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Schreibheft Nr. 99 (2022)

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Michael Braun

Zeitschrift des Monats

Schreibheft 99 (2022)

„WIR WERDEN UNS GEGENSEITIG ERWÜRGEN“ –
George Oppen und der Objektivismus



„Eine Notiz an Pound im Himmel: Nur ein Fehler, Ezra: Du hättest mit Frauen reden sollen.“
         Mit dieser lakonischen Botschaft, die er seinem schwierigen Dichterfreund Ezra Pound ins Jenseits hinterherschickte, hat der große Gedankenpoet, Kommunist und Sprachskeptiker George Oppen (1908-1984) die große Differenz zwischen den modernen Dichtern Amerikas auf eine prägnante Formel gebracht. Ezra Pound, der Sohn eines Münzprüfers aus Idaho, hatte ein Dichter der Superlative werden wollen und geriet in den dreißiger Jahren ins politische Fahrwasser größenwahnsinniger Männer. Neben der Arbeit an seinen überwältigenden „Cantos“, diesen Welt-Gesängen über die Quellen unserer Schöpferkräfte seit der Antike, schrieb Pound Brandbriefe an die Premierminister und Ministerpräsidenten Europas und forderte Maßnahmen gegen die internationale Hochfinanz, in denen er die verschworene Klasse der Kriegstreiber am Werk sah. Nach seinem Umzug nach Rapallo 1925 entwickelte er sich bald zum glühenden Verehrer Benito Mussolinis. Gleichzeitig unterstützte er weiterhin die avantgardistischen Bewegungen in den USA, so auch die „Objectivists“, eine Gruppe von Autoren, der neben Louis Zukovsky und Carl Rakosi auch der überzeugte Kommunist George Oppen angehörte. Oppens Biografie repräsentiert das aktivistische Gegenstück zu Pounds politischer Verblendung. Oppens Großvater, ein deutscher Jude aus Baden mit Namen August Oppenheimer, war 1858 als Jugendlicher nach New York gekommen, wo er einen florierenden Diamantenhandel aufbaute. 1927 änderte die Familie den Namen, Oppenheimer wurde gekürzt in Oppen. Oppens Vater wurde Besitzer einer Kinokette. Sein Sohn George schien auf dem Weg zu einer tragischen Biografie zu sein, als er in den 1920er Jahren einen Autounfall verursachte, bei dem sein Beifahrer ums Leben kam. Gemeinsam mit seiner Frau Mary Colby verschlug es George Oppen dann nach New York, wo er bald Louis Zukovsky und Charles Reznikoff kennenlernte, später die überaus erfolgreichen Kollegen William Carlos Williams und Ezra Pound. Dort begründete Oppen mit Zukofsky und Reznikoff eine Gegenbewegung zu der von Pound erfundenen „Imagistischen Schule“. Gegen die „Imagisten“ mit ihrer Favorisierung des scharf umrissenen Bildes setzten Oppen und seine Freunde auf die Arbeit an der Form. Damit war der „Objektivismus“ geboren.
      Was es mit diesem „Objektivismus“ auf sich hat, kann man nun in einem vorzüglichen Dossier der neuen Ausgabe des Schreibhefts nachlesen. Das ist wieder eine jener literatur-historischen Pionierarbeiten, mit denen uns der Schreibheft-Herausgeber Norbert Wehr seit nunmehr 40 Jahren (seit 1982 betreibt er die Zeitschrift im Alleingang) in schöner Regelmäßigkeit versorgt.
        Denn während Oppens Dichterfreunde nach 1945 allmählich auch in Deutschland Resonanz fanden, blieb Oppens Werk hierzulande bis 2012 völlig unbekannt, ein weißer Fleck auf der Landkarte der amerikanischen Moderne. Dann erschien 2012 Oppens Gedichtband „The Materials“ in der fabelhaften Übersetzung von Norbert Lange („Die Rohstoffe“) im mittlerweile verblichenen Verlag Luxbooks – ein Buch, das derzeit nur noch antiquarisch zu bekommen ist. Das von der Oppen-Vertrauten Rachel Blau DuPlessis zusammengestellte und von Stefan Ripplinger übersetzte Oppen-Dossier im Schreibheft ist nun der zweite Versuch, dem poetischen Denker mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Hier findet man beispielsweise ein von Lawrence S. Dembo geführtes Interview aus dem Jahr 1968, in dem Oppen den schlichten Grund für den Begriff „Objektivismus“ nennt: „Die Leute glaubten, er bezeichne eine psychologische Objektivität. In Wahrheit ist damit die Objektivierung des Gedichts gemeint, nämlich daß aus dem Gedicht ein Objekt wird.“ Oppen legte sehr viel Wert auf die Arbeit an der Form – was in seinem Falle bedeutete, den Wortbestand auf das absolute Minimum zu reduzieren. Und er benennt prägnant, wie es zu seinem langen Schweigen kam, denn immerhin schrieb er 24 Jahre lang, von 1934 bis 1958, keine Gedichte. In diese Zeit fallen sein entschiedenes Engagement für den Kommunismus, sein Fronteinsatz in den Ardennen 1944, wo er schwer verwundet und traumatisiert wurde, und seine Flucht vor dem inquisitorischen Komitee des Senators McCarthy. Nach seinem Debüt mit dem Band Discrete Series von 1934 betätigte sich Oppen als kommunistischer Aktivist und organisierte Streiks. Später meldete er sich freiwillig zum Kriegseinsatz und wurde 1944 während der sogenannten „Ardennen-Offensive“ der Wehrmacht schwer traumatisiert, überlebte er doch als Einziger seiner Kompanie. Erst 1958 kehrte er nach New York zurück und widmete sich wieder der Poesie. Die Grunderfahrung des Schocks im blutigen Kriegseinsatz manifestiert sich auch in den Gedichten, die die Schriftstellerin Rachel Blau DuPlessis für das Schreibheft ausgewählt hat. „Diese kleinen Drecklöcher“, heißt es an einer Stelle, „Das Gedicht handelt von ihnen / Unsere Herzen verkrampfen sich/ Ob der toten Männer Stolz / Tote rücken uns auf die Pelle/ Tote beugen sich über uns / In den Geschützständen / Der Schädel wirbelt/ Entleert vom Subjekt/ Das hohle Ich/ Zurückzuckend vor der gewaltigen Kriegsluft/ Obwohl wir bloß Laufburschen sind und Barmänner/ Werden wir uns gegenseitig erwürgen“.
       Neben dem üppigen Oppen-Dossier enthält das Schreibheft naturgemäß noch weitere Schätze als Erstveröffentlichung. Das Intro des Heftes bildet ein furioses dreisprachiges und bildstarkes Gedicht von Yevgeniy Breyger, Aprillen, ein Poem, das deutsche, englische und russische Passagen miteinander verbindet, zugleich eine Fortschreibung seiner T.S. Eliot-Übersetzung aus dem Schreibheft 98. Den Mittelteil bildet ein Dossier zum 100. Todestag von Marcel Proust, das durch eine akrobatische Proust-Hommage des kroatischen Schriftstellers Bora Ćosić eröffnet wird: „Ich möchte, dass mir jemand erklärt, wie überhaupt Bücher geschrieben werden, bemerkte der Onkel. Das ist doch einfach, antwortete der Prokurist, was in zwanzig Jahren geschieht, stopft man in einen einzigen Satz.“ Und am Ende steht die Entdeckung der chinesischen Avantgarde-Schriftstellerin und Performerin Can Xue (Jg. 1955). Die Leistung, die Schreibheft-Herausgeber Norbert Wehr mit seiner mittlerweile vier Jahrzehnte währenden Expedition durch die noch unerforschten Kontinente der Weltliteratur vollbracht hat, ist unermesslich.


Schreibheft 99 (2022), Nieberdingstr. 18, 45147 Essen, 180 Seiten, 15 Euro.


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