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Siegfried Völlger: (so viel zeit hat niemand)

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Armin Steigenberger

Zurückgelehnte Verse, Evergreens und die O-Schwäche
 

Der Autor Siegfried Völlger ist in der deutschen Literaturszene bei weitem kein Unbekannter. Sein Name ist durch etliche Anthologien bekannt, die er herausgab; darunter bei so bedeutenden Verlagen wie Hanser/sanssouci, dtv. Wenn ein solcher Autor „erst“ im (wie es so schön heißt) reifen Alter mit einem eigenen Band debütiert, der noch dazu den verschmitzten Titel (so viel zeit hat niemand) trägt – so liegt darin ein ganz besonderer, augenzwinkernder, womöglich sogar selbstironischer Reiz. Ein Gedichtbandtitel in Klammern ist an sich schon etwas Besonderes (– mehr Understatement geht eigentlich nicht!), ein Farbtupfer in einer (wie sie einem dann plötzlich erscheint) irgendwie öden Titel„landschaft“. Unter all diesen Voraussetzungen muss man ihm wirklich gratulieren: Zum Debütband und zu seinem Understatement!

Wo wesentlich jüngere Autoren oft eine ganze Latte von erwähnenswerten  Einzelpublikationen vorweisen können, hat Siegfried Völlger gerade mal eine gemacht. Die Hintergründe dazu kenne ich nicht. Es kann sein, dass ein Buch sich für ihn bislang einfach noch nicht ergeben hat, weil niemand¹ so viel Zeit hatte. Es kann aber auch sein, dass der Autor bislang einfach nicht allzu viel Energie darauf verwendet hat, einen Band herauszubringen. Es kann aber auch sein – und diese Vorstellung gefällt mir eigentlich am besten – dass es ihm gar nicht so wichtig war, im hiesigen Literaturbetrieb unbedingt mit einem eigenen Titel herauszukommen.

Understatement ist, wie es aussieht, heute nicht mehr angesagt. Und da, wo Völlgers Gedichte sich sehr weit zurücklehnen und eine beneidenswerte Unaufgeregtheit an den Tag legen, wirkt es auf mich auf sehr sympathische Art geradezu bestechend altmodisch. Völlgers Gedichte haben, wie ich finde, die Ruhe weg. Der Gedichtband wirkt deshalb recht unaufdringlich, ohne müde, bedächtig oder gar bräsig zu sein; und eigentlich ziemlich oldschool, in einer Umgebung, in der sich jede*r praktisch permanent virtuell weit aus dem Fenster lehnt, abkämpft, postet und jeden neuen Fitzel seines Lebens live und in Echtzeit teilt.

Schon das allererste Gedicht, das der Sammlung als Solitär vorangestellt ist, kündet vom Reisen in steingeschwindigkeit² – was nicht nur eine völlig neue Art der Geschwindigkeit generell darstellt, wenn man bedenkt, wie manche Findlinge seit der Eiszeit über Gletscher und Driften hinweg an ganz andere Orte getragen werden; man sieht vielleicht vor dem inneren Auge auch das Epitaph, unter dem das lyrische Ich nach seinem irdischen Leben dahinreist. Also ist der Tod – der im Band auch immer wieder in verschiedenen Facetten und Spielarten auftaucht – gleich auch schon im allerersten Gedicht präsent.

ich reise gern
mit bäumen
man kommt weit
mit bäumen
und mit
guter geschwindigkeit

aber ich habe immer
die hoffnung
eines tages
reise ich
mit steingeschwindigkeit
                       
Vermutlich passt aber auch Understatement als Erklärung nicht, sofern es als Synonym für „bewusste Untertreibung“ herhalten muss, – dabei ist es, möchte ich meinen, noch nicht mal als Vorzeige-Understatement zu verstehen (das wäre ja auch ein Widerspruch in sich); es ist eher etwas sehr Entspanntes darin zu spüren – denn Völlger versammelt einfach – so mein durchgängiger Eindruck – die besten und gehaltvollsten Texte seines bisherigen Dichterlebens in einem Band, der immerhin über 80 Gedichte enthält³, und verwebt sie zu einem Ganzen, das – ich kenne nicht viele derartig konsistente Bände – eine Gesamtkomposition ergibt, die es in sich hat. Darunter etliche (fast will ich sagen:) Evergreens, die man teils schon aus Zeitschriften und Anthologien kennt.

KÖNIGSKINDER

falls ich herausfinde
dass wir keine
königskinder sind

beginnt der brückenbau
sofort               

Die Gedichte bleiben so gesehen auf dem Teppich, beschreiben das „normal Menschliche” und sind immer gewitzt, immer humorvoll, nie roh, nie grobschlächtig. Dafür oftmals auch ein wenig (mit Verlaub … sagen wir:) hintertückisch. Immerhin kann das lyrische Ich, bei einem gelegentlichen Anflug von Melancholie und Weltschmerz, doch wiederholt ganz hervorragend über sich selbst lachen.

Zu manchen Gedichten (oder sagen wir: Gedichtmotiven) gibt es Fortsetzungen, die man (so scheint es fast) erst in der Gesamtschau vollends erfassen kann. So bekommen Wörter wie Schnee, die im späteren Teil auch bei Gedanken an Selbstmord eine Rolle spielen, eine ganz eigene Färbung. Und selbst Steine ändern im Lauf der Lektüre chamäleonartig ihre Façon. Liest man den Band dann ein zweites Mal, oder liest spielerisch mitten hinein, erscheinen viele Worte im Band mit einem Mal neu und anders konnotiert, funkeln in der Völlgerschen Dichtungswelt auf ihre ganz eigene Weise und gewinnen so eine sehr spezielle Brisanz. Wer Völlgers verhaltenen, dunklen, sonoren und eher gedämpften Lesestil kennt, weiß, dass Gedichte bei ihm weder laut, triumphierend oder aggressiv noch dozierend oder just für den Showeffekt herunterdeklamiert wirken. Eher tut sich eine verhaltene Welt auf, die bei all dem Verschmitzten, Leisen, Zurückgenommenen gleichzeitig auch etwas Rätselhaftes, Zauberisches und schier Unergründliches hat. Es gibt Gedichte, die zu Ruhe, Gelassenheit und Entspannung raten. Aber es gibt auch geheimnisvolle, „dunkle“ Gedichte dazwischen; die sind es besonders wert, entdeckt zu werden. Dunkle Perlen sozusagen. Andere sind auch manchmal glatt, schlitzohrig und flutschen beim Lesen immer wieder davon; andere machen es einem nicht leicht. Ich hatte manchmal das Gefühl, als hätte ich einen apokryphen Baustein chinesischer Philosophie vor mir, dessen Lebensweisheiten so verdichtet sind, dass sie sich unterm Lesen schon davonstehlen – während man sich noch eine ganze Weile fragt, was man da gerade gelesen hat.

mond
treibe ich vor mir her

kleine rädchen
so liegt er auf dem weg

er hat keinen gott
weiß er

so wird das leben
oft noch nützlich                     

So gesehen sind Völlgers Dichtungen eine eigene, geschlossene Welt, die in sich erstaunlich konsistent bleiben. Dabei wird nichts ausgelassen. Es geht um diffizile Fragen gegenüber dem Glauben an einen Gott, um den Traum, fliegen zu können, um Gut und Böse und die O-Schwäche … es sind Gedichte aus verschiedenen Lebensabschnitten. Der Band entwickelt in seinen 7 Kapiteln sogar eine Art Gesamtplot (sofern sich das über eine Sammlung von Gedichten sagen lässt) – dergestalt, dass verschiedene Motive immer wieder auftauchen. Dabei ist vieles hintergründiger, viel hintergründiger, als man zunächst denkt. Es gibt, ganz im Gegensatz zu vielen kurzen, aphorismenhaften Gedichten auch immer welche, die lang und geradezu sperrig sind, und deren Schleier nie ganz gehoben werden kann.

NICHT

ich komm da nicht raus aber sterben will ich nicht
er ist schwarz und hat einen rand der ist rot
plötzlich ist es aus und er stellt sich vor das licht
(...)           

So beginnt ein sechsstrophiges Gedicht, das sich mit dem Thema Tod sehr intensiv auseinandersetzt. Dieser Text arbeitet als einziger in der Sammlung mit Reimen und Refrains. Völlgers Dichtungen sind sich immer ihrer selbst sehr gewiss. Sie wissen sehr wohl um ihren Inhalt. Sie müssen nicht vordergründig beweisen, was sie können. Das ist mir sehr sympathisch. Den Band umgibt, so gesehen, eine Art feierliches Laissez-faire. Wer möchte, findet darin auch so etwas Altmodisches wie pragmatische Lebensklugheit oder auch einen lebensklugen Pragmatismus. Beides jedoch zeichnet Wohlwollen aus.

LIEBE

noch ist es nicht gesagt
aber jetzt,
so erschöpft
sind nur kurze worte möglich             

Die interessanteste Erfahrung für mich beim Leseprozess war, dass die Texte im Vergleich zu anderen aktuellen Gedichtbänden auch sehr zurückhaltend sind, angenehm weit weg von der Hektik des Alltags und dem flattrigen Buhei des Literaturbetriebs.

Es gibt in den Gedichten so etwas wie introvertierte Heimatverbundenheit und man hört Völlgers süddeutsches Idiom beim Lautlesen manchmal durch. Damit man das nicht falsch versteht: Es ist nichts von all dem darin, was heute als Heimat im Sinne von lautem Patriotismus sprich Abschottungspolitiklauthals herumposaunt und eingefordert wird. Heimat ist hier etwas Positives: Es ist der Ort, wo es weitum warm zuhause ist, was aber daran liegt, dass ganz in der Nähe eines der tore zur hölle ist. Völlgers Dichtung hat auch mitnichten mit bayerischer Schmankerldichtung zu tun … all das gehört ebenso zum zurückgelehnten Charakter dazu. So „outet“ er sich im letzten Gedicht doch noch als jemand, der die bayerische Mundart gerne spricht und auch in Gedichten verwendet. Völlger behauptet von sich selbst, im Bayerischen Wald aufgewachsen zu sein, und genauso steht es auch im Klappentext.

DIE WIRKLICHKEIT

sie ist hereingekommen
hat mich angesehen
gelächelt, sich neben mich
gesetzt und ist geblieben

so war immer der traum
die wirklichkeit
war ganz genauso                   

Nach der Lektüre des Bandes sah ich an einem geradezu mediterran anmutenden Spät-sommernachmittag eine Weile mit Blick auf den Langwieder See die Schwimmer kreuzen. Ich dachte darüber nach, wie abgeschlossen (im Sinne von vollendet) dieser Band auf mich wirkt, und dass es ein Band ist, der ausnahmsweise mal nicht von einem Schreibenden für andere Schreibende geschrieben worden ist. Dichtung ist – solange Autor*innen und Leser*innen sozusagen unter sich bleiben – immer auch etwas sehr Selbstreferenzielles. Hier wird, jenseits von einfach nur guter Literatur, auch aus dem Leben berichtet. Diese Authentizität der Erfahrungen spürt man durchweg sehr intensiv; es geht darum, nicht nur den einen endlosen Sommer abzufeiern, sondern sein Leben mitsamt aller Berg- und Talfahrten halbwegs zu bestehen. Deshalb ist ein Schuss (ich nenne es:) Altersweisheit auch mal recht angenehm. Dabei sind die Aussagen, die manche Gedichte treffen, gelegentlich widersprüchlich, doch diese Widersprüche sind sehr wohltuend. Auch das eine Erfahrung bei der Lektüre des Bandes.

doama gloane
ganz unsrige
sachan afschreim
woma blos vo uns vozejn

ned vom umbringa
vo de hungrign
vo da wejd

ganz vo uns vozejn
vo uns
gloa
blos hoid woa
                         

¹   Also der Autor?
²  Ein Wort, bei dem die Autokorrektur-App von Open Office offensichtlich so ratlos ist, dass sie mir alles Mögliche anbietet, von der „Scangeschwindigkeit“ über die !Schergeschwindigkeit! bis hin zu einer ominösen Asteingeschwindigkeit (SIC!) ...
³  Also dicker als ein „gewöhnlicher“ Allitera- bzw. Lyrikedition 2000-Band
⁴  
Von politischen Parteien rechts der Mitte.


Siegfried Völlger, geboren 1955 im Bayerischen Wald, lebt in Augsburg. Nach einer längeren Berufsfindungsphase (Bauarbeiter, Fabrikarbeiter, Spüler, Krankenpfleger, Wirt …) hat er die Berufung zum Buchhändler entdeckt. Erste Veröffentlichungen – Mundart-Gedichte – in den 70er-Jahren. Er veröffentlichte zahlreiche Gedichte in Zeitschriften und Anthologien. Beiträge u. a. in „bayerns bestes. Das Reise- und Genussmagazin“. Zusammenarbeit mit Fritz Keil, Komponist, Wien. Herausgeber bei Hanser/sanssouci, dtv.

Siegfried Völlger: (so viel zeit hat niemand). Gedichte. München (Allitera Verlag - Lyrik Edition 2000) 2018. 102 Seiten. 14,90 Euro.
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