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Rafael Cadenas: Klagelieder im Gepäck

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Nora Zapf

Rafael Cadenas: Klagelieder im Gepäck. Gedichte. Aus dem venezolanischen Spanisch von Geraldine Gutiérrez-Wienken und Marcus Roloff. Köln (parasitenpresse) 2018. 56 Seiten. 10,00 Euro.

„Angestellte des Vergessens“. Rafael Cadenas Klagelieder im Gepäck


Wir sind im Vorzimmer, „wo alle herumwerkeln/wie Angestellte/des Vergessens“, en una antesala donde todos trajinan/como empleados/para olvidar.¹ In diesem Vorzimmer („weil ich in der Vorhölle hause“) trägt man schwer am Gepäck, das in Stapeln vor einem steht. In Momenten trägt man es vielleicht nicht aktiv, aber man schleppt doch immer etwas mit sich herum. Hier warten nicht Leichtreisende, tragen nicht unterhaltsame Lektüre in ihren Taschen wie Girondos Veinte poemas para ser leídos en el tranvía, Unterwegs-Gedichte über Buenos Aires, die in der Tram gelesen werden sollen.

In den Gedichten des venezolanischen Autors Rafael Cadenas ist der Aufenthaltsort seiner Figuren nicht frei gewünscht, er drängt sich eher auf durch politische Verbannung, das Gepäck steht schwer oder wird mitgeschleppt, es trägt unsichtbaren Inhalt (ein Singen, ein Klingen), ist aber hörbar und lässt sich nicht einfach so ablegen: es sind Koffer von Exilantinnen, Ausgewiesenen, Vertriebenen, in denen Klagelieder liegen wie Hinkelsteine. Gibt man in Google Cadenas und equipaje/maleta ein, landet man schnell bei Seiten von Airlines und Anweisungen für bzw. gegen das Mittragen von Ketten an Bord. In Cadenas’ Texten sind Gepäckstücke selbst Ketten, die an die Vergangenheit binden. Die traurige Musik, sp. Tristias, nach den Exilbriefen Ovids (Muchas Tristias llevas), viel Trauriges, viele Trauerlieder trägst du mit dir, also dem sp. triste (‚traurig‘) verwandt, ist nicht stumm zu kriegen, heißt Fremde, zeichnet dich aus als Fremdling, durch dessen Blut Exil rennt (En nuestras venas corre exilio). Hier im Limbus sind Menschen angestellt, die vergessen sollen, es aber nicht wollen oder können. Wo sind sie angestellt? Bei Apparaten, politischen Maschinerien, Systemen, die Strippen ziehen heimlich im Hintergrund, befehlgebende Absenz.

Der Lyriker, Essayist und Übersetzer Rafael Cadenas, 1930 in Barquisimeto geboren, ist als Regimegegner und Kommunist selbst länger im Exil gewesen während der Diktatur von Marcos Pérez Jiménez, wo er auf Trinidad den Band Una isla (‚Eine Insel‘, 1958) schrieb, nach seiner Rückkehr dann Los Cuadernos del Destierro (‚Cahiers aus der Verbannung‘, 1960). Daher immer wieder das Meer als Ort der Vertreibung, als Weg zum Exil, an Ovids Schwarzes Meer erinnernd.

Ich öffne das Fenster und sehe eine Armee ihre Opfer einsammeln.
Gespenster tragen Gespenster in ihren Armen, und wohin ich auch gehe,
tun sich Mäuler auf. […]

In den „Blutbahnen der Zeit“ ist einiges an Kalk hängen geblieben, die Arterien sind verstopft mit Politik und Geschichte, aber es muss doch weitergepumpt werden. Die Zusammenstellung an Gedichten in der Parasitenpresse, die, wie die Vorbemerkung angibt, nichts weniger als der Versuch ist, Rafael Cadenas im deutschsprachigen Raum bekannt zu machen, verortet sich zwischen dem (kollektiven) kulturellen Gedächtnis Lateinamerikas, dem Sprechen über Politik und deren Höllen, und einer Form persönlichen Erinnerns (an die Liebe, an Nähe). „Jede Begegnung schirmt das Erinnern ab“, heißt es. Oder: „Im Flash mein Falschsein“.  

Mit den Seiten drehen die Gedichte, was den langen, quer gesetzten Gedichten der Bandmitte eine besondere Note gibt, die als Harmonika aufgefächert andere Zeilen anschlägt. Das Langgedicht Niederlage erinnert an Mario Santiago Papasquiaros mexikanisches Howl (Consejos…), das im Motiv der Obdachlosigkeit und des Arbeitsuchenden aufscheint: „(weil ich Verschwinden für eine Lösung halte)“, „der ich mir selbst zur Witzfigur wurde“.

Mit „dubioser Tinte“ sind diese Gedichte geschrieben, im Schreiben über Weltgeschichte, immer wieder das Material, die Tradition, das Kommen dessen abklopfend, in was, auf was, über was geschrieben wird. Die Sammlung in der Parasitenpresse, die von Geraldine Gutiérrez-Wienken und Marcus Roloff auf eingängige Weise ins Deutsche übertragen wurde, gibt einen guten ersten Einblick in das Schreiben Cadenas’. Zuvor waren nur einzelne Gedichte von ihm auf Deutsch in der Anthologie Dunkle Tiger und in der Alba zu lesen.

Aber die Freiheit! (nomadischer Blick) gilt nur kurz: „Freiheit war mir nur in Augenblicken bekannt, in denen ich abrupt Körper wurde“. Mit der Sprache kommt die Schuld, kommen „Gedächtnishunde“ wie bei Ramy Al-Asheq, die in den Hinterkopf einfallen. „Pass auf die Sprache auf“, schreibt Cadenas. „Fremdling/Du hast viele Klagelieder im Gepäck./Man sieht es deinen Augen an“. Von ihnen zu lesen lohnt sich.

¹  Auf Spanisch bleibt offen, ob es Angestellte des Vergessens sind, oder ob die Angestellten herumwerkeln, um zu vergessen. Mir gefällt die Übertragung ins Deutsche so wie sie ist aber sehr gut.
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