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Pia Birkel: Dichter seiner Zeit. Über Siegfried Sassoons War Poems

Memo/Essay > Aus dem Notizbuch > Essay
Pia Birkel
Dichter seiner Zeit.
Über Siegfried Sassoons War Poems


Gibt es eine Zeit für Kriegsgedichte? Wenn—zumindest in der eigenen, beschränkten Welt—Frieden herrscht, können sie martialisch, pathetisch, realitätsfern wirken; in Zeiten, in denen militärische Konflikte, Zerstörung und Tote zum Alltag werden—wie wir es jetzt wieder, ob medial, durch Freunde, Angehörige erleben, ist das Bedürfnis, diese Erfahrungen versprachlicht, wenn nicht gar poetisiert zu finden, häufig gering. Dabei ist es zunächst sekundär, wie mit dem Krieg dichterisch umgegangen wird—die Gefahr, entweder zu nah oder zu lebensfern zu schreiben, bleibt bestehen. Und doch können wir gerade jetzt sehen, wie wichtig es ist, eine Sprache für das Grauen zu finden, das—psychisch wie geographisch—so nah an unserer eigenen Heimat stattfindet, wie groß, trotz allem, das Bedürfnis nach Auseinandersetzung ist. Dabei wird immer auch deutlich, wie fragil das Herantasten mit Sprache an die so nahe Grausamkeit ist, jüngst am Beispiel Tanja Maljartschuks, die in ihrer Klagenfurter Rede zur Literatur das eigene literarische Verstummen angesichts der sie umgebenden Realität schilderte. Dass sie damit beim Publikum alles andere als Stille auslöste, spricht mehr als so manche Wortmeldung dafür, wie wichtig es war, dennoch, oder gerade deshalb, die Rede zu halten.
             Es sind nicht nur zeitgenössische Stimmen, an die wir uns in Zeiten des Krieges wenden, um Sinn aus den Geschehnissen zu machen—oder uns gerade ihre Sinnlosigkeit vor Augen zu führen. Die großen Gedichte eines W.H. Auden machen wieder die Runde in den Feuilletons, Zitate von Brecht und Enzensberger werden wiederentdeckt und mit der eigenen Zeit abgeglichen. Dabei scheint der Krieg, den Russland mit aller rohen, stumpfen Brutalität gegen die Ukraine und ihre Verbündeten führt, sich weniger in den Versen Brechts zu finden als in den Gedichten, die inmitten und im Schatten des Ersten Weltkriegs geschrieben wurden—Gedichte, die von Georg Trakl, Guillaume Apollinaire oder Siegfried Sassoon geschrieben wurden.
           Letzterer im Speziellen erlebt gerade eine Renaissance, gestützt nicht zuletzt durch einen vielgelobten und äußerst sehenswerten Spielfilm (Benediction, 2021) und neue Ausgaben der seinerzeit von der Kritik gepriesenen Gedichtbände (War Poems, The Old Huntsman). Sassoon, der unter den britischen War Poets—will man diese fragwürdige Bezeichnung übernehmen—eine Art Hauptrolle einnimmt, zeichnet sich nicht zuletzt durch seine unerhörte Gabe aus, die ganze Ambivalenz der Fronterfahrung in ein paar knappe, gereimte Verse zu setzen: Angst, Verstörung und Abscheu sind genauso Teil von ihr wie Freundschaft, Zusammenhalt und plötzliches Glücksgefühl. Es ist, zumal aus heutiger Sicht, nicht selten ein schmaler Grat, auf dem wir dem Dichter folgen.
          „War is our scourge, yet war has made us wise”, schreibt Sassoon in Absolution, einem der ersten Gedichte, in denen explizit die Kriegserfahrung thematisiert wird, „And, fighting for our freedom, we are free.” Es ist 1915 entstanden, als der damals 28-jährige Dichter in einem walisischen Füsilierregiment das erste Mal in Frankreich kämpft. Das Wir, aus dessen Sicht hier geschrieben wird, ist eine untrennbare Einheit, voll von jenem Enthusiasmus, jener Selbstvergessenheit, die diese erste Phase des Krieges bestimmte. „What need we more, my comrades and my brothers?”
        Doch schon Ende desselben Jahres wechselt der Tonfall: Im Dezember kommt sein jüngerer Bruder Hamo bei einer Offensive in Gallipoli um. To My Brother, eine ins Allgemeine gehobene Elegie auf den Gefallenen, verklärt ihn, wenn auch nicht ganz erfolgreich, zum Helden:

Your lot is with the ghosts of soldiers dead,
And I am in the field where men must fight.
But in the gloom I see your laurell’d head
And through your victory I shall win the light.

Diese Verkitschung des Krieges wird nur gemildert durch Sassoons Fähigkeit, Erfahrung in lyrische, schwingende Verse zu verdichten: Couplets öffnen nicht selten harte Kontraste, Reimwörter bilden Echos oder Gegensatzpaare. Dazu kommt, mit den Erfahrungen, die Sassoon in Frankreich sammelt, ein Wandel hin zu realistischer, unverblümter, teils satirisch-entlarvender Schilderungen. Survivors, von 1917, beginnt so:

No doubt they'll soon get well; the shock and strain
  Have caused their stammering, disconnected talk.
Of course they're ’longing to go out again,’ —
  These boys with old, scared faces, learning to walk.

Der Kontrast zu dem zwei Jahre früher verfassten Gedicht könnte kaum größer sein; während der im Kampf gefallene Bruder noch im Rausch der Kriegsbegeisterung mit Lorbeeren bekränzt wird, werden diese Überlebenden in all ihrem Elend, in all ihrer innerer Zerrissenheit empfunden. Der ironische, gar zynische Ton imitiert jenen der Vorgesetzten, die—wie Sassoon selbst erlebte—, traumatisierte, verletzte und kaum erwachsene Männer zurück an die Front schickten, und entlarvt ihn dabei gleichzeitig in seiner Verblendung. Zudem handelt es sich wohl um eines der frühesten Gedichte, die den charakteristischen Shellshock beschreiben.
          Der Vorwurf des Antipatriotismus, gar des Verrats, war ein reales Risiko für Sassoon, der nur mithilfe des befreundeten Robert Graves einem Prozess entging. Doch schrieb er auch dann noch weiter—neben einer Erklärung, in der er ein Ende der britischen Kriegsbeteiligung forderte, entstehen in den nächsten Monaten und Jahren zahllose Gedichte (und eine Reihe von Romanen), die detailhaft, gar verstörend und doch mit einer Musikalität, die für diese Dichtergeneration charakteristisch werden sollte, die am eigenen Leib erlebte, von Widersprüchen durchsetzte Realität des Krieges in Worte fassen. Berührend ist, wie sehr gerade diese Zerrissenheit spürbar wird: Dass die Soldaten Mut, ja Kameradschaft beweisen, schließt ihren Abscheu vor dem Grauen des Krieges keineswegs aus. „Love drove me to rebel”, heißt es in Banishment, „and mutinous I cried / To those who sent them out into the night.” Gerade die Befehlsverweigerung wird hier zum Beweis des eigenen Mutes.
      Man muss sich auf diese Realität, mit all ihren martialischen Einzelheiten, einlassen, um etwas aus diesen Gedichten zu ziehen. Und dennoch: Vieles davon lässt sich problemlos auf die heutige Zeit übertragen. Zwar streift Sassoon, anders als beispielsweise Georg Trakl und August Stramm, die Geborgenheit der gereimten, meist in Jamben gefassten Form, nie ab. Doch entsteht dabei ein so charakteristischer Klang, dass es in seinem Fall vollkommen schlüssig scheint: Es ist ein Gegentakt zum Marsch, mit dem die jungen Männer an die Front geschickt wurden, eine Art Anti-Marsch, mit dem Sassoon die Musikalität von der Inanspruchnahme der Befehlshabenden zurückfordert. Besonders deutlich wird dies, wenn Zorn und Abscheu einem kontemplativeren Tonfall weichen, den Sassoon, bezeichnenderweise, genauso beherrscht:

Men fought like brutes; and hideous things were done;
And you have nourished hatred harsh and blind.
But in that Golgotha perhaps you'll find
The mothers of the men who killed your son.
(November 1918)

Möglich, dass diese Gedichte uns nicht erklären können, was in unserer eigenen Zeit stattfindet, und wieso. Doch wenn es einen Moment gibt, sie zu lesen, ist es ein solcher—um uns zu erinnern, wie widersprüchlich, wie unbegreiflich der Krieg bleibt, selbst hundert Jahre später.


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