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Philipp Ammon: Zweitausend Jahre sind verloren

Gedichte > Zeitzünder

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Philipp Ammon

Zweitausend Jahre sind verloren


Zweitausend Jahre sind verloren.
         Hier stand der Thron.
Hajastani sirt¹:
Die offene Wunde, die nicht
                    heilt.
Und Miazum² ist aller Toten Einigung.
Armenien: Arzach, Karabach.
Berglöwen brachen hier hervor
                           und Adler schrieen,
                                so Feinde kamen.
Es war ein letzter Zufluchtsort,
                        wenn Feinde brachen ein ins Land
                               aus Ost und West:
Öffnete sich der Tartaros,
         so brachen Berglöwen hervor.

Heute spielen alle Toten Schach
    gegen Algorithmen aus der Luft,
Gläserne Bienen oder Drohnen:
Der große unbemannte Tod wie böse Geister aus der Luft.

Wie leicht ist fremder Untergang:
Armeni werden sie genannt.

Einer von ihnen, ein Dragoman, rettete
Wien, die schöne Kaiserstadt,
Und durfte künftig Kaffee brauen,
Verfügte Kaiser Leopold:
                            Zum Danke
              schenkte er ein Privileg.

Und Photios, der Patriarch, sandte
                zu den Slawen aus
                            apostelgleich
                               Kyrill, Method:
Zwei Brüder sandte Photios, der Patriarch,
Sprach wie Grigor³:
                  Mehr Licht!

Das ist vorbei. Es bleibt nur eine
Filmmusik für Hollywood
Wehflötenklang zu Gladiatoren
      und Resolutionen.

Alles verloren: Der schwarze Garten Karabach,
                               der Arzach hieß.
Es ist der Toten Einigung wie Miazum.

Hajastani sirt:
Nur Gott kann richten
       diese Welt.

Verloren wie einst Jerusalem,
             Als man noch von der Sünde sprach
        Und Franken folgten einem Papst,
                 Wenn er sie rief: Befreit ein Land.
Vor tausend Jahren
      regierte die Skleraina
                   dort: Theophanou
Und brachte alle Pracht
                    aus Rom am Bosporus,
Wo kaisertreu zu Chalkedon
      Armenier dienten Thron
                   und Staat.

Dann kam und schlug das Römerheer zu
      Manzikert der Türkseldschuke
                            Alp Arslan.
Zehn einundsiebzig und danach
     die Schande einer halben Welt:
           1204.
Hier schweigt des
      Sängers Höflichkeit:
              Sapienti sat.

Mit einem Wort:
     Es geht in dieser Welt voran.
Fern hinterm Berg, habe ich gehört,
       leben primitive Völker noch:
Die zeugen Kinder noch im Bett.
Wie komm ich drauf?
Ach ja. Dort herrscht auch
          der uns fremde Brauch, zu klagen
                       über verlorenes Land.
So auch im Lande Hajastan.
Dort klagt man über Karabach
Wie Herzkranke bei offener Brust,
Als hätten sie die Seele verloren:
Arzach, Hajastani hogin!

Doch auch dorthin kommt sicherlich bald
    der Mensch des jüngsten Augenblicks,
       wird vom Präteritum befreit
        und lebt vom Wischbildschirm gebannt:
Dann herrscht die große Gegenwart
     ohne Geschichtsatlantenlast…

Vielleicht lernen sie auch einst wie wir
                  zu leben ohne Vaterland,
      dürfen wie wir mit blauem Auge auf
        der Weltgeschichte
                Siegertreppchen stehen, –
                    bevor sie abgewickelt werden.

Dann herrscht der Toten Lebenden Einigung das große Miazum im Nichts.


¹ armen.: Armeniens Herz.
² armen.: Einung (ἕνωσις)
³  Gregor der Erleuchter der Parther, Grigor Lusaworitsch, Γρηγόριος Φωτιστής, der Apostel Armeniens.
⁴  (armen.) Armeniens Seele.


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