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Sprache im technischen Zeitalter, Nr. 242 // Transistor5

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Michael Braun

Zeitschrift des Monats

Sprache im technischen Zeitalter, Nr. 242 //  Transistor5


DREI  STUDIEN ZU  FIGUREN  AM FUß  EINER  KREUZIGUNG



Der schöne alte Begriff der „Aura“, den einst Walter Benjamin für die ästhetische Theorie nutzbar machte, ist aus dem literarischen Gespräch unserer Tage verschwunden. Beim Lesen in den Gedichten des 1963 in der sächsischen Provinz geborenen und seit langem in Berlin lebenden Dichters Andreas Altmann erscheint es indes angezeigt, auf Benjamins Kategorie zurück-zugreifen. „Die Aura einer Erscheinung erfahren“, so lautete die berühmte Definition im Aufsatz „Über einige Motive bei Baudelaire“, „heißt sie mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen.“ Andreas Altmanns Wahrnehmung der Welt hat viel zu tun mit der Restituierung einer verlorenen Aura. Wohin auch der Blick des Dichters sich wendet – es ist fast eine auf Dauer gestellte Emphase der Augenblicke –, treten die Naturdinge, Gegenstände oder Objekte strahlend in Erscheinung und schlagen den Blick auf. Im Gedicht „bühne“, nachzulesen im Band Weg zwischen wechselnden Feldern (2018), verwandelt sich die Welt umgehend in ein geheim-nisvolles Territorium, umweht die Akteure ein naturmagischer Zauber: „gesänge kommen aus dem wald, hellen/ die bäume auf, die dunkel zueinander stehen./ davor kreist ein milan auf der wiese, / auf der sich weiße kleider in den körpern drehen,/ vom licht bestickt, vertanzen sie die zeit.“ Ein eigentümlicher Naturzauber wird hier evoziert, eine von Gesang animierte Bewegung von Licht und Körpern, verbunden mit dem rätselhaften Bild von weißen Kleidern, die sich in den Körpern drehen.

In welch intensiver Weise Altmann seine poetischen Verwandlungsprozesse ins Werk setzt, lässt sich nun im aktuellen Heft der Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter (Nr. 242/2022) genau studieren. Die Zeitschrift präsentiert nicht nur zehn neue inspirierte Gedichte Altmanns, sondern auch einen klugen Kommentar Mirko Bonnés zu zwei exemplarischen Texten des Dichters. Die „Fieberkurven“ (Bonné) von Altmanns poetischer Wahrnehmung setzen meist bei der Betrachtung undomestizierter Natur und ländlicher Szenerien ein, in denen alle „menschlichen geräusche“ gelöscht sind: „die stille war hell, sodass man jeden schritt/ sehen konnte, der den körpern folgte. gelb floss/ das licht in strömen. Die kraniche waren alle verschwunden./ nur einer humpelte über das stoppelfeld. sie ahnten das eis,/ das die wände aufbrechen würde, in deren sprüngen/ sich wasser gesammelt hatte. die lichtinseln wanderten./ ich hörte jedes wort, das sich verschwieg. wenn ich sie/ aufsage, verlieren sie mich.“ Das lyrische Ich betreibt eine poetische Apologie der Illumination, einen Licht-Enthusiasmus, der alles Beobachtete in eine auratische Sichtbarkeit rückt. Zugleich ist eine verhaltene Skepsis gegenüber den Wörtern da, ein Bewusstsein dafür, dass poetisches Sprechen etwas ausdrückt und zugleich verbirgt.
       Ein zweites außerordentliches Ereignis in diesem Lyrik-Schwerpunkt von Sprache im technischen Zeitalter sind die Gedichte der seit vielen Jahren in Kalifornien lebenden Autorin Jennifer Poehler. Seit ihrem Lyrik-Debüt Türkises Alphabet, das 1994 bei Schöffling erschien, hat sie keinen Gedichtband mehr veröffentlicht. Dass sie aber nichts von ihrem poetischen Vermögen der hypnotischen Selbstbeobachtung und der intensiven Fügung starker Bilder eingebüßt hat, zeigen ihre hier abgedruckten Gedichte. Die Bewegungsverläufe der Imagination zeigen einen poetischen Geist, der nur im fortdauernden Unterwegssein Erkenntnisse gewinnen kann und im „sanften auffalten gegen die schwerkraft“: „wurzelfieber fasern verblasster topografie, standorte / über ihre benennung hinausgewachsen: amorphe punkte / belebte straßen, bergketten etwa von wudang oder den alpen/ das votiv, das im regen den heiligen die tränen reicht.“   
     Weitere Höhepunkte im Heft sind Dagmara Kraus´ hinreißende Untersuchung des „prozessualen Umherschweifens“ und des „Wunders der Autopoiesis“ in der Dichtung Elke Erbs und Hannes Bajohrs akribische Analyse eines Ulrike Draesner-Gedichts, das nach den „Permutationsalgorithmen“ des sogenannten „Wechselläutens“, des in ländlichen Regionen Englands praktizierten „change ringing“ gebaut ist.

Auf eine starke Ausstrahlung poetischer Energie hofft man auch beim neuen Heft, der Nr. 5 von Transistor, das nach einigen pandemiebedingten Verzögerungen nun endlich erschienen ist. Etwa die Hälfte der zwölf Beiträge sind mit der Klärung von Rahmenbedingungen und von paratextuellen Aspekten der Poesie-Präsentation in Zeiten der Pandemie befasst – und mit der Auslotung des Verhältnisses von Sprache und Körper, von Bewegung und Stimme, von Text und Publikum. Nicht in allen Fällen sind solche Betrachtungen instruktiv. Denn dass „ästhetische Präsenz“ in der Regel „situational“ gedacht werden muss (so Lena Vöcklinghaus), „als etwas, das sich in einem bestimmten Moment zwischen zwei Menschen, einem Menschen und einer Aufführung, einem Menschen und einem Kunstwerk ereignet“, sollte sich eigentlich von selbst verstehen. Wo das Nachdenken über die poetische Selbstdarstellung und das Betreten eines öffentlichen Raums mit der eigenen Lebens- und Körpergeschichte verbunden wird, entstehen aber aufschlussreiche Texte. Ulrike Feibig beschreibt ihren Weg aus der Lautlosigkeit als Kind in die Körpersprache des Tanzes und vom vorsichtigen Überwinden des „Schutzwalls aus Schweigen“. Zu den ergiebigsten Textstrecken in Transistor gehören die widerständigen Gedichte von Georg Leß, die sich erkennbar gegen ein vorschnelles Verstehen und Einverstandensein sträuben. Es sind Gedichte, die jederzeit mit dem Schrecken rechnen, die mit kubistischer Wucht ein „Kinderlied“ mit den Albtraumbildern Francis Bacons kurzschließen können. Die Betrachtung von Bacons Three Studies for Figures at the Base of a Crucifixion ist im Gedicht mit dem deskriptiv anmutenden Titel Spezies und Pinnwand der Ankerpunkt, von dem aus alles aus den Angeln gehoben werden kann. Es sind diese drei langhalsigen biomorphen Figuren Bacons, augenlos, zum Teil schreiend, die vielleicht vom Geheimnis unserer Spezies wissen – ein Wissen, das auch in den Gedichten von Leß gespeichert scheint. Der erkenntnishungrigste Text in Transistor 5 stammt von Regina Menke und widmet sich einem Zentralmotiv Ilse Aichingers. Es geht um ihren Text Dover und um den Umgang Aichingers mit der Silbe Ver und deren Affinität zum Verschwinden. Die weißen Klippen der Küstenstadt Dover blieben zeitlebens der geografische Fixpunkt von Aichingers Utopie der Freiheit. In mehreren Prosastücken wird der 4. Juli 1939 als ein entscheidender Augenblick im Leben ihrer Familie aufgerufen – jener Tag, an dem ihre Zwillingsschwester Helga mit einem von der „Society of friends“ organisierten Kindertransport vom Wiener Westbahnhof nach England aufbrechen konnte, Richtung Dover. Fazit: „Es wird die mißratene Verzweiflung nicht beiseite schieben, die unsere ist. Dover nicht.“


Sprache im technischen Zeitalter, Nr. 242 (2022), Literarisches Colloquium Berlin, Am Sandwerder 5, 14109 Berlin. 132 Seiten, 14 Euro.
Transistor5 , transistor@posteo.de , 108 Seiten, 10 Euro.


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