Roland Adelmann: Underground Lyrik - 60 Jahre und immer noch laut
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Roland Adelmann
UNDERGROUND-LYRIK –
60 JAHRE UND IMMER NOCH LAUT
Der Begriff Underground-Lyrik existiert in der Germanistik nicht. Vielmehr werden ihre Anfänge der so genannten Popliteratur zugeschlagen. Gut vorstellbar, dass sich Rolf Dieter Brinkmann bei diesem Gedanken im Grabe umdrehen würde. Es ist also an der Zeit, dieses Missverständnis auszuräumen und den Begriff Underground-Lyrik mit Leben zu füllen, da der Bogen mittlerweile bis in die Gegenwart gespannt werden kann.
Der Kreis der Dichter ist anfangs noch überschaubar. Die wichtigsten Protagonisten sind eben Brinkmann und Wolf Wondratschek, die beide Mitte der 1960er ihre ersten Texte entwerfen, angefacht durch die Beatniks. Jürgen Theobaldy, Christoph Derschau und Kiev Stingl stoßen in den 1970ern dazu, nachdem die 1969 erschienenen Anthologien „Acid“ und „Silverscreen“, an denen Brinkmann beteiligt war, über die amerikanische Underground-Szene nachhaltig junge deutsche Dichter und Schriftsteller prägten. Mitte der 1970er bildet sich dann in Hamburg und im Großraum Frankfurt eine sehr dynamische Szene. Mittelpunkt der herausgeberischen Aktivitäten sind die Zeitschriften Boa Vista und Gasolin 23. Darüber hinaus veröffentlichen der Maro-Verlag und der Pohl‘n’Mayer Verlag Einzelpublikationen der Szenegrößen.
Gasolin 23, Heft 6 - Oktober 1978
Schokoladen 1994, vorne Kiev Stingl
Bei den Gedichten geht es besonders um
innerliche Befindlichkeiten, was ein charakteristisches Merkmal der U-Lyrik
werden sollte, einhergehend mit einer pessimistischen, ins Finstere
abdriftenden Haltung. So schreibt Brinkmann von „der verfluchten dunstigen
Abgestorbenheit Kölns“, bei Theobaldy „gehen die Krankheiten (in der Stadt) um“,
während es bei Derschau heißt: „Das Blut ergraut in den Adern / und meine Küsse
/ sterben langsam vor sich hin“ 1. Allenthalben ist von
Trostlosigkeit, Zerfall und Tod die Rede. Eine Schablone für den aufkommenden
Punk, der später die Basis für die Regeneration der U-Lyrik sorgen sollte.
Alfred Miersch, der zwar auch
Alltagsdichtung benutzt, wird in seiner Gesellschaftskritik konkreter:
All diese Konzerte, die mit„HINSETZEN“-Chören beginnenall diese Leute, die ihre „Rock‘n’Roll-Gala“überstreifen als ginge es in die große Oper.All diese Sänger, die den großen Harlekin spielen,all diese Leute mit ihren naiven Ideen,Johnny Rotten ist Johnny Rotten ist Jaggernicht mehr & und jede Platte ist ein PRODUKT im System.2
Während Brinkmann Anfang der 70er in seinem Hauptwerk
„Westwärts 1 & 2“ persönliche Beobachtungen (besonders von seinen diversen
Reisen) mit Naturbeschreibungen und alptraum-hafter Sprache zu einer eigenen
Zivilisationsskepsis vermischt:
Die Panik der Baugeschäftsunternehmer, die dünne Wändehochziehen, die jeden Laut durchlassen, Husten, Pißgeräuschedas Wimmern eines neuen Babys, Männer und Frauen, die sichverletzen, schreien, einander anspucken und weitermachen.Panik auf den Konten, die verwüstet sind, Panik amStraßenrand, in der Abflußrinne, Panik zerlaufene Uhren,Panikbäume, Panikgrundstücke, Panikmieten, die Panik in denvertrockneten städtischen Anlagen und Kinderspielplätzen.(Aus: „Rolltreppen im August“)
In den 1980ern löst sich die Szene
allmählich auf. Nach den wilden Anfangstagen machen sich die Akteure auf die
Suche nach ihren individuellen Entfaltungsmöglichkeiten. Der Gedanke, von der
Schreiberei leben zu können, ist auch für sie treibende Kraft. Nur Lyrik
verspricht kein Auskommen, Wondratschek bleibt eine Ausnahmeerscheinung. Und so
wendet man sich den profitableren Genres zu: Kriminalroman, Reisereportagen
oder Drehbüchern. Einige ziehen es vor, sich gänzlich abzuwenden und der
Dichtung den Rücken zu kehren. Mit der Einstellung des „Gasolin 23“ 1986 und
dem Tod von Jörg Fauser 1987, und damit der zweiten Gallionsfigur, Brinkmann
war zwölf Jahre zuvor gestorben, endet diese Ära vorerst.
Hadayatullah
Hübsch, der bereits Ende der 1960er, Anfang der 1970er mit drei Gedichtbänden in
Erscheinung getreten war, versuchte den alten Spirit zu beleben und initiierte
die 60/90 Treffen in Frankfurt Mitte der 1980er, frei nach dem Motto „Laßt uns
doch all die Jungs und Mädels von früher wieder versammeln, aber nicht als
Veteranentreffen, sondern gemeinsam mit Leuten von heute, die was zu sagen
haben.“ Hübsch sollte dann besonders in den 1990ern mit seinen wilden, nicht
enden wollenden Wortspielen, die sich äußerst kritisch mit unserer Lebensweise
auseinandersetzen, für Furore sorgen.
Währenddessen
fabrizierten Punks unabhängig von diesen Ereignissen selbstkopierte
Literaturhefte, inspiriert durch die musikalische Fanzine-Szene, um ihren
Gedanken freien Lauf zu lassen:
Ich würde gern mal mit Dir an der Pommesbudestehn und eine Currywurst lustlos in dasSenftöpfchen stecken und wiehernund meinen Wurstzipfel in Deine heißefettige Fritteuse stecken, lustvoll,erregt den Junk genießen, Dir ein Ohrblutig beißen, Deine Nippel mit Majobedecken, daß sie aussehen wie die Zugspitze in einemechten Alpenwinter 3
dichtet
Detlef Handelmann in dem Duisburger Lit-Fanzine Produkt ungestüm,
anarchisch, gegen alle Regeln. Oder Roland Adelmann, der ohne Rücksicht auf
Verluste textet:
Wie ich anfing zu schreibenlallte ich irgendetwasüber ausgedörrte Zitronen& sie nahmen es mir nicht abDanach versuchte ich esmit ausgefransten Bananenaber es gefiel ihnen immer noch nichtHeute schreib´ ich Gedichteüber ausgelutschte Orangen& trotzdem ist es ihnen nicht gut g…,HA, HABT IHR GEDACHT!Ich hab sie nämlich alle getäuschtIn Wahrheit schreib ich, äh …3
Sich
selbst auf die Schippe nehmen, sich selbst nicht allzu ernst nehmen, ja, im
Grunde alles in Frage zu stellen, was so todernst und von sich völlig überzeugt
daherkommt, in einer Zeit, in der die Welt dem Untergang geweiht scheint, in
der sich die Jugend fragt, wann der Atomkrieg losbricht oder das nächste AKW in
die Luft fliegt.
Aber nicht nur in Duisburg wird wild drauflos gedichtet. Ab der 2. Hälfte der 1980er erscheinen eine Reihe so genannter Lit-Fanzines: Ikarus aus Mainz, Kopfzerschmettern aus Hanau, Der Störer aus Braunschweig, Cocksucker aus Riedstadt oder HOKAHE aus Göttingen. Die Macher dieser Hefte bilden später den harten Kern der Social Beat Bewegung, durch die die Underground-Lyrik einen enormen Aufschwung erfahren sollte. Bis dato hatten sich Wenige Gedichten verschrieben, Prosa war der führende Schreibstil.
Direkte
Alltagssprache blieb auch jetzt ein stilprägendes Element der Gedichte, die
ohne künstlerischen Anspruch ihren Themen auf die Zwölf geben. Rohe, zum Teil
brachiale Wut bricht sich Bahn, die als unmittelbare Reaktionen auf die
politischen Verhältnisse anzusehen sind. Dabei lassen sich zwei Hauptströmungen
erkennen. Die eine stark beeinflusst durch Charles Bukowski, der gerade in den
80ern äußerst populär wurde, die andere durch den Deutschpunk, wie der
Underground an sich stark durch Musik geprägt ist, deren umstürzlerische Texte
die Punkfraktion gierig aufgesogen hat.
Hartmuth
Malorny und Robert „Robsie“ Richter sind zwei der prägendsten Dichter dieser Stilarten.
Während Richter schreibt:
In den Katakomben ist es noch ruhigIrgendwo über den FelsenScheint eine mörderische SonneUnd verbrennt dieses LandIch sitze in meiner NischeUnd warte darauf daßEtwas passiertEine Kakerlakenarmee marschiertAn meinen Füßen vorbeiUm mir zu sagenwir sind deine letzten Freunde(Aus: „Katakomben“)4
geht es bei Malorny oft um den nächsten Drink, meist unrühmliche
Frauengeschichten oder den Alltagswahnsinn, auch gerne gepaart mit
Sozialkritik:
In das Land der UNBEGRENZTEN MÖGLICHKEITENkommen siedurch den schadhaften Zaunrüber, von MexicoSie verstoßen gegen das Einwanderungsgesetzfür einen miesen, schlechtbezahltenJob, ohne Fürsorge- oder Rentenanspruch.(Aus: „Freiheit, Gleichberechtigung und Brüderlichkeit“)4
Aber
es wäre viel zu kurz, die U-Lyrik der 1990er darauf zu reduzieren, auch wenn
das Gros der prosaischen Alltagsdichtung zugeordnet werden kann und der Beat
eine untergeordnete Rolle spielt. Immer wieder finden sich experimentelle, gar avantgardistische
Texte, die durchaus kritisch ausfallen wie „satans pupillen“ von Stefan Wirner:
augen aus geld, in münzeneingravierte knechtschaftblutzoll für schmutziges papierdas flattert im windder börse und taumeltüber den hungerganzer länder.5
Oder wenn Hübsch poltert
(bezeichnenderweise ohne Titel):
Nun beben wir wiederVor unserem TVDie unsagbar VerletztenDie Ausgestoßenen, ZermürbtenDie, denen die Beine, die ArmeZerquetscht von herabgestürztenBrocken Steinen Beton StahlNun beben wir wiederWas sollen wir mit diesem Krieg machenWas sollen wir mit diesem Krieg tunWas sollen wir …4
On the Road to Groß-Gerau
(1. Treffen der Social Beat-"Ursuppe", 1993)
Roter Salon, 1998 - Social Beat-Festival
Social Beat Festival Pfefferberg 1994 (im Vordergrund Jürgen Ploog)
Hübsch gilt als einer der
Hauptvertreter des deutschsprachigen Beat und verändert die U-Lyrik erheblich,
baut Rap-Elemente ein und erzeugt durch ständige Wiederholungen eine
unwider-stehliche Dynamik.
Aber auch der Blues
schimmert durch Texte. Für den Underground geradezu lyrisch dichtet Kersten
Flenter, der Alltagssituationen in origineller Bildsprache transportiert:
Anfangen nachts um drei aufgeschrecktVom Lippenschaumlärm unten in der StraßeWo sie ihren Zorn vergeudenMit Baseballschlägern und Sprays aufgewecktVom Schaben der Käfer im BadDas erst ein Ende findet als einScientology-Prospekt auf ihre Schädel knalltEin absurdes Ringen mit authentischer Angst (ey)Kurz bevor der Blues umschlägtIn ein Leben das die Kunst imitiert(Aus: „Eselsbrücken“)6
Entgegen
der oberflächlichen Betrachtung, dass der deutschsprachige Underground männer-dominiert
ist, gab und gibt es immer wieder starke weibliche Stimmen, die mit derber
Sprache sich Gehör verschaffen. Die mittlerweile bekannte Tanja Dückers
veröffentlichte in den ein-schlägigen Publikationen ihre ersten Gedichte, Dora
Diamant nutzt die zu Unrecht charak-teristischen Undergroundthemen Suff &
Sex zu einem kämpferischen Anti-Liebes-Gedicht:
habe versucht, dich im Suff zu ertränkenhabe versucht, deinen Schwanz durch andere zu ersetzenhabe versucht, so zu tun, als ob du mir gleichgültig wärsthabe versucht, dich zu verdrängen, habe gearbeitethabe deine mit Liebe gearbeiteten Geschenke in kleine Stücke zerhackthabe versucht, nicht verrückt zu werdenhabe im Wald die Bäume angeschriendie Erde gebeten, mich zu verschluckenim Hochsitz gehockt, mich im Moos gewälztwie der schizophrene Dichter Alexander Märzhabe gejammert, geschrien und geweintich will dich nicht wiederhaben. 7
Durch die „feindliche“ Übernahme der Slam Poetry löst sich Ende der 1990er die Social Beat Szene auf. Die Editionen der mittlerweile unzähligen Zeitschriften sukzessive. Mit dem letzten Buchfrust-Festival 2000 in Hannover wird das vorläufige Ende zelebriert.
Die
Regeneration folgt jedoch auf der Stelle. Junge Punks begeistern sich für
U-Lyrik, kopieren eigene Lit-Fanzines, Marcus Mohr den „Straßenfeger“,
Alexander Strucken sein gefeiertes (u. a. von Thomas Kling) Fanzine „Vorsicht
Schreie“, Urs Böke und Jerk Götterwind führen ihre bereits in den 90ern
entstandenen Fanzines „Ratriot“ und „My Choice“ fort.
Hier
regiert vor allem wieder die Alltagsdichtung, wieder mit einem kräftigen Schuss
Punk, wenn z. B. Markus Hintzen schreibt: „Fickt euch alle / Feiert weiter eure
Party / Und erstickt irgendwann / An eurer Dummheit“ oder titelt „Heute billig:
Scheisse!“ 8, gerne garniert mit einem ordentlichen Schuss
Gesellschaftskritik:
Die Nacht bricht heranNeonlicht und LeuchtreklameLösen die Sonne abZwischen den HäuserreihenStelzen sie mir entgegenSchöngeistige ArschlöcherFrisch rasiert und schönHerausgeputzt in ihrenAusgehuniformen ummanteltGeben sie alles was sie haben(Marcus Mohr, aus: „Mensch 2000“) 8
Urs Böke dagegen knüpft an die Ursprünge an, kombiniert Gesellschaftskritik und
Defätismus mit kryptischen Wortgefügen:
Und während sie dort drei Jobs habenweil alles unterbezahlt wird und ihre Frauentäglich acht Hamburger fressen stehen wirHier östlich vom Andreasgraben und findenuns ab mit new choo choo economy ihre dumpfenMutmacher taugen nicht einmal mehr für gepflegteMenschenverachtung Insolvenz heißt der Rhythmusbei dem jeder mit muß …(Aus: „Für einen aus Frankfurt“)9
Grundsätzlich
muss festgehalten werden, dass Charles Bukowski auf das Schreiben in den
1990ern einen maßgeblichen Einfluss hatte, nicht nur, was Sprache anbelangt,
sondern auch Haltung und Thematik. Mit Beginn des 21. Jahrhunderts verliert
dieser Einfluss beständig an Bedeutung, heute lässt sich zweifelsfrei
feststellen, dass er nur noch marginal zum Vorschein kommt. Vielmehr tritt der
Alltag in den Hintergrund, mit poetischer Ironie wird dem urbanen Chaos
begegnet, die Apokalypse weicht einem lustvollen Schwelgen in Tristesse,
konkrete Poesie weicht kryptischem Formulieren und wird immer stärker
verdichtet. Das Literaturmagazin MAULhURE (www.undergroundpress.de) spiegelt
die aktuelle Szene zurzeit am besten wider, die vor allem hervorsticht durch
junge Dichter*innnen wie Lars Banhold aka weylthaar:
komm schonwir wollen jetzt pommes essen gehenschick mich nicht nach brandenburggib mir bitte eine chanceich brauche keinen erfolgüberlassen wir meine wünsche halt sich selbstungenutzt ist potential doch eh am schönsten10
Oder
Dakini Böhmer:
mich wundert nicht dass wir auf leere sitzendass da nichts ist unter unsmich wundert auch nicht dass ich im grundeganz allein in dunkelheit binund niemand mir singtoder gin mit mir trinkt11
Oder
durch Marco Kerler, Sybille Lengauer oder Fabian Lenthe (Stammgast im
Signaturen-Magazin).
1 Aus
„Der Kopf voll Suff und Kino“, Maro Verlag, Augsburg, 1976.
2 Aus „Lauter Helden“ Maro Verlag, Augsburg, 1981.
3 Aus „Produkt“ Nr. VI, 1988, Duisburg.
4 Aus „Kopfzerschmettern“ Nr. 6, 1991, Hanau.
5 Aus „Rude Look“ Nr. 4, 1994, Bederkesa.
6 Aus „Labyrinth & Minenfeld“ Nr. 9, 1996, Osnabrück.
7 Aus „Cocksucker“ Nr. 14, 1995, Groß-Gerau.
8 Aus „My Choice“ Nr. 15, 2006, Groß-Gerau.
9 Aus „Vorsicht Schreie“ Nr. 5, 2005, Neuss.
10 Aus „Serotoninloch“, Rodneys Underground Press, Dortmund, 2021.
11 Aus „Blau – ohne Kontur“, Rodneys Underground Press, Dortmund, 2021.
2 Aus „Lauter Helden“ Maro Verlag, Augsburg, 1981.
3 Aus „Produkt“ Nr. VI, 1988, Duisburg.
4 Aus „Kopfzerschmettern“ Nr. 6, 1991, Hanau.
5 Aus „Rude Look“ Nr. 4, 1994, Bederkesa.
6 Aus „Labyrinth & Minenfeld“ Nr. 9, 1996, Osnabrück.
7 Aus „Cocksucker“ Nr. 14, 1995, Groß-Gerau.
8 Aus „My Choice“ Nr. 15, 2006, Groß-Gerau.
9 Aus „Vorsicht Schreie“ Nr. 5, 2005, Neuss.
10 Aus „Serotoninloch“, Rodneys Underground Press, Dortmund, 2021.
11 Aus „Blau – ohne Kontur“, Rodneys Underground Press, Dortmund, 2021.