Rainer René Mueller: POÈMES – POȄTRA
Walter Fabian Schmid
Vorm Lidschluss der Geschichte
Anfang der 1980er sah es gar so nicht schlecht aus für Rainer René Muellers Dichterkarriere. Der geborene Würzburger bekam ein Stipendium des Berliner Senats und den Wolfgang-Weyrauch-Förderpreis. Dann wurde es allerdings still um ihn. Bis auf ein paar gemeinsame Projekte mit bildenden Künstlern und als Leiter der Galerie am Markt in Schwäbisch Hall und des Kunstmuseums Heidenheim war er schriftstellerisch weniger präsent. Aufgrund seiner aussergewöhnlichen Schreibweise ist es aber mehr als gerechtfertigt, dass eine Gedichtauswahl erscheint, die in diesem Fall Texte von 1981 bis 2013 versammelt und von Dieter M. Gräf herausgegeben wird.
Mit seinem Selbstverständnis als jüdischer Dichter knüpft Rainer René Mueller an die Shoa-Literatur an. Bei ihm ist sie aber nie unkritisch, verherrlichend oder nostalgisch, sondern mitunter fatalistisch. Seine Lyrik ist eine konsequente Fortführung von Paul Celans Werk – sowohl thematisch, als auch ästhetisch. Mueller greift vor allem auf Verfahren aus Gedichten wie Huhediblu, Anabasis, Eine Gauner und Ganovenweise oder auch dem dadaistischen ZWITSCHER-HYMNUS AM HYPERURANISCHEN ORT zurück. Den Gedichten sind aber ebenso Verweise und Zitate aus dem Frühwerk Celans eingeschrieben.
Auch wenn Wolfgang Koeppen noch eine grosse Rolle spielt, so sind die Gedichte Muellers eigentlich ein ständiger unterschwelliger Dialog mit Paul Celan.
Mueller geht es allerdings weniger ums Schweigen, sondern um ein vorwurfsvolles Erinnern. Ein Erinnern, das viel mehr die deutsche Kunst- und Kulturgeschichte mit einbindet.
Lirum, larum
deutsch, das ist auch
Zeile für Zeile, lange Gekeimtes
in Metronome und Schlagstöcke gehängt
in Verse
Zeile für Zeile
Sonette
und Kupferstiche, radierte Schandflecken
hinter dem Kontra-
punkt. Die hohen Töne
aus Abgesang, die geschränkten Beine
des Vogel, -Sängers und Riemenschneiders Arme
unter Kalkschutt
der berutschte Marienweg, Käppele
kniefällig tief Maulwerke, die Säulen
Hallelujafans : der Reichston
abmarschierte Psalmen : aus Franken blühte Sturm
das Stürmerlied, das Türmerlied,
das Trümmerlied, ach Walther
tandaradei
was heißt hier Liebe
-belei, -lei
larum, larum :
darum, dass einer ein Vieh, ein gehäutetes Vieh
wird, ein Stück, ein Hakenstück
Muellers Erinnerungspoetik ist stets etwas Präsentes, weil das Geschehene immer auch anwesend bleibt. Aus der Lebenszeit des Dichters heraus gehen die Texte durch die Geschichte hindurch mit dem Ziel „Sätze wie'n Fahrplan / zu machen“ und „da entlang, wo man / G- / sagt; Geschichte“. Von da aus tauchen 80er-Jahre Realitätsfetzen auf wie „Züge und Bronx-Style : / Punkersprayerhermetik / Graffiti-Kinder“ und die Texte beobachten, wie sich die gemachte Erinnerung erst im Prozess entwickelt: „(dem Polaroid zu- / schaun ...)“
Generell ist die Wahrnehmung und das Motiv der Augen sehr wichtig in der Dichtung Muellers. Mit olympischer Betrachtung besitzen die Texte einen verzerrten und zugleich extrem scharfen Fokus. Die Augen sind zu verstehen als ein Instrument der Verschmelzung von Realität und Fiktion. Dabei wollen die Texte immer auch hinter die Dinge blicken denn „hinter welchen Augen leb' ich“? Klar, dass diese Frage nicht mit Sicherheit beantwortet werden kann, oder wie sich Celan notierte: „Es gibt Augen, die den Dingen auf den Grund gehen. Die erblicken einen Grund. Und es gibt solche, die in die Tiefe der Dinge gehen. Die erblicken keinen Grund. Aber sie sehen tiefer.“ Bei Mueller kann sich das schon mal ins Ekstatische steigern.
Sehen
das Zirren, oigerle
deine oigen :
wir werrn plärren schön
oh, Schönes du
du Hautstück, hinter
mir's Augen, schönes
Äugen / wir sehn uns
nimmer satt
Das erinnert etwas an Coppolas „sköne Oke“ aus E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann und dessen Experimente mit verschiedenen Gläsern und Perspektiven. Und genauso oszillierend geht Mueller mit seinen Bezügen zur Kunstgeschichte um, die von Tilman Riemenschneider über Hiernoymus Bosch bis hin zu Edvard Munch reichen. Das Kapitel Rückzug ins Helle, bestehend aus 7 Texten, ist sämtlich im gemeinsamen Atelier mit Max Neumann und in der Auseinandersetzung mit seinen Arbeiten entstanden. So ist die Lyrik Muellers nicht nur mit ihrer herausstechenden Ästhetik, sondern auch mit ihrem intertextuellen und intermedialen Dialog ausserordentlich bereichernd. Höchste Zeit, mit diesen Texten an die Öffentlichkeit zu gehen. Jetzt besteht aber erst einmal Nachholbedarf über die letzten 30 Jahre seines Schreibens.
Rainer René Mueller: POÈMES – POȄTRA. Ausgewählte Gedichte 1981-2013. Hrsg. von Dieter M. Gräf. Harbouey, Heidelberg, Berlin u.a. (roughbook 34) 2015. 108 Seiten. 9,00 Euro.