Samuel Beckett: Echos Knochen
Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen
Vincent Sauer
Samuel Beckett: Echos Knochen. Berlin (Suhrkamp Verlag)
2019. 123 Seiten. 24,00 Euro.
„All die Torturen meines Seelenunrats kehren zurück!“
Becketts schwierige frühe Erzählung Echos Knochen
Im Vorfegefeuer treffen Dante und Vergil auf einen gewissen
Belacqua. Der kriegt elf Verse Redezeit eingeräumt, in denen er darlegt, dass
er bis kurz vor seiner Sterbestunde versäumt hatte, seine Sünden zu bereuen,
weshalb er hier nun ausharren muss. Das war’s auch schon. Dante und Vergil eilen
weiter im vierten Gesang der Göttlichen Komödie.
Samuel Beckett bringt etliche Jahrhunderte später Belacqua
zurück in die Literatur. Er tauft den Protagonisten seiner ersten publizierten
Erzählungen auf diesen Namen, die unter dem Titel Mehr Prügel als Flügel
im Jahr 1934 bei Chatto & Windus, einem Londoner Verlag, erscheinen. In der
vorletzten Erzählung schon, Spreu, hüpft Belacqua auf den OP-Tisch,
erkundet sich nach dem Wohlbefinden des Arztes, fällt dessen Pfusch zum Opfer
und stirbt. Achtzig Jahre später erst wurde mit Echos Knochen die
Erzählung publiziert, in der wir Belacqua ins Totenreich begleiten. Becketts
Lektor Charles Prentice hatte zunächst eine elfte Erzählung von ihm angefragt,
damit der Erzählband umfangreicher und sich besser verkaufen würde. Als der
Text dann tatsächlich nach kurzer Zeit auf seinem Schreibtisch lag, empfand sie
Prentice als einen „Alptraum“; sie machte ihn „ganz kribbelig“, und darüber
hinaus prognostizierte er, dass auch das Publikum bei der Lektüre schaudern würde,
ohne jegliche Lust zu entwickeln, dieses Schaudern zu analysieren. Und so
verbrachte Echos Knochen viele Jahrzehnte in einer Schublade.
Schon die zehn Texte in Mehr Prügel als Flügel sind Bearbeitungen
aus Becketts vom Verlag abgelehnten Roman Traum von mehr oder minder schönen
Frauen. Das erste gedruckte Werk — ein Selbstplagiat, wie Beckett sagt. Bei
Echos Knochen handelt es sich nun um die Erzählung, von der der Autor
zugibt, sie sei die, „in die ich alles gesteckt habe, was ich wußte“. Das merkt
man dem Text an … aber worum geht es
überhaupt? Belacqua ist zwar tot, aber sein Fortleben im Jenseits hat nichts
mit Erlösung zu tun. Nach wie vor ist er im „Vollgefühl seiner Schwächen“ und
von „Herzrasen geplagt“, leidend, mit Sorgen und Nöten beladen. Zigarrerauchend
auf einem Zaun zerbricht er sich wie eh und je den Kopf, bis er in drei Szenen
mit vielen Dialogen und einigen schnippischen Bemerkungen des Erzählers über
seine „geistreiche Geschichte“ anderer Leute Probleme im Jenseits
kennenlernt. Als Erstes begegnet
Belacqua einer gewissen Zaborovna Privet, die ein Bordell betreibt, und ihm
wider seinen Willen zu Diensten sein will. Dann kommt, nachdem Belacqua ein
Golfball an den Kopf knallt, ein langes Streit-Gespräch mit dem kahlen Hünen
Lord Wormwood Gall, der seines Zeichens ein Fürst ohne (männliche) Nachfahren
ist. Das martert ihn dermaßen, dass er den Protagonisten entführt, damit der
mit seiner Frau einen Knaben zeugt. (Es misslingt). Zum Schluss buddelt
Belacqua mit dem vom Alkohol gestählten Totengräber Doyle, der bereits in Mehr
Prügel als Flügel einen Auftritt hatte, seinen eigenen, durchaus edel
geratenen Sarg im Beisein eines aufgetauchten U-Boots aus. Doch er findet nur
Steine in seiner letzten Ruhestätte. Der Text schließt lakonisch mit „So geht
es in der Welt“.
Die Figuren sind wie aus einem Setzbaukasten skurriler
Charakteristika, das Jenseits als Ort ist kaum zu greifen. Hier herrschen
andere Gesetze, auch was das Erzählen betrifft. Egal ob man nun den Text als
Traum im Todesschlaf des Protagonisten deutet und so sein Durcheinander erklärt,
wie es der Herausgeber Mark Nixon tut, oder in Belacqua den Erben der Nymphe
Echo finden möchte, die daran zugrunde geht, dass sie ihre Liebe im Geschwätz
der Menschen artikulieren muss, wie es der Übersetzer Chris Hirte schlüssig
darlegt: Um auf den knapp 60 Seiten nicht völlig verwirrt zu werden und sich
aus dem Geschehen zu verabschieden, bedarf es aber vor allem einiger Vorbereitung
und Eingeständnisse, denn selbst für Leserinnen und Leser, die schon Einiges
von Beckett kennen, ist eine Lektüre von Einführung, Nachwort und nicht zuletzt
Anmerkungsapparat kaum zu vermeiden. Es hilft zudem, auf den Übersetzer zu
hören, und sich den Text laut vorzulesen. Man sollte ebenso wenig davor Scheu
haben, andauernd mit einem Finger im Anmerkungsapparat zu stecken, denn nicht
nur lateinische, französische und italienische Dialogfetzen sind Belacquas
unsterblicher Gelehrsamkeit geschuldet, sondern auch unzählige Anspielungen auf
europäische Geschichte und klassische Literatur. Dabei herrscht keineswegs ein
behäbig-gelehriger Ton in „Echos Knochen“ vor: Beckett zieht viele sprachliche
Register, wird immer wieder derbe, etwa wenn die Gattin Lord Wormwoods als
„ordinärster Abklatsch eines halbgaren Backfischs“ bezeichnet wird, der ihn
vorher ermahnt, nicht so poetisch daherzureden. Auch errichtet Becketts
Fantasie keinen weltvergessen Studentenstreich, der sich in irgendeiner
Parallelwelt verliert. Er selbst lebte zur Zeit der Niederschrift unter äußerst
prekären Verhältnissen in London von Zuwendungen seiner Mutter. Der erste Satz
des Texts lautet:
„Die Toten sterben unsanft, im Jenseits gelten sie als
Eindringlinge, sie müssen sich begnügen mit dem, was sie dort vorfinden, den
Gruben und Löchern ganz unten im Dreck, bis die Zeit gekommen ist, daß dem Grundherrn
aus langer Duldung Fürsorgepflicht für sie erwächst.“
Geduldige und fürsorgliche Lektüre wird auch uns abverlangt:
Wer sich für die Anfänge von Becketts Poetik interessiert, seine frühen Jahre
als Schriftsteller und nicht zuletzt die Schwierigkeiten, die die Entstehung
einer kurzen Prosa mit einem immensen Wissen über Literatur, Religion,
Philosophie, Sprachen, Geschichte im Hinterkopf nachvollziehen möchte, ist mit
der sehr gut ausgestatteten Edition gut beraten. Wer eine im landläufigen Sinne
„gelungene“ Erzählung in einem Rutsch und nur ein einziges Mal lesen möchte,
wird an Echos Knochen wenig Freude haben. Bis zu den Romanen Murphy
und Watt und ihrer formalen Stimmigkeit war es für Beckett damals noch
ein weiter Weg, aber bereits in Echos Knochen beweist sich die frühe
Einschätzung von James Joyce zu Beckett: „Er hat Talent, glaube ich.“