Stefan Hölscher: Ich sehe wirklich keinen Matrosen
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Marcus Neuert
Stefan Hölscher: „Ich sehe
wirklich keinen Matrosen“. Queerfeine Gedichte und weise Sprüche. Vechta (Geest
Verlag) 2021. 117 Seiten. 11,00 Euro. ISBN 978-3-86685-854-1
Explizit queere Lyrik schreibt
Stefan Hölscher, der gebürtige Hildesheimer, der unter anderem Philosophie,
Psychologie und Literaturwissenschaft studiert hat und heute als
Managementcoach, psychologischer Berater und Autor in der Nähe von Heidelberg
lebt. Als Schreibender deckt er ein breites Spektrum ab von Sachbüchern über Essays
und Aphorismen bis hin zur Literaturkritik und eben jenen Gedichten, um die es
auch in seinem aktuellen Band geht. Der ist beim Vechtaner Geest-Verlag
erschienen, pandemiebedingt mit über einem Jahr zusätzlicher Reifezeit, wie uns
der Autor in seinem Nachwort wissen lässt.
Queersein
sei „mehr als eine sexuelle Orientierung. Es ist eine Haltung zur Welt“,
erfahren wir in einem seiner „weise[n] Sprüche“, die im Kapitel „Warm Wort“
versammelt sind. Damit ist das per se Unangepasste, Individuelle des Lebensstils
gemeint. Dennoch geht es in vielen seiner Gedichte ziemlich unverblümt um die
schönste Sache des Daseins. Schon im Titel des Buches „Ich sehe wirklich keinen
Matrosen“ schwingt trotz der Negation das ganze über-beladene innere Bild von
romantischer Ferne, Fremde und Abenteuerlust mit, das auf Schritt und Tritt mit
dem Sexuellen konnotiert werden kann: „ […] süßsalzig Klischee das verlässlich
entzückt“, wie es der Autor im letzten Vers des titelgebenden Textes
zusammenfasst.
Auch
bereits die ersten „3 Gedichte von Ich“ haben es in sich. Den lockeren
Parlandoton der 1970er Jahre, der von kundigen Geistern noch immer zu
authentischen Aussagen verwendet werden kann, ohne zur Alltagsprosa zu
degenerieren, benutzt Hölscher für kurze Statements in der Möglichkeitsform,
die alle mit einem dreizeiligen poetischen Fallrückzieher beginnen:
„ich möchte ja nicht gerne von mir sprechen / aber würde ich es doch tun / dann könnte ich beispielsweise sagen [...]“
Hölscher führt anschließend eine Art von verbalem Versteck-spiel mit Gemeinplätzen von Herbstwald, Sonnenuntergängen und Alltagsgesprächen, in die er fast schon beiläufig auch die Möglichkeit zu sexuellen Bekenntnissen einfließen lässt, die aber zunächst noch unpersönlich mit „man“ statt mit „ich“ daherkommen. Gleich im ersten Text räumt der Autor allerdings schon einmal mit der immer noch weit verbreiteten Annahme auf, dass ein Gedicht grundsätzlich Rückschlüsse auf die Person zulässt, die es verfasst hat. Seine eigenen Texte, die er uns serviert, nimmt er jedoch davon aus:
Cover der 2. Auflage
„[...] zum Beispiel rede ich normalerweise auch nicht darüber / dass ich nicht selten sogar meinen schnellen Wagen / geiler finde als jedes Gedicht / denn auch das ist Privatsache / anders als der Gebrauch vom lyrischen Ich / das mal für diesen und mal für jenen steht / nie aber für mich“
Gleichzeitig wird hier auch eine
gewisse Intimität zwischen Autor und Lesepublikum konstruiert, denn wir
erfahren ja gerade diese Privatsachen, über die eigentlich gar nicht gesprochen
werden soll. Wir sollen mithin scheinbar sofort eingebunden werden in die
Befindlichkeiten des Verfassers. Klappt das? Sicherlich ist das ganz
individuell verschieden und schließt nicht aus, sich „[s]o fremd wie // die Pfälzische
Weinkönigin einem Gedicht von Thomas Kling“ gegenüber zu fühlen, wie es,
freilich in ganz anderem Zusammenhang, in einem seiner Gedichte heißt.
Hölscher
findet seine dichterischen Worte für recht unterschiedliche Sujets innerhalb
des queeren Lebenskosmos: ob er in schwelgerischer Weise, gleichsam sinnlich
überwältigter Ästhet, männliche Körper besingt („alles rasiert natürlich von
oben bis unten wie Porzellan in sanftem Goldbraun so glatt“) oder ob er mit
bitterem Unterton auf die latente oder offene Ausgrenzung von Andersartigkeit,
von individuellem Abweichlertum in Bezug auf einen sich auch noch wer weiß wie
tolerant wähnenden Mainstream hinweist, stets sind seine Formulierungen
entschieden:
„[...] es gibt Schlimmeres als das zerdetschte Gesicht / eines Jungen aus England den nach ein paar Tänzen / mit seinem Freund ein Männertrupp einfach zu schwul fand // in Ländern in denen fast jeder fast alles darf / egal wie versaut – ist für Schwule und Lesben / jetzt sogar Heiraten erlaubt // was soll also ständig auf so was zu zeigen / Gewalt trifft alle mal – es gibt sie nun mal – / aber wann gibt es Ruhe vor solchen Minderheiten“
Doch auch der Humor kommt nicht
zu kurz in vielen von Hölschers Gedichten, wenn etwa ein eingestreutes
Fake-Bibelzitat wie „geh hin und vernasche“ ein paar Zeilen später durch ein
extatisches „oh Jieses“ unterstrichen oder mit lautmalerisch-einreimiger
Eindeutigkeit die Erzeugung gewisser zärtlicher Nahkampfspuren bedichtet wird:
„[...] und wir lecken lecken lecken / und wir beißen in die Ecken / bis wir checken es gibt Flecken / diese fiesen roten Flecken / die ein anderer könnt entdecken [...]“
Hölschers Gedichte sind, um
einmal im Duktus zu bleiben, gut gebaut. Wir finden eine große Variationsbreite
von mehrheitlich freien Formen, ganz unterschiedlichen Verslängen, die sich
überwiegend durch ihren semantischen Gehalt bestimmen, Strophenbauten aus zwei,
drei, vier und mehr Zeilen, manchmal mit Reimanklängen, öfters mit Assonanzen,
die in ihrer inneren rhythmischen Stimmigkeit die Vorstellung eines kongenialen
co-working mit einem Musik-instrument in Bezug auf einen Live-Vortrag wachrufen.
Und richtig – Hölscher arbeitet regelmäßig auf der Bühne mit dem Bassisten und
Cellisten Michael Schneider zusammen (einige Beispiele aus älterer Produktion
finden sich übrigens auf YouTube auf dem Kanal von Lyrik-Kontra-Bass).
Unter
anderem hat Hölscher in seinen Aphorismen auch für das hetero-männliche Problem
schlechthin einen probaten Rat übrig:
„Männertipp: Die Frau als Objekt der Lust zu begreifen, bringt den heutigen Mann rasch auf die Anklagebank. Um am sicheren Ufer zu bleiben, hilft es, sich straight an seinesgleichen zu halten.“
Ob sich durch derlei Kalauer die
Akzeptanz jeweiliger identitätsbezogener Aussagen erhöhen lässt, müssen wir
Lesende letztlich für uns selbst entscheiden. Die Lacher dafür hat Stefan
Hölscher jedoch bei einem wie auch immer lebens- und geschlechtsorientierten
liberalen Publikum auf seiner Seite. Und wer es denn verbiestert sehen möchte –
who cares?
Manchmal
mag es notwendig erscheinen, das, was uns alle miteinander verbindet – nämlich
eine Menschheitsfamilie zu sein – gerade dadurch zu bekräftigen, dass auch
Trennendes bis zu einem gewissen Grad betont wird. Das ist in sich nicht so
widersprüchlich, wie es sich im ersten Moment anhört, solange Differenz nicht
zum Selbstzweck aufgeblasen wird, sondern einfach die Bandbreite von
Lebenswirklichkeiten widerspiegelt. Doch diese rote Linie überschreiten
Hölschers Gedichte nie, im Gegenteil, er warnt sogar auf seine Weise davor:
„Erst wenn jede*r ihre eigene Schublade hat, weiß am Schluss_in kein:e mehr, wo es hingehört.“
Und ein solcher Zustand wäre wohl
am Ende für niemanden erstrebenswert.
© Marcus Neuert, November 2021