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Slata Roschal: Kommentar zu Kommentaren zur Norm bei literarischen Texten

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Slata Roschal

Kommentar zu Kommentaren zur
Norm bei literarischen Texten


Auf Fragen wie „Das Kunstwerk, was ist es?“, „Woher und wie also gibt sich ein Kunstwerk von sich aus Normen?“ (Klaus F. Schneider) gibt es verschiedene ─ zum Glück akademisch fixierte und nachlesbare ─ Antworten. Mein Favorit ist die des russischen Formalismus, des Anfangs einer textbezogenen, nicht-hermeneutischen Literaturwissenschaft; so der wunderbare Aufsatz „Iskusstvo kak priem“, „Die Kunst als Verfahren“ von Viktor Šklovskij (wobei „priem“ im Deutschen so als terminus technicus bleibt):

И вот для того, чтобы вернуть ощущение жизни, почувствовать вещи, для того, чтобы сделать камень каменным, существует то, что называется искусством. Целью искусства является дать ощущение вещи, как видение, а не как узнавание; приемом искусства является прием „отстранения“ вещей и прием затрудненной формы, увеличивающий трудность и долготу восприятия, так как воспринимательный процесс в искусстве самоцелен и должен быть продлен; искусство есть способ пережить деланье вещей, а сделанное в искусстве неважно. [...] Вещи, воспринятые несколько раз, начинают восприниматься узнаванием; вещь находится перед нами, но мы ее не видим. Поэтому мы не можем ничего сказать о ней.

Und gerade, um das Empfinden des Lebens wiederherzustellen, um die Dinge zu fühlen, um den Stein steinern zu machen, existiert das, was man Kunst nennt. Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen; das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der „Verfremdung“ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert, denn der Wahrnehmungsprozeß ist in der Kunst ein Mittel, das Machen einer Sache zu erleben; das Gemachte hingegen ist in der Kunst unwichtig. [...] Dinge, die man viele Male wahrnimmt, beginnt man durch Wiedererkennen wahrzunehmen; der Gegenstand befindet sich vor uns, wir wissen davon, aber wir sehen ihn nicht. Deshalb können wir nichts über ihn sagen.

(1916)

Allerdings funktioniert nicht jede Verfremdung gleichermaßen zu jeder Zeit; die literarische Reihe entwickelt sich nach eigenen Gesetzen; eine Metapher, die vor hundert Jahren aktuell war, der „Bremsung der automatisierten Wahrnehmung“ diente, löst heute möglicherweise Schulterzucken, Nervosität, Langeweile aus. So Jurij Tynjanov in „Literaturnaja ėvoljucija“, „Literarische Evolution“:

Если мы условимся в том, что эволюция есть изменение соотношения членов системы, т. е. изменение функций и формальных элементов, эволюция оказывается „cменой“ систем. Смены эти носят от эпохи к эпохе то более медленный, то скачковый характер и не предполагают внезапного и полного обновления и замены формальных элементов, но оин предполагают новую функцию этих формальных элементов. Поэтому самое сличение тех или иных литературных явлений должно проводиться по функциям, а не только формам. Совершенно несходные по видимости явления разных функциональных систем могут быть сходны по функциям, и наоборот. Вопрос затемняется здесь тем, что каждое литературное направление в известный период ищет своих опорных пунктов в предшествующих системах, ─ то, что можно назвать „традиционностью“.
   Так, может быть, функции пушкинской прозы ближе к функциям прозы Толстого, нежели функции пушкинского стиха к функции подражателей его в 30-х годах и Майкова.

Wenn wir darin übereinkommen, daß die Evolution eine Veränderung der Korrelation von Gliedern eines Systems bedeutet, d. h. eine Veränderung ihrer Funktionen und formalen Elemente ist, so erweist sich die Evolution als „Ablösung“ des Systems. Diese Ablösungen haben von Epoche zu Epoche bald einen langsameren, bald einen sprunghaften Charakter und setzen keine plötzliche und völlige Erneuerung und keinen Tausch der formalen Elemente, sondern eine neue Funktion dieser formalen Elemente voraus. Daher muß auch der Vergleich bestimmter literarischer Erscheinungen anhand von Funktionen und nicht allein anhand von Formen gezogen werden. Die dem Aussehen nach nicht im geringsten ähnlichen Erscheinungen verschiedener funktionaler Systeme können ihren Funktionen nach ähnlich sein, und umgekehrt. Das Problem wird hier dadurch verdeckt, daß jede literarische Richtung in einer bestimmten Periode sich ihren Rückhalt in den vorausgegangenen Systemen sucht, ─ was man als „Traditionalität“ bezeichnen kann.
    So sind vielleicht die Funktionen der Prosa Puškins den Funktionen der Tolstojschen Prosa näher, als die Funktionen des Puškin-Verses den Funktionen seiner Nachahmer in den 30er Jahren und Majkovs.

(1927)

Es geht nicht um eine „Einigkeit einer Zeit darüber, was Qualität ist“ (Timo Brandt), das wäre tatsächlich „Unfug“, sondern um die innerliterarische Entwicklung, um den strengen zeitlichen Kontext künstlerischer Verfahren. Reime, Metren, Metaphern sind zu verschiedenen Zeiten nicht imstande, die jeweils gleiche Funktion zu erfüllen, und Bücher, die ihre innertextuelle Stellung durch namentliche und formale Verweise betonen, aber praktisch ignorieren, laufen Gefahr, Nebenprodukte der eigentlichen literarischen Reihe zu werden, zu der sie sich zählen möchten, die Literarizität abgesprochen zu bekommen oder auf kommende Generationen warten zu müssen, um wiederentdeckt zu werden.

─ zitiert nach: Strieder, Jurij (Hrsg.). Texte der russischen Formalisten. Band 1. München 1969.
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