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Shirley Campbell Barr: Meine Großmutter erzählte mir nichts

Werkstatt/Reihen > Reihen > ´Barrio latino
Foto: privat
SHIRLEY CAMPBELL BARR
aus dem costa-ricanischen Spanisch von María Ignacia Schulz und Daphne Nechyba


MI_ABUELA_A_MÍ_NO_ME_HABLÓ_

Mi abuela a mí no me habló
no me peinó de trenzas
no me cargó en su regazo
ni calmó mi llanto
no enseñó a mi madre el oficio de serlo.
No me cantó canciones
ni me llenó el rostro con besos de abuela.

No le alcanzó la vida
para preparar guisos de abuela
en ollas ennegrecidas de tanto uso y de tanto amor
guisos con sabor a manos de abuela
arrugadas y llenas de historias.
Mi abuela a mí no me habló
no tomó la mano de mi madre
cuando nací
ni la reprendió con voz de abuela
cuando fue dura conmigo.

Es que ella no estaba
no alcanzó llegar
muy a pesar de sus intentos por mantenerse viva
solo consigo verla
de vez en cuando,
en la tímida sonrisa de mi madre
o en los ojos grandes y brillantes de mi padre.


MEINE_GROSSMUTTER_ERZÄHLTE_MIR_NICHTS_

Meine Großmutter erzählte mir nichts
sie flocht mir keine Zöpfe
holte mich nicht auf ihren Schoß
um mich zu trösten
und lehrte meine Mutter nicht das Muttersein.
Sie sang mir keine Lieder
und gab mir keine Omaküsse.

Das Leben reichte ihr nicht
um in vor lauter Liebe und Kochen verrußten Töpfen
Gerichte zuzubereiten
die nach Oma schmecken
mit Händen voller Falten und Geschichten.
Meine Großmutter erzählte mir nichts
sie hielt nicht die Hand meiner Mutter
als ich geboren wurde
und rügte sie auch nicht mit Omastimme
wenn sie streng mit mir war.

Denn sie war nicht da
trotz ihres Lebenswillens
konnte sie nicht bei uns bleiben
nur ab und zu
erkenne ich sie
im schüchternen Lächeln meiner Mutter
oder in den großen leuchtenden Augen meines Vaters.


Aus SHIRLEY CAMPBELL BARR: Vollkommen Schwarz / Rotundamente Negra
Aus dem costa-ricanischen Spanisch von María Ignacia Schulz
und Daphne Nechyba
Frontispiz: Abiona Esther Ojo:
»Sie kann mit ihren Händen zaubern«.
Cyanotypie auf Baumwolle, 2021.
Übersetzungslektorat: Johanna Schwering
Satz und Layout: Fagott, Ffm
Alle Rechte liegen bei den Urheberinnen.
hochroth Heidelberg 2022
ISBN: 978-3-949850-15-8


SHIRLEY CAMPBELL BARR wurde in Costa Rica geboren. Sie ist eine Schwarze Schriftstellerin und Poetin sowie Anthropologin, Forscherin und Aktivistin, die sich für die Rechte, gesellschaftliche Teilhabe und Sichtbar-keit von Schwarzen Communitys und insbesondere von Schwarzen Frauen in Lateinamerika einsetzt. Zu ihren Gedichtsammlungen gehören De negro vengo ataviada (2021) und Rotundamente Negra y otros poemas (2014 und 2017). Teile ihres Werks wurden bereits ins Englische, Fran-zösische, Portugiesische und nun erstmals ins Deutsche übersetzt.
MARIA IGNACIA SCHULZ ist eine afrokolumbianisch-deutsche Autorin und Übersetzerin sowie Mutter dreier Söhne. Sie hat Sprach- und Literatur-wissenschaften studiert und an der Universidad de Cartagena gelehrt. Seit 2005 lebt sie in Deutschland, wo sie 2011 Mitbegründerin der Literaturzeit-schrift »alba. Lateinamerika lesen« war, deren Co-Herausgeberin und Redakteurin sie bis 2019 blieb. Zuletzt erschien ihr Text La urgencia del consuelo. Cartas de mujeres colombianas (2020).
DAPHNE N ECHYBA ist eine afroösterreichische Übersetzerin für die Sprachen Englisch, Spanisch und Deutsch. Sie studiert Internationale Entwicklung an der Universität Wien und Global Public Policy an der SOAS in London. Außerdem engagiert sie sich innerhalb der Schwarzen Community in Wien und leitet Workshops zum rassismuskritischen Umgang mit Sprache. Zuletzt erschien ihre Übersetzung von bell hooks mit dem Titel Männer, Männlichkeit und Liebe: Der Wille zur Veränderung (2022).
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