Philipp Rhensius: Der Anruf
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Philipp Rhensius
Der Anruf
Seine Schwester ruft an und erzählt von einer neuen Stelle, die sie im Herbst bekommen wird.
„Cool“, sagt er. „Glückwunsch.“
Er erzählt seiner Schwester einen Witz:
“Kommt ein Rocker in den Blumenladen und fragt: Wo sind denn hier die Guns'n'Roses?”
Seine Schwester lacht, gelangweilt, aber herzlich. Sie ist Lehrerin.
„Weißt du“, sagt sie, „in der Schule hat wieder kaum jemand Hausaufgaben gemacht.“
Er sagt, es sollte verboten werden, zu sagen, Langeweile sei etwas Gutes. Sie erinnern sich an die langen Samstagabende bei ihrer Großtante, wenn sie gemeinsam „Wetten Dass?“ schauten. Der Anblick der überdrehten Erwachsenen in glitzernden Kleidern und matten Jackets hatte sich nach so 45 Minuten abgenutzt. Da konnten die so genannten Saalwetten, bei denen jemand 34 Traktoren auf seiner Hand balancierte oder jemand in einem Piranha-Becken schwamm, noch so spektakulär sein. Wenn die Sendung wegen irgendwelcher Verzögerungen noch 30 Minuten länger ging, hielten sie die inszenierte Eventhaftigkeit kaum noch aus.
Im Vergleich zu dieser Qual durch die alternativlose Bildschirm-Unterhaltung ist der digitale Dauerbeschuss ein Segen. Oder?
Oder Mama?
Die Schwester glaubt nicht, dass wir uns nicht erinnern könnten, wie ihre Mama sie als Baby gehalten und geküsst hat. Er denkt, dass es nur einer falschen Vorstellung von Erinnerung unterliegt. Als könnten wir die Szenen aus unserer Vergangenheit immer ganz klar wie einen Film vor uns sehen statt es auch mal vage zu spüren oder einfach in uns zu tragen wie eine tickende Zeitbombe.
Was ist ein Witz?
Seine Schwester hat zwei Kinder. Er nicht. Während seine Schwester Windeln wechselt oder teuren Whisky in gentrifzierten Bars schlürft, sitzt er im Studio. Irgendwo außerhalb der Stadt. Dort schraubt er an Bass-Frequenzen. Doch eins haben sie noch gemeinsam: sie fanden als Jugendliche Guns'n'Roses richtig beschissen.
Seine Schwester flucht, weil ihr jemand die Vorfahrt genommen hat. Seine Schwester telefoniert immer nur im Auto, weil sie sonst keine Zeit hat. Er glaubt, dass seine Schwester und ihre Kinder und er selbst und alle seine Freund*innen und Verwandten und so weiter mehrheitlich denken wie Menschen.
Menschen denken sofort nach ihrer Geburt, dass die Welt es nur gut mit ihnen meint. Doch das ist nicht wahr. Dennoch halten die meisten durch – nicht, weil es ihnen gut geht, sondern weil sie an das Versprechen glauben, dass es ihnen irgendwann gut geht.
Das Versprechen befiel sie einst wie ein Fluch. Er lässt sie denken, wenn sie nur weiter schuften, weiter leben, weiter hassen, weiter streben, weiter lieben, weiter hoffen, würde es ihnen irgendwann besser gehen.
Ein Witz ist die reinste Form Art, Bedeutung zu manipulieren.
Seine Schwester erzählt, einer Studie zufolge würden Rhesusaffen lieber verhungern als ihren Gefährten einen elektrischen Schock zu versetzen. Bei Menschen sei das umgekehrt.
Das zu wissen, denkt er, bringt die Welt nicht weiter. Es erhebt die Wissenden nur auf den Status der Streberin, die im Matheunterricht als einziges das Ergebnis weiß.
„Ach, echt?“ sagt er. „Überrascht mich jetzt nicht. Hast du mal Hannah Arendt gelesen?“
„Alter, komm nicht schon wieder mit so 'nem Extrem-Vergleich!“
Er überlegt kurz, ob er weiterreden soll.
Doch, das muss sein. „Arendt sagt, dass die Nazis das Töten so effizient machen konnten, weil sie es in eine bürokratische Handlung umgewandelt haben. Eine Befehlskette, sonst nichts.“
Seine Schwester seufzt. Sie hasst solche Vergleiche, vor allem, wenn sie von ihm kommen.
„Du lauerst echt immer nur darauf, die Welt bei der nächsten Lüge zu erwischen, oder?“
„Ja, vielleicht.“
#54454,9183q
Oder anders: Der Witz ist eine kurzfristige Taktik zur Veränderung von Situationen.
Seine Schwester und er sind sich einig, ohne es jemals ausgesprochen zu haben: sie können eigentlich gar nicht gegen Kapitalismus sein, weil er unter ihrer Haut herum schleicht wie diese Würmer im Film “Alien”. Um da irgendwie rauszukommen, müssten sie Suizid begehen oder den kapitalistischen Bedürfnissen etwas entgegen stellen. Auf dass die Würmer von selbst verschwinden, und ihre Körper verlassen auf der Suche nach neuen Wirten.
Was, wenn es längst einen Tod in uns gibt und wir davon nichts wissen.
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Seine Schwester erzählt von diesem renommierten Neuro-Psychologen. Er weiß, dass sein scheiß Buch ihr genauso auf die Nerven geht wie ihm und deshalb unterbricht er sie nicht. Es geht um die Stelle mit den beiden Autisten, die nicht wissen, was Zahlen sind, sie aber fühlen, vor allem Primzahlen. Mit ihnen machte dieser Neuro-Psychologe Tests. Einer nennt eine Nummer, der andere nickt und lächelt. Sie würden sich dann anschauen wie Wein-Connaisseure, die ihre Vorlieben teilen.
„Schon krass”, sagt sie. “Sie spüren Zahlen so, wie wir Menschen spüren.“
Zahlen sind unheimlich.
Er liebt seine Schwester und ihre Familie und er liebt den Klang der Welt, die sie umkreist.
Nie eine Antwort wissen. Alles vage finden. Wissen, es gibt Zahlen, mathematische Konstanten. Bis 500 zählen dauert genau so lang wie die Sonne benötigt, ihr Licht auf die Erde zu schicken.
Unheimlich ist der Alltags-Begriff für eine überraschende Ähnlichkeit. Das gleiche gilt vielleicht auch für einen Witz. Und Zahlen.
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Der inzwischen umstrittene Philosoph Nick Land glaubte Mitte der 90er, dass digitale Technologie Zahlen komplett von den Machtstrukturen der Bedeutung befreit, die Sprache zum Gefängnis für Intelligenz machen. Er glaubte, dass Zahlen durch Technologie von Bedeutung befreit werden könnten.
„Okay, warte, ich raff das nicht.“
Er grinst. War ja klar – sie kennt Zahlen als Wirtschaftstool, nicht als Metaphysik. Sie hat fucking BWL studiert.
1500, 1756,1884, 1948, 1980, 1996, 2004, 2008, 2027. Nichts Menschliches schafft es aus der nahen Zukunft. Die Ära des Haushaltsmüll geht schon bald zuende.
“Hey, ich muss auflegen, die Kinder warten schon.”
Wie war das nochmal mit der Langeweile? Er verkneift sich die Steilvorlage.
Er nickt und legt auf, bevor er merkt, dass sie das Nicken beim telefonieren gar nicht sehen kann.
Er geht zurück in seine Wohnung und schaut aus dem Fenster.
Es gab mal eine Zeit, in der für sie alles eins war. Sie fassten alles an, steckte alles in den Mund, sprachen mit allen und allem. Gesichter, Gegenstände, Spielzeuge, Stofftiere, Zukunft, Vergangenheit.
Philipp Rhensius ist freier Autor, Musiker, Klangkünstler und Redakteur bei Norient und hat eine Kolumne bei der taz.