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Stanislav Dvorský: Ende der Saison

Gedichte > Zeitzünder
Foto: Archiv Nadi Dvorské
Stanislav Dvorský
(1940 - 2020)

Ende der Saison
übersetzt von Patrik Valouch


Nebel stieg in Bäuschchen von den Feldern auf wie Kringel über
           der Stadt der fanatischen Raucher
etwas glänzte auf Oldřich Wenzl* ging auf den Balkon seines
           Jagdschlosses hinaus
und schoss...

an einer staubigen Wendeltreppe spielte eine Katze mit einer Maus
aus einem Gerichtssaal führte man gerade eine Frau ab die Gnade
            Gnade schrie
grünes Öl rann aus einer zerschossenen Zisterne
schmale Türme wirkten in der Dämmerung über dem leeren Kai
            noch höher und gerader
auf einem Dachboden wälzte sich eine fette Hündin hin und her
im Erdgeschoss glimmte nur eine schwache Glühbirne ein Kind stand steif in
            seinem Bettchen mit dem Gesicht gegen das Netzlaufgitter gedrückt
die Turmspitzen wiegten sich zuweilen klingend wie Grashalme
            in unruhiger Luft
auf dem Gipfel eines Schotterhaufens lag ein glatter
            Flusskiesel
in der Ferne pfiff jemand ein Wiegenlied

die Dunkelheit kroch bereits über die ländliche Kegelbahn
aufgewirbelter Straßensand setzte sich auf eine zertretene
            Nacktschnecke ab
winzige farnartige Pflanzen klebten sich an andere
            die an durchnässte Kletten erinnerten
unten am Fuße des Hügels rissen sie nach dem Fest eine hohe Tribüne ab
rote Backsteinhäuser schienen völlig leer zu sein
der Abend kroch unwiderruflich aus den Sümpfen
ich ging durch einen niedrigen Laufgang in einer bröckelnden Mauer und fand mich
            in einer kurzen verlassenen Straße wieder
eine Straßenlaterne leuchtete nicht; unter ihr stand ein grünes Militär–
           Auto
ich musste mehreren großen Kisten ausweichen, die vor dem Haus mit dem
            Schild Böttcherei aufgestapelt waren; als ich in völliger Dunkelheit
            an dem Militärauto vorbeiging, merkte ich, dass am Fahrgestell etwas
            hing. Ich bückte mich tief, um die Sache genauer ins Visier zu nehmen
            und erst nach einer Weile, als ich vergebens in die Dunkelheit starrte,
            erkannte ich, dass dort ein zusammengekauerter Soldat hockte. Er war
            klein und durchfroren, also konnte ich ihn „in die Hände nehmen und
            in sein Gesicht hauchen“. Er begann zu zittern, noch im Schlaf, dann
            zuckte er plötzlich heftig und riss die Augen weit auf; es sah so aus, als
            ob sich euch bei starkem Wind der Regenschirm umstülpen würde.
            Ihm klapperten die Zähne und er war keines Wortes fähig. Mir fiel nichts ein,
            wie ich ihn am besten hätte behandeln können, aber schließlich wickelte
            ich ihn in eine Zeitung, vorsichtig, damit die rauen Papierkanten sein
            Gesicht nicht verletzen würden, und trug ihn schnell ins Warme.

Ich stieg die Treppe zu meinem „Arbeitszimmer“ hoch und hoffte,
            unterwegs niemandem zu begegnen. Oben jedoch knarrte die Tür,
            und jemand kam die Treppe herunter. Ich verdrückte mich mitsamt
            meines Päckchens in eine dunkle Ecke und wartete, bis die Gestalt
            an mir vorbeigegangen war. Dann auf einmal, als wäre etwas entfesselt,
            öffneten sich auch Türen in den unteren Stockwerken, aber man
            konnte nicht unterscheiden, wer in welche Richtung ging. Ich lief
            erstaunlicherweise unbemerkt durch das Gepolter die Treppe zum Dachboden hinauf,
            mit der linken Hand schloss ich auf, währenddessen ich mit der rechten Hand
            immer noch den Soldaten festhielt, der jetzt viel schwerer wog, als vorher.
            Zu Hause konnte ich den Soldaten auspacken: er war völlig durchnässt und
            in seinem Gesicht war der Zeitungstext abgedrückt. Erst jetzt stellten wir uns
            einander vor. Eine Weile lang dankte er mir. „Willst du nicht einen Joghurt?“
            fragte ich. Er schüttelte den Kopf; ich sprang schnell zu ihm, denn einen
            Augenblick lang schien es, dass sein Kopf allzusehr aufgeschmolzen war.
            Sein Blick streifte die Bücher, die an den Wänden aufgetürmt waren,
            und er begann leise, den roten Teppich auf und ab zu spazieren.
            Plötzlich drehte er sich zu mir um. „Was wünschen Sie, dass von Ihnen übrigbleibt?“ –
             „Wie meinen Sie das: übrigbleibt...?“ – „Was soll versteckt, was verbrannt, was
            veröffentlicht, was weggeworfen, was vergraben, was genehmigt, was übersetzt,
            was herausgesucht, was verlegt, was geehrt und was entehrt werden und so weiter...
            Etwa nicht?“ – „Gewiss doch, aber ...“ – „Was aber?“ – „Aber… nichts,“
            antwortete ich im selben Moment mit einer ziemlich vagen Schulter–
            Bewegung. – „Gut. Das lässt sich einrichten.“ – Ich war mir nicht sicher,
            ob ich mich bei ihm bedanken sollte. Weil er so klein war, kletterte
            er auf einen Stapel Kinderliteratur, dann über einen Stapel Detektivromane,
            kroch auf allen Vieren und stand plötzlich dicht vor mir. Er spannte sich
            noch mehr in sich zurück, und das einzige, was aus ihm herausragte, war seine
            Privatwaffe. –
„An die Wand!“ und zielte gegen mich.
Also stellte ich mich an die Wand.
„Halt!“
Regungslos stand ich da.
„Halt!“ schrie er schon mit schärferer Stimme.
Ich zuckte nicht einmal.
„Halt!“ schrie er zum dritten Mal und schoss…

ein verwundetes Mädchen fiel in das Schilf in die Nähe der im Vorjahr abgeschossenen Wild–
            Ente
wir schlafen derweil ein und lassen zwei Hunde laufen
die so abgemagert sind dass sie nach allen Seiten Staub aufwirbeln
über das feuchte Gras das längst schon die Farbe der Schul–
            Bänke verloren hat
über alte Strohteile über Steine über den alten Wald
über kleine Sträucher mit silbernen Beeren
wir hätten schon längst irgendwo einschlafen sollen wie wenn man ins Wasser fällt
aufs Wild scheißen
was soll man mit dem Wild machen ins Wasser oder auf den Kopf gefallen
das Manuskript ändern ohne Sehnsucht nach japanischen Weiden–
            hemden zu leben
die Kerben und den abblätternden Lack auf dem Bücherregal beobachten
niemandem nichts anvertrauen selbst nicht in leeren Räumlichkeiten
abwarten
abwarten bis die haarenden Hunde mit erlegten Vögeln in den Zähnen zurückkehren
die ihnen vor einer Weile zu verwesen begannen


Prag, März 1960 – Domažlice, Januar 1961



* Bei Oldřich Wenzl (1921-1969) handelt es sich um einen zur surrealistischen Gruppierung Skupina Ra angehörenden Dichter, der seine letzten neun Jahre – an der multiplen Sklerose erkrankt – im Krankenhaus seiner Geburtsstadt Mělník verbrachte, wo der Großteil seines dichterischen Werkes entstand.



Aus dem Gedichtband: Zborcené plochy (Torst 1996; dt. Gekrümmte Flächen).


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