspekte geht, die man/frau als Kritik am herrschenden Zeit-/Szenegeist oder als Kritik an einer der populären Szene-Ikon*innen verstehen könnte, Shitstorm mit Orkancharakter droht, zumindest aber nachhaltiges Unbeliebtsein (obwohl man/frau doch auch als Kritiker*in lieber geschätzt als verhasst sein möchte), wird Kritiker*in sich diese Kritik, vor allem gegenüber lebenden Künstler*innen im eigenen größeren Dunstkreis recht gut überlegen müssen. Ein Umstand, der vielleicht nicht allein, aber neben anderen dazu geführt haben mag, dass Kunstkritik in den meisten Fällen heute ziemlich zahm geworden ist bzw. Kritiker*in sich bedacht vor allem solche Werke zur Rezension aussucht, bei denen er/sie davon ausgehen darf, sich ohnehin dazu nur positiv äußern zu können.

Schließlich und eigentlich noch viel gravierender für das Kunstkritiker*in- Metier lauert all überall das Unabhängigkeitsdilemma. Um die künstlerischen Hervorbringungen, zu deren Kritiker*in sich substanziell äußern möchte, in ihren Bezügen und verschiedenen Kontexten einordnen und beleuchten zu können, braucht Kritiker*in eine möglichst gute Kenntnis der jeweiligen Szene. Und Kenntnis heißt hier immer auch persönliche Bekanntschaften und Netzwerke. Gleichzeitig braucht Kritiker*in aber auch Unabhängigkeit, um nicht aus persönlicher Sympathie oder Aversion heraus, die eigenen Einschätzungen zu äußern. Je besser Kritiker*in nun allerdings szenemäßig vernetzt ist, umso schwieriger und im Extremfall sogar unmöglich wird die persönlich unverzerrte Rezensionstätigkeit werden.

Wenn ich auf meine eigenen Rezensionen zurückblicke, so muss ich sagen, dass ich in den Fällen, in denen ich die entsprechenden Künstler*innen überhaupt nicht kannte und auch keine nennenswerte Wahrscheinlichkeit für eine künftige Bekanntschaft bestand, am ehesten den kritik-qualitätserforderlichen Abstand hatte. Umgekehrt fallen mir Situationen ein, in denen ich mich aus persönlicher Verbundenheit heraus keinesfalls von Überlegungen in Bezug auf die Auswirkungen meiner Rezensentenworte auf das Gemüt der jeweiligen Künster*innen frei machen konnte. Vielleicht vermögen andere Kritiker*innen damit ja souveräner umzugehen. Andererseits: wenn Kritiker*in selbst auch Autor*in ist, vielleicht sogar von manchen der Verlage verlegt wird, über deren Produkte er/sie Kritiken schreibt und in Bezug auf eigene Opera auch dem Urteil von Personen ausgesetzt ist, über deren Werke er/sie dann auch wieder Kritiken schreibt: Wie soll Kritiker*in da die nötige Unvoreingenommenheit und den bestmöglichen Abstand aufbringen? Ich halte das für praktisch unmöglich. Gleichzeitig aber sind Kritiker*innen heutzutage mehr denn je selbst auch Kunst-/Werk-/Buch-Produzierende, zumal die Tätigkeit des Kritikenschreibens ja in jeder Hinsicht immer weiter marginalisiert wird, sodass man, wenn man noch bei Troste ist, keinesfalls auf sie angewiesen sein sollte.  

So weit – so ambivalent. Doch nur noch einmal kurz zur persönlichen Besinnung: Warum hatte ich selbst doch gleich damit angefangen, Rezensionen zu schreiben, obwohl das ja wahrlich nicht mein Hauptjob ist und schon die erwähnten Dilemmata einem das Leben dabei schwer genug machen können? Da waren zuvorderst zwei nicht ganz uneigennützige Gründe: Wenn ich ein Buch zu rezensieren habe, dann lese ich es ungleich stringenter, was auch heißt: ich bleibe mit meiner Lektüre viel engmaschiger dran und muss/darf auch noch meine Eindrücke auf den Punkt bringen. Was unter anderem dazu geführt hat, dass ich, seit ich Kritiken schreibe, deutlich mehr lese als zuvor. Ich wollte aber auch Gehör finden. Angefangen habe ich ja mal mit Lyrikrezensionen, und weil ich die sogenannte Gegenwarts-Lyrikszene (eine kleine verstiegen elitäre Community, die keine Community ist) damals irgendwie spannend und gleichzeitig auch etwas mysteriös fand, wollte ich mich da irgendwie zuschalten und ernstgenommen werden.

Daneben gehöre ich jedoch auch als alter weißer, der miefigen deutschen Mittelschicht entsprungener, bildungsbürgerlich geprägter Cis-Ehe-Mann-und-Vater zu den ganz und gar altmodischen Leuten, die Kunstkritik grundsätzlich wichtig finden, wichtig um auf Kunst aufmerksam zu machen, sie ins Gespräch zu bringen, sie aus einer kundigen, gleichwohl aber subjektiven Perspektive heraus zu reflektieren, in relevante Kontexte zu stellen und durch all das auch Brücken zu möglichen Interessent*innen zu schlagen und unsere Kultur und damit auch unsere Gesellschaft und Freiheit(!) weiterzuentwickeln.  Tatsächlich finde ich all das wirklich bedeutsam, so absonderlich es klingen mag.  

Wer, weil er/sie etwas bedeutsam findet, sich und seine/ihre professionelle Arbeitskraft tief in ein Thema steckt, wünscht sich dafür dann aber auch eine gewisse Wertschätzung dieser Arbeit zu finden. Und das führt nun zum nächsten Dilemma mit aktuell größeren Verkommenheits-potenzialrisiken: Diese Wertschätzung ist dünn, und sie ist besonders in einem Aspekt so stark ausgedünnt, dass sie als akut anorektisch anzusehen ist. Es geht ums Geld, ums leidige und doch so elementare. Um Geld hier allerdings mehr in seiner symbolischen Funktion. Denn niemand, der ernsthaft und regelmäßig Kunstkritiken schreibt, kann erwarten, dafür adäquat ‚entlohnt‘ zu werden. Bei uns gibt es nun jedoch schon lange eine Entwicklung, bei der immer mehr erwartet wird, nicht nur, aber ganz besonders auch im Schreiben über Kunst, Content – nicht nur im Internet, sondern möglichst überall – gratis oder so gut wie gratis zur Verfügung zu stellen und gestellt zu bekommen. Und auf diese Weise bekommen nun all diejenigen Medien – Zeitungen, aber auch Radio, Fernsehen und erst recht Onlinemedien – ein dickes Problem, die den altbackenen Anspruch erheben, dass ihr Content es wert sei, dass Kund*in dafür auch etwas bezahlen sollte. Ein Teil der Folgen dieser Entwicklung besteht in der immer weitergehenden Ausdünnung von Redaktionen, ganz besonders auch im Feuilleton und im Rückgriff auf vorkonfektioniertes Medienmaterial. Was z.B. für das Feuilleton heißt: statt eigene Rezensionen zu bringen, greift man mittlerweile immer häufiger auf den Pressetext der Anbieter (Verlage, Filmverleihgesellschaften etc.) zurück oder bringt einfach gar nichts mehr. Und solcherlei Ausdünnungstendenzen gibt es nicht bloß in den privatwirtschaftlich geführten Medien, sondern nicht weniger auch in unseren öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, wo nur sehr, sehr wenig Geld für freie Redaktions-Mitarbeiter*innen, umso mehr aber für die Massagesitze und 20000-Euro-im-Monat-Ruhestandsbezüge der Intendant*innen ausgegeben wird. Es läuft also an vielen Stellen die leise Verabschiedung oder – sagen wir’s doch netter – die effizienzpotenzialgetriebene Fokussierung der Kulturberichts- und Feuilletonlandschaft.

Mit dem fortschreitenden Rückzug größerer Medien aus eben diesen Feldern verlagert sich dann ein größerer Teil des Feuilleton-Betriebs und ganz besonders das Feld der Kritik mehr und mehr auf Blogs und Onlineplattformen, von denen User*in aber erst recht erwartet, alles gratis zu bekommen – eine Erwartung, die in den allermeisten Fällen auch beflissentlich erfüllt wird. Wer dann an solchen Orten meint, Kritiken schreiben zu wollen, hat von vornherein die unbedingte Bereitschaft mitzubringen, das ‚für umme‘ zu tun. Eine Bereitschaft, die ich aus einer Art naivem Idealismus heraus auch über längere Zeit (wir sprechen nicht von Wochen, sondern von Jahren) hatte, bis mir immer mehr aufstieß, dass hier eine Erwartung bedient werden will, die dazu führt, dass ich meine Arbeit als Kritiker – eine Arbeit, die neben dem anstrengenden Handling der in ihr schon von der Sache her liegenden Dilemmata viel Kenntnis, Gründlichkeit und Ausformulierungsengagement voraussetzt, sodass diese Arbeit bei aller Freude, die Kritiker*in auch daran haben mag, eines doch sicherlich ist: nämlich eben Arbeit – dass also ich für diese Arbeit in diesem Feld permanent zu Konditionen, die nicht einmal 1-Euro-Job-Bedingungen erfüllen, anzutreten bereit zu sein habe.  

Und um diesen Punkt noch einmal deutlich zu unterstreichen: Es geht hier nicht um eine irgendwie im Verhältnis zur erforderlichen Qualifikation und dem erforderlichem Zeiteinsatz angemessene Bezahlung (obwohl es darum ja eigentlich gehen könnte/sollte/müsste). Es geht hier eher um eine Art Symbol.

Seit einer Reihe von Jahren bin ich als freier Autor von queer.de tätig, dem reichweiten- und wirkungsstärksten queeren Medium im deutschsprachigen Raum und dem einzigen queeren Medium in unserer Medienlandschaft, das sich noch eigenständige Kritiken zu verschiedensten Kunstformen leistet. Hier erhalte ich, da queer.de Einnahmen aus Werbung und Spenden generiert, ein kleines Honorar für meine Artikel – ein Honorar, das ich tatsächlich unter ökonomischen Gesichtspunkten für mich nur als symbolisch bezeichnen würde. Trotzdem macht es einen bedeutenden Unterschied im Sinne einer Wertschätzung der Tätigkeit.

Im Zusammenhang von Kunst so lange, wie ich es hier tue, über so etwas Schnödes wie Geld zu sprechen, ist ganz und gar nicht schön. Nur funktioniert unser gesamtes Gesellschafts- und Wirtschaftssystem nun mal nicht ohne. Es ist klar, dass da, wo kein Geld eingenommen wird, schwerlich welches ausgeschüttet werden kann. Kunstsparten wie die Lyrik leiden per se unter einem ähnlichen Mangel, da selbst die Bücher der namhaftesten und bekanntesten Autor*innen nur in so geringer Stückzahl verkauft werden, dass, wer immer allein auf die Einnahmen aus solchen Verkäufen angewiesen wäre, Sozialtransferzahlungen für den eigenen Lebensunterhalt beantragen müsste. Für Künstler*innen gibt es aber immerhin Preise und Preisgelder – alles im Vergleich zu anderen wirtschaftlichen Feldern moderat und bescheiden, aber immerhin. Kritik hingegen soll sich gefälligst selbst ernähren, soll sehen, wo sie bleibt, wo sie ihr Ein- und Auskommen her bezieht (vielleicht von Luft und Liebe). Die Tafel für sie gibt es jedoch nicht.

Doch sollte Kritiker*in nicht lamentieren, sondern bitteschön funktionieren. Das erwarten denn doch selbstverständlich alle: die Künstler*innen nicht weniger wie ihre Verlage, Ensembles, Agenturen, Verleihe…, wenn sie Kritiker*in mit freundlichen Worten die ‚Waschzettel‘ ihrer  neuesten Kunstprodukte vor die Füße und die Schreibmaschine werfen: Walte deines Amtes, werte Kritiker*in und rezensiere, aber rezensiere schön. Gib Resonanz und Spiegelung. Und zwitscher, aber tu es mit dem rechten Ton und heg das Opus, über das du schreiben darfst, angemessen ein. Frag bitte nicht, was aus dir selber wird, denn du weißt doch, du bist vogelfrei. Doch nicht bedroht, nur einfach unbekümmert. Wie andere leicht bedrohte Arten auch. Die gibt es aber noch, zumindest ein paar Restbestände – so wie dich eben auch. So schweig und schreib!

Was jetzt doch etwas zu pathetisch klingt. Denn kann nicht jede*r selbst für sich entscheiden, was zu tun und lassen ist? Na klar. Und Hand auf’s Herz: Selbst wenn man sie ganz nett zu finden meint, die gute alte Berufs-Literatur-, Lyrik-, Musik-, Kunst-, Theater- etc. -Kritik und selbst wenn man sich in gewisser Weise auch an sie gewöhnt zu haben meint wie an eine alte, im Haus herumgeisternde Tante, und denkt, dass sie irgendwie wohl auch dazugehört zum kulturellen Leben in unseren schönen Medien: Wenn sie irgendwann mal weg sein sollte, und noch ist sie ja an zumindest manchen Stellen da, so dass sie gar nicht akut vom Aussterben bedroht zu sein scheint, sondern höchstens mal langfristig und wer weiß überhaupt schon, was langfristig sonst noch alles passiert in dieser Welt, jedenfalls wichtigere Dinge als der mögliche Abgesang von Kunstkritik – so ist sie eben weg. Und wir werden das überleben. Alle. So viel ist auch mal klar.


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