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Ragnar Helgi Ólafsson: Denen zum Trost, die sich in ihrer Gegenwart nicht finden können

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Gerrit Wustmann


Die Wirklichkeit hat angerufen

Ragnar Helgi Ólafssons Gedichte auf Deutsch



Normalerweise, wenn es Lyrik ist, die ich lese, ist es persische, türkische oder arabische Lyrik. Lyrik ist ein Fenster zur Welt, der Versuch, in vielen Sprachen eine Sprache für das Unaussprechliche zu finden, für das, was hinter den Dingen glimmt. Das ist der Lyrik zu eigen: sie dringt in Gefilde vor, die der Prosa verborgen bleiben. Und nun ist es isländische Lyrik, die mir ein weiteres Fenster öffnet, von dessen Existenz ich bis vor zwei Wochen noch gar nicht wusste.

„Denen zum Trost, die sich in ihrer Gegenwart nicht finden können“ heißt der Band von Ragnar Helgi Ólafsson, ins Deutsche übertragen von Jón Thor Gíslasson und Wolfgang Schiffer. Letzterer arbeitet seit über 25 Jahren unermüdlich daran, die isländische Lyrik zu uns zu tragen, in die deutsche Sprache, und dieses Bemühen kann man ihm nicht hoch genug anrechnen. Zumal es eine ähnlich undankbare Arbeit sein dürfte wie der Versuch, dasselbe für Persische oder Arabische Dichter und Dichterinnen zu tun.

Dieser Dank gebührt auch Dincer Gücyeters kleinem Elif Verlag. Von Nettetal aus etabliert er sich Jahr für Jahr mehr als wichtige Adresse für all jene, die den Spuren der Literatur über das Offensichtliche hinaus folgen möchten. Und während man seine Bücher liest, erinnert man sich zwangsläufig daran, dass die Bestseller von heute oft morgen schon vergessen sind, während das, was zu Lebzeiten ein Dasein in kleinen Auflagen fristet, übermorgen wahrscheinlich Eingang in Schulbücher findet und in den Kanon der Weltliteratur. Schön ist, dass man all das heute bereits entdecken und erkunden kann. Man muss nur wissen, wo man es findet. Oder, um es mit Ólafssons Worten auszudrücken:

DICHTERSPRACHE

Ich könnte mit dir in einer Dichtersprache sprechen,
ohne die Stille zu durchbrechen.

Es ist nicht so schwierig, wie es klingen mag:

Es ist nur so,
als zöge man ein Kristallglas
an einem Wollfaden
über
einen steinübersäten Strand.


Damit sind wir mittendrin. In Ólafssons nüchterner, oft prosaischer Sprache, die dem Leser begegnet wie ein alter Freund, ihn locker und ungezwungen anspricht, und ihm dann zeigt, dass längst nicht alles so einfach ist, dass etwas, wie eingangs erwähnt, hinter den Dingen glimmt. Oder in Ólafssons Worten:

Hinter den anderen Lauten
ist immer ein Laut
ein Hintergrundsummen


Ólafsson nennt dieses Hintergrundsummen „den Grundton des Seins“: Nicht um das Vorfindliche geht es im Leben oder im Schreiben, sondern um das, was dahinter liegt, um das, was man sich erst erschließen muss. Das ist eines der Leitmotive seiner Lyrik. Ein weiteres ist der Spiegel, der in mehreren Gedichten auftaucht. Gott blickt in den Spiegel, und „So hat ein Gedanke über einen Gedanken die Welt erschaffen“. Der Spiegeleffekt bei Ólafsson: Die Welt sehen, aber sich mit drin, wie man die Welt betrachtet, eine Perspektive finden, die nur unter Einbeziehung der Spiegelung vollständig sein kann. So wie man sich auch, es ist fast schon eine Binsenweisheit, nur dann gänzlich zu finden vermag, wenn man sich in einem Du spiegeln kann, erkennen kann, akzeptieren kann. Er verarbeitet das in sanft-erotischen Versen, die selbst wiederum das Hintergründige im Alltäglichen suchen. Augenzwinkernd ist er dabei immer wieder, indem er auch in mehreren Texten die Arbeit des Dichters selbst aufs Korn nimmt, also spiegelt:

NICHT IN DER ARBEITSBESCHREIBUNG
oder: Stellungnahme (mit Wut)

Die Wirklichkeit hat angerufen, sie habe genug
von den poetischen Eingriffen des Dichters in ihre
Existenz. Die Wirklichkeit hat mich gebeten, dem
Dichter diese Botschaft auszurichten. Ich habe
aufgelegt. Ich mache mich verdammt nochmal doch
nicht zum Laufburschen für die Wirklichkeit.


Daneben stehen ganz selbstverständlich Exkursionen in die Visuelle Poesie, Gebrauchslyrik geht nahtlos in Liebeslyrik über, es gibt längere, pointiert-erzählende Gedichte, und inmitten all der humorvollen Nüchternheit blitzen bewusst weit überspannte Bilder wie dieses auf: „Tränen sind das Scheibenwaschmittel der Seele“.

Ólafsson, Jahrgang 1971, Studium in Island, New York und Frankreich, ist Filmemacher, Bildender Künstler, Verleger, Schriftsteller. Und das, so scheint es, ziemlich erfolgreich. Sein literarisches Debüt war keineswegs die Lyrik, sondern ein Roman, erschienen 2013, auf den er in mindestens einem der vorliegenden Gedichte anspielt. Und für dieses sein Lyrikdebüt wurde er in Island prompt mit einem Preis in Reykjavík ausgezeichnet. Was zu erwähnen bleibt, außer der unbedingten Leseempfehlung: Die Gestaltung des Buches, die exakt dem isländischen Original entspricht und vom Autor selbst entworfen wurde. Erwähnt werden muss das, weil jeder, der mal in einem Verlag gearbeitet hat, weiß, dass Autoren in aller Regel lausige Designer sind, und die talentlosesten sind zumeist am heftigsten von den eigenen Ideen überzeugt. Ólafsson hingegen ist Grafikdesigner (ja, auch das noch!), und ein ziemlich guter dazu. Der Band mit offener Klebebindung und dem doppelten ausgestanzten Cover, dessen Titelcollage sich aufblättern lässt, ist ein bibliophiles Kleinod. Nicht nur der Gedichte wegen liest man es mehrmals, sondern auch weil es sich so wohltuend von der Masse der Bücher abhebt. Hoffentlich dauert das Warten auf den nächsten Band nicht allzu lange.


Ragnar Helgi Olafsson: Denen zum Trost, die sich in ihrer Gegenwart nicht finden können. Lieder und Texte. Isländisch / deutsch. Übersetzt von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer. Nettetal (Elif Verlag) 2017. 144 Seiten. 18,00 Euro.

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