Sarah Kirsch: Freie Verse
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Timo Brandt
Sarah Kirsch: Freie Verse. 99 Gedichte – mit 19 bislang unveröffentlichten Gedichten. München (Manesse Verlag) 2020. 128 Seiten. 20,00 Euro.
Die freien Verse der Sarah Kirsch
„Ich bin ein Tiger im RegenWasser scheitelt mir das FellTropfen tropfen in die AugenIch schlurfe langsam, schleudre die PfotenDie Friedrichstraße entlangUnd bin im Regen abgebranntIch hau mich durch Autos bei RotGeh ins Café um MagenbitterFreß die Kapelle und schaukle fortIch brülle am Alex den Regen scharfDas Hochhaus wird nass, verliert seinen Gürtel(ich knurre: man tut was man kann)Aber es regnet den siebten TagDa bin ich bös bis in die WimpernIch fauche mir die Straße leerUnd setz mich unter ehrliche MöwenDie sehen alle nach links in die SpreeUnd wenn ich gewaltiger Tiger heuleVerstehn sie: ich meine es müsste hierNoch andere Tiger geben.“
Meine erste Begegnung mit der Dichterin Sarah Kirsch war das obige Gedicht „Trauriger Tag“, auf das ich in einer Anthologie stieß, die ich als Teenager durchblätterte. Wie elegant und bildhaft, einfach und doch rätselhaft war dieses Gedicht, in dem ein Tiger durch das verregnete Berlin streift und das mit einem der (für mich) besten Schlusssätze aller Zeiten aufwartet.
Natürlich übersah ich damals, ganz gebannt von der Bewegung des majestätischen Tiers, der herausgearbeiteten Befindlichkeit und den beinahe schrullig wirkenden Bildern, die Hintergründe und Kontexte, vor denen das Gedicht existierte/in die es sich stellen ließ.
Da ist zum einen der Hinweis, es regne den siebten Tag, eine Anspielung auf Schöpfungsakt und Sintflut, auf Gottes Segen und Gottes Urteil gleichermaßen. Da ist die Figur des Tigers, des stolzen, aber aussterbenden Einzelgängers, gefährlich und mächtig, doch einsam und im Verschwinden begriffen, bedroht und rastlos. Und da sind die Möwen, die alle links in die Spree schauen und damit kennzeichnen, in welchem Teil von Berlin wir uns hier befinden.
„Im Glashaus des Schneekönigs sprechen die Vögel ver-nünftig. Wir sind seine Gäste, er schaut erst abends her-ein: er wirft Wolldecken hin, einen Lastwagen Kohleins Feuer. Wir tun, was wir wollen. Er legt uns ge-nügend Hasenfleisch hinter die Mauer, und wir sindviele. Wenn wir schlafen wollen, bringt er die Vögelzum Schweigen. Nacht geht er mit hundert Wölfenums Haus.“
1977 erhielt
Sarah Kirsch die Erlaubnis, mit ihrem Sohn Moritz nach West-Berlin
überzusiedeln, nachdem sie ein Jahr zuvor aus der SED und dem
Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen worden war, weil sie zu den Erstunter-zeichnern der Protesterklärung gegen
die Ausbürgerung Wolf Biermanns zählte.
Moritz Kirsch hat nun, 7 Jahre nach dem Tod seiner Mutter, diese bibliophile Ausgabe herausgegeben, die neunund-neunzig Gedichte enthält (neunzehn davon wurden auf einem Dachboden entdeckt und werden erstmals publiziert), in denen es, so der Verlag, die politische Dichterin Sarah Kirsch zu entdecken gilt.
Kirsch war in
mancherlei Hinsicht verrufen als Dichterin der Idylle, doch nur ziemlich
oberflächliche Leser*innen hätten dergleichen nach der Lektüre ihres
dichterischen Gesamt-werkes noch behaupten können. Vielmehr war Kirsch schon
immer eine Dichterin der trügerischen Idylle, der Anzeichen von Unruhe unter
den Fasern der Landschaft, der vermeintlichen Ordnung im geregelten Leben.
Es ginge wohl
zu weit, sie als immanent politische Dichterin zu bezeichnen, zumindest würde
dergleichen die Subtilität schmähen, mit der sie die Unruhe in ihren Gedichten
hegte und pflegte; als großer Freund ihrer Dichtung sähe ich die Unruhe darin
ungern vereinnahmt durch eine bestimmte Les- und Deutungsart.
Dennoch wird in
dieser Auswahl wieder deutlich: Kirsch war eine facettenreiche Dichterin, wobei
sich manche Facetten erst entfalten, wenn man hinter die Fassaden, die
Geschichten ihrer Texte blickt und sich anschaut, worüber sie beredt schweigen,
was sie unvornehmlich streifen, wo sie Möglichkeiten zu verpassen scheinen, aber
doch mittragen, im Winkel, im Spiegel der Metapher.
In „Freie
Verse“ findet sich in jedem Fall beiderlei: offensichtliche Bezüge und
ausdeutbare Parabeln, Märchenhaftes und Profanes, durchzogen nicht von
Überlegungen, sondern Andeutungen – aufzuckenden und abtauchenden Impulsen in
den Nervenbahnen einer Poesie, die sich ihrer Wirklichkeitsverpflichtung ebenso
bewusst war wie ihrer Fähigkeit, mehr zu sagen, als sich sagen ließe, wenn man
einfach nur Stellung bezöge.
„Die Fahrt wird schneller dem Rand meines Lands zuIch komme dem Meer entgegen den Bergen oderNur ritzendem Draht der durch Wald zieht, dahinterSprechen die Menschen wohl meine Sprache, kennenDie Klagen des Gryphius wie ichHaben die gleichen Bilder im FernsehgerätDoch die WorteDie sie hörn die sie lesen, die gleichen BilderWerden den meinen entgegen sein, ich weiß und sehKeinen Weg der meinen schnaufenden ZugDurch den Draht führtGanz vorn die blaue Diesellok“