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Sprache im technischen Zeitalter, Nr. 240 (2021)

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Michael Braun

Zeitschrift des Monats

Sprache im technischen Zeitalter, Nr. 240 (2021)

ZERSAMMLUNG


Der Weg durch die „Straßen der guten Gedichte“ im Prenzlauer Berg in Berlin ist heute kein Abenteuer mehr. Aber vor rund vierzig Jahren waren diese Straßen das Zentrum einer ungeheuren poetischen Energie. Lutz Seilers preisgekrönter Roman „Stern 111“ (Suhrkamp 2020) hat die Erinnerung an dieses dereinst von dissidentischen Ästhetiken wimmelnde Terrain der Ostberliner Undergroundkultur wiedererweckt. Sein Protagonist Carl Bischoff geht im Herbst 1989 auf Entdeckungsreise in den „Straßen der guten Gedichte“, das legendäre Gedicht „Kastanienallee“ von Elke Erb im Hinterkopf: „Im Treppenhaus Kastanienallee 30 nachmittags/ um halb fünf roch es flüchtig/ nach toten selbstvergessenen Mäusen.“ Der gelernte Maurer Carl arbeitet im Roman an einer Handvoll Gedichte, sieben Gedichte liegen auf seinem Schreibtisch. Eines davon, das Gedicht „Rykestraße“, ist nun viele Jahre später in Lutz Seilers Gedichtband „schrift für blinde riesen“ (Suhrkamp 2022) wieder aufgetaucht.
      Die Aktivisten der später von Adolf Endler so titulierten „Prenzlauer Berg Connection“ waren in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren andere Autoren: Feuerköpfe wie Jan Faktor, Bert Papenfuß und Stefan Döring etwa, die 1985 in der subkulturellen Zeitschrift „Schaden“ das Manifest „Zoro in Skorne“ veröffentlichten und dort die „tumultane Zügellosigkeit“ einer neuen antigrammatischen Poetik gegen die Imperative der DDR-Kulturpolitik einforderten. Nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns im November 1976 hatte sich der Prenzlauer Berg immer mehr zum Mekka einer gegenkulturellen Bewegung entwickelt, in dem jüngere DDR-Autor*innen zusammentrafen, die in den offiziellen DDR-Verlagen nicht publizieren konnten. Es bildete sich eine Subkultur privat organisierter Zirkel und Salons, die von Frank-Wolf Matthies, Gerd und Ulrike Poppe sowie Ekkehard Maaß betrieben wurden. Als janusköpfiger Zuchtmeister der Bewegung präsentierte sich gerne Sascha Anderson, der mit bemerkenswerter Omnipräsenz seine Kreise zog, bis Wolf Biermanns Entlarvungsrede im Oktober 1991 sein Rebellen-Image zerstörte, da nun die massive Stasi-Verstrickung von „Sascha Arschloch“ (Biermann) bekannt wurde.
       All diese Vorgänge um den Mythos des Ostberliner Undergrounds sind bereits vor etlichen Jahren von klugen Literaturhistorikern wie Klaus Michael und Peter Böthig, die selbst der Prenzelberg-Szene nahestanden, minutiös aufgearbeitet worden. Die Helden der „Prenzlauer Berg Connection“ sind mittlerweile älter geworden, ihre Aura ist verblasst. Einige Kombattanten der Bewegung sind gestorben, wie Frank Lanzendörfer, der sich im August 1988 von einem Feuerwachturm stürzte, oder Matthias Baader-Holst, der 1990, am Tag der Währungsunion, unter die Räder einer Straßenbahn geriet. Ulrich Zieger, einer der größten Sprachkünstler der Szene, hatte sich bereits 1989 nach Südfrankreich zurückgezogen und starb 2015, kurz nach der Veröffentlichung seines bei S. Fischer publizierten surrealistischen Romans „Durchzug eines Regenbandes“. Rainer Schedlinski, der Herausgeber der Zeitschrift „Ariadnefabrik“ und Mit-gründer des Druckhauses „Galrev“, der nach der Wende wie Anderson als Stasi-Mitarbeiter enttarnt wurde, erlag 2019 einer schweren Krankheit.
      Viele Prenzlauer Berg-Aktivisten aus der damaligen Zeit sind kaum mehr präsent, Autoren wie Stefan Döring, Frank-Wolf Matthies oder Andreas Koziol, die vor und nach der Wende von Verlagen umworben wurden, veröffentlichen mittlerweile nur noch in Kleinsteditionen.  

Einen bemerkenswerten Rückblick auf die Wirkungsmacht der Prenzlauer-Berg-Connection legt nun der junge Literaturhistoriker Lukas Nils Regeler in der aktuellen Ausgabe von Sprache im technischen Zeitalter (No. 240) vor. In einem umfangreichen Aufsatz rekonstruiert Regeler die zwei Zersammlungs-Ereignisse, die 1984 und 1990 den Prenzlauer Berg-Mythos befeuerten. Im März 1984 trafen sich in Ostberlin rund fünfzig jüngere DDR-Autor*innen, die bis dahin nur in privat edierten Grafik-Lyrik-Mappen oder Künstlerbüchern publizieren konnten. Später sprach Leonard Lorek etwas abschätzig von einer „PR-Aktion“, die „darauf ausgerichtet war, eine Hierarchie im Ghetto zu präparieren“. Sechs Jahre später, als die Mauer gerade gefallen war, rief das LCB zur Zersammlung 90, eine auf acht Veranstaltungen angelegte Reihe, in der 27 Autor:innen aus der Szene auftraten. So fragwürdig auch der Mythos einer Ostberliner Dichter-Connection gewesen sein mag, so klar ist auch: Solche programmatischen Zersammlungen von Dichter:innen sind als Großereignisse heute kaum mehr vorstellbar. Bei aller umtriebigen Netzwerkerei haben sich die Lyriker:innen der Gegenwart in kleine konkurrierende Peergroups separiert, ein gemeinsames poetisches Kraftfeld einer bestimmten Gruppe ist – mit Ausnahme des Kookbooks-Verlags – nicht mehr zu erkennen.

Das neue Heft von Sprache im technischen Zeitalter hat noch zwei weitere essayistische Highlights zu bieten. Sie handeln von einer sehr alten und von einer technisch hochmodernen Kulturtechnik der Literaturproduktion. In einem erzählenden Essay widmet sich Christina Griebel den Verfahrensweisen der Lithographie, der Steinzeichnung als Voraussetzung des sogenannten Flachdruckverfahrens. In einer hochpoetischen Annäherung erinnert sie an die faszinierenden Anfänge des Steindrucks bei Alois Senefelder, der 1798 dieses Verfahren erfand: „Die Leichtigkeit des Schreibens auf dem Steine […] lockte mich dann an, den Stein selbst zum Abdruck brauchbar zu machen.“ Das andere Ende bei der materiellen Entwicklung der Schrift und der Poesie markiert dann Hannes Bajohr in seinem weit ausgreifenden Essay zum jüngsten technischen Stand der digitalen Literatur. Das sequenzielle Paradigma bei der Entwicklung maschinengenerierter Poesie sei nun von einem konnektionistischen abgelöst worden. Den sequenziellen Typus verkörpert eine Arbeit wie Nick Monforts Megawatt von 2014. Die textliche Oberfläche von Samuel Becketts Roman Watt, die mit sehr vielen Wiederholungsmustern arbeitet, wird hier unter Verwendung eines bestimmten Algorithmus und durch obsessive loops zu noch weiteren repetitiv fortgewebten Wörter-Schleifen animiert. Der konnektionistische Typus der digitalen Literatur erlaubt es nun, etwa mit dem Textgenerator GPT-3 recht menschenähnliche, wie von realen Autor:innen geschriebene Poeme zu erzeugen. Etwa so: [C]ompose a poem in the style of Wallace Stevens with the title Shadows on the way.” Folgt man solchen Vorgaben, könnte ein künftiges Museum der modernen Poesie maschinell komponiert werden.


Sprache im technischen Zeitalter, Heft 240 (2021) : Zersammelt. Böhlau Verlag/Brill Deutschland, Köln 2022, 148 Seiten,, 14 Euro. (Redaktion: Literarisches Colloquium Berlin, Am Sandwerder 5, 14109 Berlin)


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