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Peter Ruben im Gespräch mit Michael Grabek, Teil 1: 18.11.1989

Dialoge

Peter Ruben: Philosophische Schriften. Online-Edition peter-ruben.de, herausgegeben von Ulrich Hedtke und Camilla Warnke. Berlin 2017 © Peter Ruben. Nähere Angaben zum Copyright im Impressum











Peter Ruben










Michael Grabek


Peter Ruben im Gespräch mit Michael Grabek, Teil 1 (am 18.11.1989
- vor den Volkskammerwahlen vom März 1990)

Nicht der Sozialismus stirbt, sondern
der »rohe Kommunismus«



Steht die DDR am Beginn einer wirklichen Erneuerung, in der die revolutionären Traditionen von 1789 und 1917 aufgehoben werden können?

Das würde ich schon sagen. Man muss sich nur darüber klar werden, dass die Revolution von 1917 und ihre Folgerevolutionen als politische Negation des Kapitalverhältnisses durch-geführt worden sind. Das heißt, es waren politische Revolutionen ... unter dem Kommando einer modernen, militärisch potenten KP, die zu ihrer Verteidigung die Herrschaft des politischen Apparats ausbilden musste. Die erste Frage dieser Revolution war die Formierung einer Armee. Und nach militärischen Prinzipien wurde dann auch entschieden, wie man die Wirtschaft führen soll. Sie übertrugen – eigentlich ist es Trotzkis Auffassung – die politische und militärische Administration auf die Wirtschaft. – Machbar ist dies, insofern bloßes Wachstum betrieben wird, nicht Entwicklung der Produktivkräfte.

Die heutige Chance bestände also darin, endlich mit jener, nun sterbenden, militär-bürokratischen Befehlswirtschaft, Schluss zu machen?

Genau, nicht der Sozialismus stirbt, sondern der »rohe Kommunismus«. Man hat den Ein-druck einer Metamorphose. Eine Haut wird abgestoßen, die schon tot ist. Und dies hängt natürlich mit der Entwicklung der Zyklen der Weltwirtschaft zusammen. …

In welchem Zyklus der Weltwirtschaft befinden wir uns jetzt?

Wenn ich ausgehend von Schumpeter den Zyklus bestimme, also 1788 als Beginn einer mit statistischen Mitteln nachweisbaren Zyklen-Existenz voraussetze, dann befinden wir uns im 4. Kondratieffzyklus. Er hat, anderes als Mandel sagt, im Jahr 1953 begonnen. Mandel datiert den Beginn diesen Zyklus in die vierziger Jahre, das hängt damit zusammen, dass er die Tatsache des Zweiten Weltkrieges nicht als besonderes Phänomen in Rechnung stellt. Nein, ich gehe von 1953 aus und der Eintritt in die Depressionsphase dieses Zyklus erfolgte genau 1979/1980. 1980 hat Polen sozusagen das Handtuch geworfen. Das war das 1. Signal dafür, dass überhaupt keine Rede davon sein kann, dass sich der „Sozialismus“ – nennen wir es mal so – von der Weltwirtschaft abkoppeln könnte.

Dann läge der Beginn der Erneuerung gerade am Ende der Depression- und am Anfang der Erholungsphase?

Genau hier liegt unsere große Chance. Die jetzige Krise muss die Kräfte freisetzen, die uns die Möglichkeit geben, in der Erholungsphase die Produktivkräfte zu konstituieren, die uns für die folgenden Generationen weitere Entwicklungsschübe erlauben. Da bin ich gar nicht so skeptisch. Und das bedeutet, dass jetzt im eigentlichen Marxschen Sinne der »Deutschen Ideologie« überhaupt erst die Aufgabe besteht, Sozialismus zu konstituieren, im Gegensatz zum »rohen Kommunismus«. Denn jetzt handelt es sich um die Liquidation der staatlichen Realisierung des Gemeineigentums. Und das bedeutet eine bloß rohkommunistische Verfassung des Eigentums. Nämlich, dass das Gemeinwesen für sich in seiner bloß politischen Existenz über die Wirtschaft herrscht. Wenn ich danach frage, was soll denn Sozialismus eigentlich heißen und anknüpfend an das aus dem lateinischen übernommene Wort societas auch danach frage, was war denn nun die societas bei den alten Lateinern, dann stellt man fest, es waren Leute oder Kommunen, die miteinander im Verkehr stehen, also Verträge abschließen – und das ist der eigentliche Punkt, um den es geht. Denn der rohe Kommunismus hat den Austausch ausgeschlossen und ihn durch die Distribution ersetzt. Wir sind ein Distributionssystem und der Austausch ist verschwunden, folglich wurde die Preispolitik notwendig für den Staat ... Worauf es jetzt ankommt, ist nicht den Privataustausch zu reproduzieren, was diese Herren da drüben gerne möchten, sondern den Austausch zwischen Gliedern der Gemeinschaft, die als souveräne Produzenten nach ihren Fähigkeiten in der Produktion selbst entscheiden, was sie produzieren müssen. Nach den Bedürfnissen der Abnehmer. Und das heißt die Imputation des Austauschs. Das ist die eigentliche Frage.

Also stünden wir wieder bei Marx, dass »der Kommunismus die Produktion der Verkehrsform selbst ist«, und wir hätten endlich zu bestimmen, was die den sozialistischen Kommunen adäquate Verkehrsform wäre?

Ja, und dies ist eine experimentelle Sache. Wir sind keine Utopisten, aber nichts desto weniger brauchen wir Hypothesen über die Natur des Sozialismus, und zwar gesellschaft-lich konsensfähige – und gleichzeitig das Bewusstsein, dass unsere praktische Arbeit das Experiment auf die Möglichkeit der Hypothesen ist ...

Welche positiven Erfahrungen liefert uns da der RGW?

Gar keine. Der RGW in seiner bisherigen Verfassung kann so nicht weiter existieren, das ist völlig klar. Der RGW ist nichts weiter als eine gelegentliche – auf Grund des politi-schen Verteidigungsbündnisses mit der SU – Koordinierung von Wirtschaftsabläufen, und im Grunde auch Zuteilung. Zum Beispiel wurde der DDR der Turbinenbau abgenommen und beispielsweise die Luftfahrtindustrie liquidiert – der RGW war ja immer nur insofern effektiv, als nationale Absprachen zustande kamen.

Also kein wirkliches Organ zur Organisierung von Austauschverhältnissen.

Nein keinesfalls.

Da wäre der RGW nur die Fortführung der alten stalinschen Vorstellungen vom Kommunis-mus als Weltstaat, der das Produzierte irgendwie verteilt?

Ganz recht. Der RGW ist entstanden unter einer Voraussetzung, der Annahme, dass es nicht mehr einen Weltmarkt gibt, sondern dass nunmehr neben dem demokratischen der kapitalistische, der »imperialistische« Weltmarkt besteht. Überhaupt ist die Annahme, dass der Welt-markt verschwinden könnte, die Vollendung des rohen Kommunismus. Die Attacke auf den Markt, auf den Austausch ist der eigentliche Gegenstand und Inhalt des rohen Kommunismus. Es ist die Attacke auf das Geld. Und seit 1970/71 wurde diese Vorstellung von den RGW-Staaten in geradezu atemberaubendem Ausmaß durchbrochen. Die Erhöhung der Kreditaufnahme stieg in zehn Jahren um das Elffache. Das bedeutet, dass sie nunmehr die Teilhaberschaft am kapitalistischen Mehrwert betreiben und so auf ihre ursprünglichen Vorstellungen von der Existenz eines demokratischen oder sozialistischen Weltmarkts gepfiffen haben, der bot nämlich nichts.
Auch die RGW-Diskussion über die Herstellung einer konvertierbaren Währung innerhalb des RGW ist Ausdruck dieser alten Ideologie. Eine Währung ist nur mit Bezug auf den Welt-markt konvertierbar. Den kann man weder ignorieren noch aufheben. Er ist vielmehr die Bedingung der positiven Selektion unserer Produktivkräfte. Diese rohen Kommunisten denken immer, dass ein Markt eine Institution der gegenseitigen Bescheißerei ist. Sie begreifen nicht, dass es sich um das Medium der Selektion der Produktivkräfte handelt. Gerade das muss jetzt gelernt werden. Da stehen wir noch ganz am Anfang. Dies ist noch lange nicht klar. Auch Modrow in seiner Regierungserklärung spricht von Preispolitik, die reformiert werden muss. Das Problem besteht aber darin, die Preispolitik überhaupt abzuschaffen!

Man sagt gewöhnlich, dass die Deutschen nie eine wirkliche Revolution vollbracht, nie eine vollendet hätten. Was ist »übrig geblieben« von der Revolution von 1789,1848, 1917/18 und dem Beginn des DDR-Aufbaus, auch an Positivem, das in einer wirklich sozialistischen Erneuerung aufgehoben werden kann?

Zunächst: Diese Vorstellung, dass die Deutschen zur Revolution unfähig waren, basiert auf einer bloß politischen Ansicht von der Revolution. ... Die deutsche Entwicklung ist aber keine bloße politische Sache, keine bloße Konstitution eines nationalen Gemeinwesens, sondern die Deutschen sind in die Geschichte eingetreten als ein Bündnis verschiedener Stämme, das heißt als eine Gesellschaft im Kleinen. Eine Gesellschaft wohlgemerkt, nicht eine Kommune. Und das bedeutet, dass im Norden mit dem Norden gehandelt wurde, im Süden mit dem Süden usw. und dass die Beziehungen zum Ausland immer so stark waren, wie auch die Beziehungen der Deutschen untereinander. Und das schloss von vornherein eine bloß politische Konstitution des deutschen Citoyen aus.

Und die Franzosen wären dann so etwas wie eine Kommune im Gegensatz zu societas?

Ja. Die Franzosen haben doch ihre Nationalkonstitution gegen das Reich gemacht. Das war doch der Gegner. Franz I. hat Karl V. als Gegner gehabt. Und alle diese Entwicklungen der nationalen Volkswirtschaften sind im Wesentlichen gegen dieses römisch-deutsche alte Imperium realisiert worden. Und das bedeutet, Deutschland war immer der Gegenstand, der äußere Gegenstand einer politischen Revolution woanders. Ob nun in den Niederlanden, England, Frankreich oder wo auch immer… Und ich würde schon sagen, diese Geschichte muss man in Rechnung stellen. Wenn man unter Revolution aber mehr versteht als bloß politische Revolution, sondern gesellschaftliche Revolution, kulturelle Revolution, Revolution des Geistes, dann kann man über die Deutschen gar nicht meckern. Da haben sie kräftig mitgemacht. Die Revolution, die dazu führt, die Dominanz der katholischen Ideologie in Europa zu brechen, ging von Deutschland aus. Man denke nur an Luther.

Stichwort: Luther in der Gegenwart (Friedrich Schorlemmer z. B.). Ist diese Tradition noch relevant für die Verteidigung des Sozialismus?¹

Marx selbst erkennt in Luther den ersten Nationalökonomen. Das ist das, was mich an Luther hier interessiert. Luther hat das Problem des Kaufhandels zur Debatte gestellt. Was ist seine Antwort? Für jeden normalen Menschen ist es oder scheint es zumindest klar zu sein eigentlich produzierte ein Kaufmann nichts. Aber andererseits ist klar, dass er uns Produkte liefert, die woanders eingekauft oder hergestellt werden. Nun stellt Luther die Frage, wie soll der Kaufmann eigentlich leben? … Seine kühne Antwort lautet: Er soll so viel verdienen, wie ein anständiger Arbeiter. Das aber bedeutet die Identifikation der Handelstätigkeit als Arbeit. Das ist Luther. Das haben die deutschen Kommunisten bis heute nicht begriffen.

Ist das noch präsent in der protestantischen Kirche von heute?

Ja, weil die protestantische Kirche als Gemeinde originär demokratisch verfasst ist. In der Ideologie, der Theologie, in der Religionsvorstellung natürlich mystifiziert und verdreht, aber diese eigene ökonomische Fragestellung ist noch da.

Schorlemmer also der objektive Repräsentant dieses Denkens in der Geschichte und insofern kein Opponent des Sozialismus?

Überhaupt nicht. Was die Kirche immer mitbringt, [ – ob katholisch oder evangelisch – ] ist das klare Bewusstsein von der Notwendigkeit der Gemeinschaftlichkeit... und bei den Deutschen war es eben so, dass die Gemeinde als demokratische Organisation überhaupt nur noch bei der evangelischen Kirche präsent war. Sonst wurde sie ja zerstört und an ihre Stelle trat das privat-egoistische Individuum, – als bürgerliches Individuum konstituiert. Dagegen hat die Kirche als protestantische Kirche die Gemeinde immer festgehalten. Natürlich nur als Kirchengemeinde. Und es kommt hinzu, dass die Stabilisierung des Luthertums über die Landesherrschaft erfolgt ist, die aber ist durch die kommunistische Revolution beseitigt worden. Jetzt steht die Kirche allein für sich da. Und sie verwirklicht sich nicht mehr als landesherrliche Institution, sondern nur noch als Kirchengemeinde. Und sie erhielt in dieser Gesellschaft eine neue Rolle: All die Mühseligen und Beladenen kamen zu ihr. Und je schärfer die landesherrlichen Konflikte wurden, umso mehr sind hingegangen.

Und die Kirche in der DDR verteidigt dann erneut die Gemeinschaftlichkeit gegen die hier wachsenden Privategoismen, und darin bestünde ihre positive Funktion für die gegen-wärtige Erneuerung?

Ja, so ist es. In diesem Sinne ist die Kirche selbst einer der Repräsentanten des eigentlich kommunistischen Gedankens. Kommune heißt Gemeinde, weiter nichts. Und angesichts der klassisch liberalen Vorstellung, dass die Gesellschaft durch Vertrag der vorausgesetzt autonomen Personen hergestellt wird, ist die Kirche immer antiliberal. Sie wusste immer, dass diese Vorstellung so nicht stimmt.

Wenn die Kirche immer antiliberal ist, wie verhalten sich dann Friedrich Schorlemmer und Manfred Gerlach zueinander? Ist Gerlach dann der Repräsentant von 1789?²

Ja, das hat er expressis verbis artikuliert. ... Wenn Gerlach auftritt und sich Liberal-Demokrat nennt, also zwei verschiedene Sachen vereinigt und nun die Losungen der französischen Revolution artikuliert, dann geht es um den Citoyen, aber nicht in der damaligen Gestalt einer Abstraktion vom Bourgeois, sondern nunmehr um den sozialistischen Produzenten als Glied seines Gemeinwesens. Denn hinsichtlich des Citoyen ist ja zugleich die Gemeinschaft via Nationalversammlung als solche vorgestellt und vorausgesetzt. Und hier liegt der Zusammenhang zwischen Schorlemmer und Gerlach. Während der eine eher von politischen Voraussetzungen ausgeht, hat der andere eher die kirchliche Gemeinde im Blick. Für beide ist daher die Erklärung, wir wollen in der DDR den Sozialismus haben, keinesfalls eine Phrase.

Du siehst hier also wirkliches Sozialismus- Denken?

In jedem Fall. Denn insoweit man sehen kann, besteht ja ein Mindestkonsens. Während die Kirche die Gemeinschaftsidee mit der Gemeindevorstellung einbringt, bringt Gerlach sie mit dem Citoyen ein, und der normale Arbeiter in der DDR unterstellt sie mit der Voraussetzung der Sozialpolitik, der Vorstellung von der sozialen Sicherheit, selbstverständlich ebenfalls. So haben wir einerseits die Zersetzung des militärbürokratischen Apparats, den die Kommunisten zur Führung der Wirtschaft realisiert haben. Zugleich aber bleiben ursprüngliche sozialistische und kommunistische Intentionen, insofern sie ökonomische, soziale Inten-tionen sind, gänzlich unberührt.

War der Herbst ’89 eine »Wende«?

Wenn man mit Wende den gesamten Vorgang meint, der hier abläuft, dann ist die Wende am 9. Oktober passiert. Nämlich mit der Entscheidung, nicht die Waffen einzusetzen. Dies war bereits die Spaltung in der Führung. Wenn sie geschlossen und konsequent eine »chinesische Lösung« angestrebt hätte, hätten sie schießen lassen müssen.

Ist die »chinesische Lösung« nun ausgeschlossen?

Ich halte sie für absolut ausgeschlossen. Sie ist am 9. Oktober erledigt worden.

Und Modrows Regierungserklärung?

Zeigt uns die Entfaltung der »Wende« und insbesondere, dass nunmehr in der DDR seit Jahrzehnten zum ersten Male eine Regierung besteht, die sich als Vollzugsorgan der Volkskammer versteht und nicht mehr irgendeinem Parteisekretariat oder Polit-Büro untertan ist und Weisungen entgegennehmen wird.

Zu Modrow. Haben wir einen Gorbatschow an der Spitze, auch von den Fähigkeiten her?³

Modrow ist ein unglaublicher Glücksfall. Von den Fähigkeiten her ist er sogar noch besser. Modrow hat etwas, was Gorbatschow fehlt, die Einsicht in die Natur der wirtschaftlichen Aufgaben. Er stand doch dauernd mit einer intelligenzintensiven Dresdner Industrie in Kommunikation, außerdem ist er promovierter Ökonom, Gorbatschow hingegen Jurist. Gorbatschow sieht die Sache mehr politisch, was auch richtig ist, ich will da nichts in Abrede stellen, aber für uns ...

Also Modrow brächte demnach die Fähigkeiten mit, die Gramsci von einem modernen Politiker
verlangt? Intelligenz und Fachkompetenz, die er in sich vereinigt...

... und noch etwas dazu, was nach den Erfahrungen der letzten zehn Jahre von sehr großer Wichtigkeit ist, nämlich die moralische Integrität der Person. Das spielt eine ungeheure Rolle. Dieser Mann ist nicht korrumpierbar. Der lässt sich totschlagen, aber er ist nicht korrumpierbar. Und genau weil das so war, kam er ja in die Führung nicht rein, blieb er ein Outsider ...

Zur gegenwärtigen Krise. Die DDR hat 130 Milliarden Mark Inlandsschulden und 21 Milliarden Dollar Auslandsschulden. Ist die DDR bankrott? Droht der Ausverkauf?

Davon kann keine Rede sein. Die Inlandsverschuldung, wenn sie in dieser Höhe richtig angegeben wurde, bewegt sich in einer handelsüblichen Größenordnung. ... Das sind in etwa 40 Prozent des Bruttosozialprodukts. Zudem handelt es sich ausschließlich um eine staatliche Inlandsverschuldung, die betrifft keine Kommune, keine Stadt. Eine Verschuldung in dieser Höhe kann eine Volkswirtschaft, die sich produktiv entwickelt, allemal tragen.

Also die zentrale Frage ist die nach der Produktion ...

Das ist der Punkt. Man sollte Schumpeter ernst nehmen: „Auf seinen Schulden reitet man zum Erfolg!“ Die Leute denken immer, wenn Schulden da sind, ist das etwas Schlechtes. Quatsch, Schulden zu machen, heißt, wenn sie richtig gemacht werden, Potential für Entwicklung bilden! Alle wirklichen Entwicklungen der Produktivkräfte sind immer über das Eingehen von Schuldverhältnissen realisiert worden. Wenn man jedoch Kredite verprasst und sich feudal verhält, wie der Adel gegenüber seinen Gläubigern, dann ist es aus, dann fressen einen die Kredite auf. Mein Problem ist, ich will eine detaillierte Aufstellung, wofür die Inlands- und Auslandsschulden genau gemacht wurden.

Wir brauchen ein neues Zirkulationssystem mit einer Zentralbank, die die jetzige bisher inflationstreibende Staatsbank ersetzt...

Das ist eine der Fragen, die bisher nicht gestellt wurden ... Wir haben leider wenig Fachleute. Das heißt, der »rohe Kommunismus« hat eben mit seiner Attacke auf das Geld auch dazu geführt, dass eine ziemliche Ahnungslosigkeit über die Natur des Geldes vorhanden ist. Wir brauchen eine Reform des Bankensystems und damit zugleich das Erwerben von Kompetenz über Banken, Geld, Währung, Börsen etc., – Dinge, die ja auch denunziert wurden. Wir müssen uns Zeit lassen für einen neuen Lernprozess. Was soll man denn von Günter Mittags Intervention in den Jahren 1978/79 »Geld spielt keine Rolle« halten? Zunächst war es ja so, dass der Bankpräsident aufgrund der Mitteilung der staatlichen Zentralverwaltung für Statistik erfuhr, welche Produktivitäts-steigerung erreicht worden ist. Demgemäß wurde mehr Geld gedruckt – und zwar mit dem Ziel Preisstabilität zu erreichen. Mit dem Amtsantritt von Mittag galt dagegen, wenn ihr höheren Gebrauchswert abliefert, dann könnt ihr auch höhere Preise verlangen. Und das war das Signal an das Preisamt, dass Betriebe nunmehr höhere Preise realisieren konnten, wenn sie z. B. statt einfacher bemalte Gläser herstellten – unabhängig davon, ob sie gekauft wurden oder ob es sich um Ladenhüter handelte.

In diesem Zusammenhang sprichst Du Dich strikt gegen Preispolitik aus ...

Das muss das Endziel der ökonomischen Reform sein. Der Preis, die Preisbildung selbst, ist eine Angelegenheit des Marktes. Der Markt ist die einzige Institution, die einen objektiven Preis bildet. Alles andere ist Nonsens. Preispolitik bedeutet immer eine Verzerrung der Wertverhältnisse ...

Modrow sprach in seiner Regierungserklärung vom »sozialistischen Unternehmergeist« als Ausdruck einer völlig neuen Produktionspolitik, die seinerseits gemacht werden soll. Nun wissen wir. dass die Geschichte der DDR immer auch eine Geschichte der – oft willkürlichen – Liquidierung von Produktivkräften war (man denke nur an die Luft- und Raumfahrt-Industrie, den Automobilbau, die Vernachlässigung der Schwachstromtechnik mit ihren Folgen für die gegenwärtige Mikroelektronik u.a.). Wo finden sich trotz der gravierenden Rückständigkeit Potenzen zur Erneuerung?

Es wird sich zunächst generell darum handeln, die Potenzen der Personen, der Individuen, in dieser Wirtschaft juristisch und ökonomisch freizusetzen. Also, alle Vorschriften aufzu-heben, insbesondere die Beschränkungen der Vertragsabschlussfähigkeit für die Arbeitskräfte ... und zweitens: Beseitigung aller Steuern, wie Gewinn- und Einkommenssteuern, die implizieren, dass die Leute nicht arbeiten, ihr Leistungspotential nicht ausschöpfen. Auch mit Blick auf Handwerker, Gaststätten und andere Selbstständige gilt ja: Unser ganzes Steuer-system ist bis jetzt ausschließlich politisch motiviert. Ausschließlich – es hat keine ökonomische Grundlage! Es hat nur die „Gründe“ einer politischen Motivation unter der Voraussetzung einer rohen Klassentheorie. Ich will also kein politisch motiviertes Steuersystem mehr, sondern die klare ökonomische Begründung der Steuer und zwar so, dass die Produktivkräfte entwickelt und nicht beschränkt werden. ... Des Weiteren muss das Leninsche Prinzip der Einzelleistung realisiert werden. Die Person war ja gar nicht verantwortlich. Unsere quasi militärische Wirtschaftsverfassung lief ja darauf hinaus, dass ein Kombinats-direktor seinerseits strikt an die Befehle des vom Politbüro gestellten Oberbefehlshabers der Wirtschaft Günter Mittag gebunden war.

Du würdest Lenin hier nicht kritisieren wollen?

Nein, ganz im Gegenteil. Wir hatten eine unleninsche Realisation. Lenin ist doch kein Militarist gewesen. Seine Neue Ökonomische Politik ist das genaue Gegenteil von dieser Realisation ... Was wir hatten war Stalinismus in Reinkultur, bürokratisch-militärische Verfassung eines Apparats, in dem niemand mehr verantwortlich war. Es sei denn, der oberste
Boss.

Was bringt, da wir ja über den Sozialismus reden, der heutige DDR-Arbeiter trotz seiner staatlich-hörigen Vergangenheit und außerhalb des doppelt-freien Lohnarbeiters an Fähigkeiten und Erfahrungen mit, so dass Du sagen kannst, in nuce ist das Potential vorhanden für den persönlich freien Arbeiter im sozialistischen Sinne?

Seine Produktionskompetenz. Ganz einfach, praktische Produktionskompetenz. Das heißt, er weiß, wie man Güter erzeugt oder Dienstleistungen produziert. Welche, unter welchen Bedingungen, wann ökonomisch am günstigsten, am rentabelsten. Die Arbeiter wissen ganz genau, wie sie, je nach Arbeitsart, die sie realisieren, eine ökonomisch vernünftige Arbeit zu organisieren haben. Man muss sie nur befragen, … Das Problem, um das es geht, ist oft – was Intellektuelle gar nicht wissen, weil sie die Produktionserfahrung nicht haben – nicht so sehr, was produziert wird, sondern wie die Organisation der Produktion rationell zu machen ist, so dass rentabel produziert werden kann. Und das ist eine enorme Kompetenz, die unsere Arbeiter haben. Sie wird nur nicht genutzt, weil nämlich dieses Organisationspotenzial, das der Arbeiter selbst hat, nicht zugelassen ist, aufgrund der Kommandostruktur der Wirtschaft.

Nächste Frage gleich in diesem Zusammenhang, Produktionskompetenz und Arbeitsmittel, Produktionsmittel… Wir haben ja nun sehr oft darüber diskutiert, dass einer der ent-scheidenden Punkte der ökonomischen Krise der siebziger und achtziger Jahre gerade der ist, dass Arbeiter (Ingenieure und Techniker inbegriffen) die notwendigen Produktionsmittel, die Mittel, die sie zum Produzieren brauchen, heute nicht mehr haben, heute nicht mehr kompensieren können per Bastlerarbeiten in den »berühmten« Bastel-Kammern der Neubauten usw. Wo siehst Du da den Ansatz, aus dem – für mich – Dilemma herauszukommen, um über die Restrukturierung des eignen Maschinenbaus, den Außenhandel etc. Produktionsmittel herzustellen, die es ermöglichen würden, dass der DDR-Facharbeiter sich dem Niveau seiner Kollegen im Westen wieder annäherte? (Die Ausreisewelle hat doch auch die Tatsache deutlich offenbart, dass in ganzen Berufen, Produktionsarten, Industrie-zweigen nicht mehr die Fachkompetenz wie in der BRD vorhanden ist.)

Ja, so ist es... Da kann ich nur sagen, dass dies der eigentliche substanzielle Kern der Wirtschaftsreform ist. In Bezug auf dieses Problem müssen wir uns auf eine jahrelange Entwicklung einstellen. Ganz klar, da gibt es überhaupt keine andere Lösung mehr, so tief steckt die Karre eben im Dreck. Ich kann da nur sagen, dass wir dieses Phänomen genauen im Blick haben müssen. Das betrifft auch die Wissenschaften. Wir haben ja eine Dequalifikation in der Wissenschaft organisiert. Da, wo die Partei die Wissenschaft unter sich subsumiert hat, hat sie sie in einen Parteiladen verwandelt und dabei korrupte Leute positiv selektiert, also auch dort Dilettantismus begünstigt. Das System hat eine ganze Generation lang unter der Situation des Dilettantismus gelitten. Dies muss man überhaupt in dieser Klarheit und Präzision wahrnehmen. Das wäre die erste Frage. Die zweite ist: Natürlich ist in diesem Lande die volle Durchsetzung des Dilettantismus nicht überall gelungen. Sie ist z.B. nicht durchgeschlagen in der Landwirtschaft wegen des genossenschaftlichen Eigentums. Da ist die Subsumtion unter die Staatsgewalt nur partiell gelungen, so dass wir dort hohe Kompetenz haben. Und dann gibt es natürlich eine Reihe von Produktionszweigen oder Betrieben, die durchaus Weltmarktstandard besitzen. Z.B. die polygraphische Industrie und auch der Textilmaschinenbau ... Und man kann Deine Fragen nicht vom abstrakten oder allgemeinen Standpunkt, den Du in der Wissenschaft zunächst realisierst, beantworten. Ich müsste jetzt die LPG x, y oder z aufsuchen und fragen, was habt ihr für Möglichkeiten? Und die geben mir die Antworten ...

Also, wir wissen heute noch gar nicht, was überhaupt produziert werden kann. Wir müssten erst analysieren, um dann entscheiden zu können.

Genau. Es gibt Tausende von wirklich guten Wirtschaftskadern, die uns sagen könnten, »also, wenn diese Vorschrift beseitigt wird, jene nicht mehr ist, dann könnte ich hier dieses od r jenes machen und das würde uns so und so viel einbringen ...«. Das sind die Leute, die Du hervorlocken musst. Dazu muss die Presse helfen, der Rundfunk und alle möglichen Leute. Das wäre eine Offensive der ökonomischen Reform in einem Maße, dass sich jeder engagieren würde. Und das wäre ein Druck auf die Rationalität des Bewusstseins und weg von der Ideologie. Den brauchen wir, und da muss man einen langen Atem haben. Ich rechne mit zehn bis zwanzig Jahren in der Wiederherstellung der Potenzen der DDR-Volkswirtschaft.

Und bis dahin laufen die Leute nicht weg?

Die Leute laufen doch deshalb nicht weg, weil wir hier schlechter leben als anderswo. Warum laufen uns die Leute weg? Meine einfache Antwort lautet: Weil sie ihre persönliche Produktivkraft hier nicht entwickeln können! Dies ist der wirkliche Hauptgrund des Weglaufens. Wenn mir eine junge Frau im Fernsehen erklärt, ich möchte doch endlich mal Verkäuferin sein und nicht immer nur sagen »ham wa nich«, dann weiß ich, was die Glocke geschlagen hat. Und das ist genau die deutsche Antwort auf den rohen Kommunismus. Die Deutschen sind nicht gegen die Gemeinschaft, aber sie sind dagegen, dass die Person unterworfen wird und aufhört, als Person zu existieren. Wenn Du den Deutschen in seiner Persönlichkeit attackierst, dann rennt er entweder weg oder er macht ´nen Aufstand. Und genau das ist der Punkt. Wir haben den Dualismus von Volkseigentum, Gemeinschaftspotenz einerseits und persönlichem Eigentum, persönlicher Potenz in der Produktion so liquidiert, dass wir die Person auf das Element der Gemeinschaft reduziert haben. Wir brauchten ja gar keine Personen mehr... Der einzelne will etwas tun, will zeigen, was er kann. Ein Arbeiter will immer zeigen, was er kann, in der Produktion, mit der Dienstleistung, die er verrichtet. ... Dieses Potential ist freizusetzen, dann würdest Du – bei einer genauen ökonomischen Analyse, die wir noch gar nicht haben – die Antwort auf Deine Fragen (einschließlich der Fundamentalfrage, wo das Potential für die Erneuerung überhaupt ist) in einem dauernden Reaktionsprozess schrittweise ermitteln müssen. Es gibt keine ad-hoc-Antwort auf Deine Frage. Ich kann ebenso gut auch antworten, ja es ist möglich, dass dieser Laden Pleite geht. Ich hatte es als Möglichkeit kalkuliert und bin froh ...

... dass die DDR erstmal nicht Pleite ging ...

... ja, dass es vorher passiert ist, mit dem Zusammenbruch dieses politischen Systems, und dass wir jetzt freie Bahn haben. Dies ist für mich die reelle Chance, die die DDR hat. Es ist überraschenderweise gelungen, diese starre politische Haut abzusprengen, ehe es öko-nomisch zu spät war. Und das ist die erfreuliche historische Situation.

Noch einmal zum Lohnarbeiter. Ist es sinnvoll, im Sozialismus vom Lohnarbeiter zu sprechen? Der Terminus ist ja nun ideologisch „besetzt“, auch als Schlagwort für die Bezeichnung von sozialen Verhältnissen, die wir nicht haben ...

Eine der ökonomischen Fundamentalgeschichten, auf die ich Wert lege, ist die folgende: Zuerst muss man die klassischen Erkenntnisse der Nationalökonomie wiederherstellen. Danach gibt es die Grundrente, den Zins, den Lohn, den Gewinn etc. Meine Sicht ist nun die: Eine sozialistische Gesellschaff muss eine Gesellschaft sein, in der die Person von der Arbeit lebt. Nun liefert die Wirtschaft nicht bloß Arbeitseinkommen. Wenn wir nun diesen Dualismus haben, Gemeinwesen und Person, und die Person soll im Wesentlichen von Arbeitseinkommen leben, dann ist für mich damit gleichzeitig verbunden, dass das Gemeinwesen von der Rente und vom Zins leben soll. Ich will also kein privates Bankgewerbe im Sozialismus haben und auch kein Privateigentum an Land. Das ist mit Sozialismus unverträglich. Dies vorausgesetzt, fließt a priori die Grundrente in die Kasse des Gemeinwesens, fließt auch a priori der Zinsgewinn in die Kasse des Volkes. Und jetzt kommt die Gretchenfrage nach dem Gewinn. Und da ist genau der Punkt, an dem ich der Meinung bin, der Sozialismus in diesem ökonomischen Sinne unterscheidet sich vom Kapitalismus dadurch, dass der Gegensatz zwischen Arbeitslohn und Gewinn aufgehoben wird, d.h., der Arbeiter hat Gewinneinkommen und soll es haben. Und dies kann nur dadurch geschehen, dass die Teilnahme der Gemeinschaft am Gewinn, d.h. des Gemeinwesens am Gewinn über die ökonomische Verfassung, die wir realisieren müssen in dieser Reform genau festgelegt wird… Sagen wir, wir die Gemeinschaft nimmt am Betriebsgewinn in Form einer Gewinnsteuer teil, wobei man immer noch die Frage stellen kann, ob das sein muss, also die Kreditierung durch das Volk für die besonderen Betriebe bereits ausreicht – aber nehmen wir mal an, wir erheben eine Gewinnsteuer, die der Volkskasse zufließt, dann bleibt ein Gewinn übrig, der den Produzenten des Betriebes als Gesamtheit zusteht. Und jetzt sollen die Arbeiter über die Gewinnverteilung in den Betrieben selbst entscheiden. Und zwar so, dass du natürlich Rücklagen hast, in den Betrieben, also Vorbedingungen schaffst für eventuelle Modernisierungen des Betriebes, aber auch so, dass die Arbeiter am Gewinn beteiligt sind. So dass das sozialistische Arbeitereinkommen nicht mehr identisch ist mit dem Arbeitslohn, sondern Lohn und Gewinn einschließt. Und Gewinn in dem Maße, in dem der Betrieb produktiv ist ...

Der Arbeiter ist also Lohn- und Gewinnarbeiter?

Genauso ist es. Wir müssen dahin kommen. Die rohkommunistische Vorstellung bestand darin, den Gewinn als Gemeineinkommen abzuführen, und das geht zu Lasten der Entwicklung der Volkswirtschaft. Also muss gesichert werden, dass der Gewinn der Personen, der Gewinn der Produzenten tabu ist und den Staat nichts angeht! Den Produzenten muss er zufließen! Das ist der eigentliche Anreiz für die Entwicklung der produktiven Kräfte. Und sie müssen damit machen können, was sie wollen. Dabei kann das Gemeinwesen natürlich darauf, was sie nun wirklich machen, erheblichen ökonomischen Einfluss ausüben. Der Staat kann sich z.B. gegenüber seinen Bürgern verschulden, kann einen Rentenmarkt entwickeln, und dann kaufen sie eben Rentenpapiere, Staatsanleihen. Warum denn nicht? Der sozialistische Staat sollte vernünftiger-weise Schuldner der sozialistischen Produzenten sein. Das ist seine beste ökonomische Verfassung, die man sich denken kann. Und seine Anteilsnehmern, diejenigen, die die Staatsanleihen kaufen, sollen Zinsen erhalten. Solche Verhältnisse haben wir übrigens schon. Ein Lottospieler, der 450.000 Mark gewann, hat mit dem Staat einen Vertrag gemacht, im Jahr 53 000 Mark Zinsen bekommen und das Geld dem Staat überlassen. Der lebt also von Zinseinkommen. – Insgesamt ginge es darum, die Trennung von Arbeitslohn und Gewinn für unsere Verhältnisse aufzuheben. Das halte ich für den Kern der Sache. Zwar einen Teil des Gewinns für die Gemeinschaft, aber nur einen solchen Prozentsatz, der unter keinen Umständen das Interesse der Produzenten an der Gewinnerwirtschaftung schmälert, den Rest aber an die Arbeiter des gewinnerzeugenden Betriebs und die sollen untereinander ausmachen, wie sie den Gewinn verteilen. Das geht niemanden etwas an, als nur der Belegschaft dieses Betriebes.

Kommen wir noch einmal auf eines der ideologischen Zentralprobleme: Plan und/ oder Markt? Im Westen wird ja immer wieder unterstellt, die DDR müsse sich aus der Planwirt-schaft befreien und endlich zu einer Marktwirtschaft, einer »freien« oder »sozialen«, übergehen. Also Liquidierung der Planung und Etablierung von Marktverhältnissen ...

Also, dies ist natürlich ökonomischer Dilettantismus sondergleichen. Eine Alternative zwischen Plan und Markt gibt es nicht, hat es nie gegeben, ist absoluter Unsinn. Solange es Wirt-schaft gibt, und ich spreche von der altorientalischen Tempelwirtschaft, gibt es Planung. Und jeder Bauer in einer, von mir aus feudal verfassten Landwirtschaft, plant natürlich seine Produktion, mindestens für seine Familie. Das als erstes. Das zweite ist, der Markt wird konstituiert – theoretisch betrachtet – durch mindestens zwei Planer, die als Produzenten miteinander in den Austausch treten, in den Verkehr treten. Der Markt hat also in sich das Element des Plans. Worum es nun geht, ist überhaupt nicht die Alternative von Planwirtschaft und Markt, sondern erstens, dass man begreift, dass es nicht um die Planwirtschaft geht, sondern um eine bestimmte Art von Planwirtschaft. Die in der DDR bestehende Wirtschaft war in Wahrheit keine Planwirtschaft, sondern das politische Chaos, eine chaotische Wirtschaft unter dem Schein des Plans: nämlich unter der Voraussetzung, dass die politische Gewalt die Macht hatte, Investitionsentscheidungen nach ihren politischen Bedürfnissen durchzusetzen, ohne die Proportionalität, also die Verhältnisse in der Volkswirtschaft überhaupt in Rechnung zu stellen. Dies war keine Planwirtschaft. Planwirtschaft kann eine Wirtschaft doch nur sein, die auf Grund einer ökonomischen Analyse (die es nicht gab, da keine ökonomische Theorie da war, die als Mittel der Analyse unterstellt werden konnte) die Wirtschaft so führt, dass eine Steigerung der Arbeitsproduktivität insgesamt herauskommt. Und nun möchte ich auf die wirkliche Geschichte seit der Oktoberrevolution zurückverweisen. In den zwanziger Jahren hat es in der SU die Debatte um in die indikative oder direktive Planung gegeben. Das war die große Frage, die große Debatte in der Phase der NÖP. Einer der Hauptrepräsentanten für die indikative Planung war Kondratjew.Diese Art der Planung war für Japan charakteristisch. Die japanische Wirtschaft ist eine Planwirtschaft, und zwar – ich habe kürzlich einen ungarischen Ökonomen gehört – ist sie eine so rigide, wie es sich kein sozialistisches Land geleistet hat. Die Frage ist nicht Plan oder Markt, sondern die, um welche Planung es sich handelt. Nehmen wir die Volkswirtschaftsplanung, dann muss man wissen, was eine Volkswirtschaft im Unterschied zu einer Betriebswirtschaft oder zur Weltwirtschaft ist. Und nun frage ich, welche ökonomische Theorie erklärt dir diesen Zusammenhang, so dass im exakten Sinne von einer Planwirtschaft geredet werden kann. Da kann ich dir nur sagen, das Modellbeispiel ist Japan. Dort ist das MITI, das Ministerium für Industrie und Handel dafür verantwortlich, dass die Entwicklung der Weltwirtschaft genau studiert wird, um Investitions- und Absatzchancen der japanischen Industrie so exakt zu ermitteln, dass neue Investitions-entscheidungen über den Staat möglich sind ...

Also würdest Du demnach die staatliche Plankommission in eine Art MITI zum Studium der Weltwirtschaft umfunktionieren ...

Ja, genau. Die zentrale Planung soll darauf hinauslaufen, dass die Chancen der Volkswirtschaft auf dem Weltmarkt – und sie können immer nur als Chancen ermittelt werden und nicht als harte Fakten – genau ermittelt und mit möglichst minimiertem Risiko neue Wege für die DDR-Volkswirtschaft auf dem Weltmarkt erschlossen werden.

Wenn die DDR-Ökonomie nun endlich den Weltmarkt ernst nähme, stünden wir dann vor dem Problem einer kommenden Massenarbeitslosigkeit?

Zunächst, als faktisches Problem sehe ich überhaupt keine Arbeitslosigkeit. Ich sehe nur Arbeitskräftemangel in diesem Land. In Bezug auf die Freisetzung der Entscheidungs-kompetenz der Kombinats- und Betriebsdirektoren handelt es sich klarerweise darum, dass man davon ausgehen muss, wenn Produktivkraftsteigerung betrieben werden soll, wird selbstverständlich durch Senkung des Arbeitskraftaufwandes Arbeitskräftefreisetzung betrieben. Insofern ist natürlich klar, dass Arbeitslosigkeit als Möglichkeit bedacht werden muss ... Das heißt, natürlich brauchen wir einen Sozialfonds, in dem möglicherweise auftretende Arbeitslose ihre Unterstützung erhalten und gleichzeitig eine solche Steuerung durch das Gemeinwesen, dass wir Umqualifikationen der Arbeit erzielen, dass wir neue Produktionen eröffnen.

Wer den Weltmarkt konsequent annehmen will, muss zwangsläufig die eigene Währung konvertibel machen ...

Da muss ich sagen, hüte uns der liebe Gott davor, diese Sache sofort in Angriff zu nehmen! Wir können keine konvertible Währung haben, wenn die DDR-Industrie und -Landwirtschaft nicht auf dem Weltmarkt voll wettbewerbsfähig ist. Ist die Weltmarkt-Wettbewerbsfähig-keit wiederhergestellt, dann kann die DDR-Mark selbstverständlich konvertibel gemacht werden, unter der Bedingung, dass eine vernünftige Zentralbankpolitik geführt wird. Also, dass nicht eine politische Entscheidung über die Geldmenge getroffen wird, sondern eine ausschließlich ökonomische. Sukzessive muss dies angesteuert werden. Diejenigen Betriebe, die konkurrenz-fähig sind, muss man sofort frei laufen lassen, andere müssen abgebaut, umstrukturiert werden, um eine derartige Wettbewerbsfähigkeit zu erlangen.

Das heißt also, die Konvertibilität der DDR-Mark ist der Endpunkt einer neuen Geld- und Kreditpolitik auf Basis der Reorganisation der Produktion?

Ganz klar, anders nicht. Die Konvertibilität muss am Ende stehen, nicht am Anfang. Es gibt Leute, abstrakte Ökonomen, die sagen, wir haben zu viel Geld und zu wenig Waren, also müssen wir eine Geld- und Währungsreform machen. Furchtbares Geschrei, sie gehen immer von der falschen Seite aus. Sie gehen von der Geldseite an die Reorganisation der Produktion, des Wirtschaftssystems heran. Das halte ich für falsch, das sind Fehler in Polen und Ungarn. Statt von der Seite der Produktion auszugehen gehen sie von der Geldseite aus und das führt unweigerlich zu inflationären Erscheinungen und letzten Endes wie in Polen dazu, dass die eigene Landeswährung von den Polen selbst »Heu« genannt wird. Das gilt schon gar nicht mehr als Geld und zunehmend werden Dollar oder DM die eigentlich fungierende Währung.

Nun könnte man, vielleicht zynisch, fragen, was ist daran so schlecht?

Daran ist schlecht, dass die Betriebe nicht mehr planen können. Die Betriebe brauchen ein stabiles Preissystem zur Planung der Betriebswirtschaft. Man muss wissen, bei diesen und jenen Kosten ist dieser oder jener Gewinn zu erwarten ... Sobald die Preise sich nicht mehr kalkulierbar verändern, also sozusagen galoppierende Inflation besteht, hört jede Kalkulierbarkeit der Produktion des Betriebes auf.

Kommen wir zur Notwendigkeit einer umfassenden Demokratisierung. Du sprichst in diesem Zusammenhang explizit von »kooperativer Demokratie« ...

Schon durch die Benennung soll der Unterschied z.B. zur CDU/CSU-Argumentation deutlich gemacht werden. Da geht man von der Voraussetzung aus, Demokratie besteht darin, dass eine Regierungspartei eine Oppositionspartei vor sich hat und dass die Regierungs-verhältnisse wechseln können, dass die Opposition an die Regierung kommt etc. Es handelt sich bei dieser Auffassung von Demokratie um einander gegenüberstehende Opponenten. Geht man nun davon aus, dass bei uns das Gemeinwesen nicht allein im politischen Ideenhimmel existiert – also im Parlament als politische Abstraktion Gestalt gewinnt –, sondern ökonomisch im Gemeineigentum, im Volkseigentum realisiert ist, so bedeutet das, dass nunmehr dieses Verhältnis der Demokratie als eines Wechselspiels, als des Regierungswechsels von politischen Opponenten, durch die öffentliche Erörterung der Sachfragen nach der ökonomischen Entwicklung dieses Landes abgelöst werden muss. Unsere Fragen sind daher nicht mehr dominant politisch, sondern sie sind ökonomische Sachfragen und in der Bestimmung der Probleme ist die Frage nach der Parteizugehörigkeit plötzlich sekundär. Wenn es um die Frage geht, wie die Rentabilität eines Betriebes gesichert werden soll, geht es um Sachkompetenz. Und die Entscheidung darüber liegt nicht in der Tatsache, dass jemand einer Partei angehört. Dies ist ja gerade der rationelle Kern des Kampfes gegen den Führungsanspruch der SED, die aus der Voraussetzung, eine besondere Partei zu sein, einen Führungsanspruch gemacht hat.... In der sozialistischen Gesellschaft hast Du sehr wohl verschiedene Interessen und daher verschiedene Parteien, aber diese sind immer rückgekoppelt an ein gemeinsames, verbindendes Interesse auf Grund des Gemeineigentums an den Produktionsmitteln, am Land, so dass sie nicht mehr dominant als Opponenten d.h. ohne ein gemeinsames verbindendes Interesse gegeneinander wirken, Außer den – wie in der bürgerlichen Gesellschaft konstituierten Sonderinteressen – gibt es eben wirklich ein alle bindendes konstituiertes Gemeininteresse. An die Stelle des Spiels von Regierung und Opposition tritt eine Kooperation von Leuten, die gewiss Sonderinteressen haben – was wir jetzt endlich anerkennen –, die zweitens aber auch ein gemeinschaftliches Interesse besitzen. Damit existiert eine völlig neue Situation für die Demokratie in diesem Lande. Mit anderen Worten: Während die DDR eine kommunistisch verfasste Gemeinschaft gewesen ist, hat sie in ihrer künftigen Verfasst-heit sozialistisch, d. h. Gemeinschaft und auch Gesellschaft zu sein. Und wie sich in diesem Falle das Verhältnis von Gemeinschaftsinteresse und Privatinteresse gestalten, also die Demo-kratie beschaffen sein wird, ist eine historisch durchaus offene Frage.

Die Massenbewegung in der DDR, wie siehst du die überhaupt? Vorausgesetzt, dass man erkennt, dass sich eine Massenbewegung in der Verschiedenheit artikuliert, eine Massenbewegung, sich verschieden artikulierender Individuen, die nicht gestaltlos ist, die irgendwie durch die Straßen pöbelt, scheint mir doch das völlig Neue – auch im Vergleich zu Polen und Ungarn und auch der SU zu sein ...

Ja, das muss man sagen. Man muss ja sehen, wovon sie eigentlich ausgegangen ist. Es ist ja nicht eine Massenbewegung der Arbeiter, sondern sie ist ausgegangen von aus der Partei ausgeschlossenen oder die Partei verlassenden Intellektuellen, die angefangen haben in kleinen Zirkeln und Clubs sich Gedanken darüber zu machen, wie es denn nun weitergeht. Und die ihre Heimat vor allem bei der Kirche gefunden hatten. So dass, – ich würde schon sagen Mitte der 70er Jahre wurde das deutlich – sich ein großer Prozentsatz der jungen Leute vom politischen System distanziert, der schließlich zur einer Massenbasis wurde, aber einer Massenbasis, die zunächst in kleinen Gruppen an den verschiedensten Orten der DDR sich zusammenfand, angefangen von Jena über Berlin bis hin nach Greifswald. Und jetzt kommt hinzu, dass nach dem Zeigen der chinesischen Karte, plötzlich die kulturelle Intelligenz protestiert, die zum großen Teil ja durch dieses System favorisiert worden ist und gut bezahlt wird, und macht nun nicht mehr mit. Und die Berliner Demonstration (4.November '89) ist ja von den Leuten vom "Deutschen Theater", von den Theaterschaffenden in der DDR ausgegangen. Und nun schließen sich diese Leute alle zusammen und hören sich an und erreichen dabei ein kulturelles Niveau, das mich vollständig überrascht im Gegensatz zu früheren Erfahrungen in der Massenbewegung, wo einzelne Probleme auf die Tagesordnung gesetzt wurden, am 17. Juni 1953 ging es z. B. vor allem um die Normerhöhung, sie sollte wieder auf das alte Maß reduziert werden, während jetzt die politische Verfassung der Gesellschaft in der DDR als solche thematisiert wird. Das Volk stellt die Frage nach seiner politischen Verfasstheit überhaupt!


¹ Friedrich Schorlemmer *1944; evangelischer Theologie und Bürgerrechtler. Veranlasste auf dem Kirchen-tag 1983 in Wittenberg als symbolischen Akt der Friedensbewegung das Umschmieden eines Schwertes zu einer Pflugschar. Er setzte sich für die Wiedervereinigung durch Konföderation der DDR mit der BRD ein, um die DDR als sozialistische Alternative für die BRD zu erhalten.
² Manfred Gerlach (1928-2011). 1967-1990 Vorsitzender der LDPD (Liberaldemokratischen Partei Deutschlands) und stellvertretender Staatsratsvorsitzender, letzter Staatsratsvorsitzender von Dezember 1989-April 1990.
³ Hans Modrow * 1928. Maschinenschlosser; arbeitete als Funktionär der FdJ und SED in verschiedenen Funktionen; 1966 Promotion zum Dr. rer. oec. (Soziologische Probleme der Wirtschaftsleitung). 1973-1989 ist er 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden, wurde 1989 Mitinitiator des „Dresdner Dialogs“, – d. h. der ersten offiziellen Kontakte zwischen Behörde, Partei und Opposition – mit der „oppostionellen Gruppe 20“. November 1989 bis März 1990: Vorsitzender des Ministerrats der DDR. Bildete im Dialog mit dem „Runden Tisch“ eine „Regierung nationalen Verantwortung“ und strebte die Einheit von DDR und BRD auf konfö-derativer Basis an.
Günter Mittag 1926-1994. Ausbildung bei der Reichsbahn. 1956 Fernstudium a. d. Hochschule f. Verkehrs-wesen Dresden. 1958 Dr. rer. oec.: (Probleme der sozialistischen Entwicklung d. Verkehrswesens); 1958 - 61 Sekretär der Wirtschaftskommission beim Politbüro des ZK; 1961/62 Stellvertr. Vorsitzender u. Sekretär des Volkswirtschaftsrates: war maßgeblich an der Konzeption von W. Ulbrichts NÖSPL beteiligt. Wechselte nach Ulbrichts Absetzung die Fronten; 1966-89 Mitglied des Politbüros; wurde unter Honecker zur entscheidenden Schlüsselfigur für die Struktur (Kombinatsbildung) und Entwicklung der DDR-Ökonomie.
Nikolai D. Kondratjew (1892-1938) russischer Ökonom. K. wurde international vor allem durch seine Entdeckung langwelliger zyklischen Schwankungen der Weltwirtschaft bekannt. Begonnen von Die Weltwirtschaft und ihre Konjunkturen in der Kriegs- und Nachkriegszeit (1922) bis hin zu Die langen Wellen der Konjunktur (russisch 1925, deutsch 1926) publizierte er, der damalige Direktor des Moskauer Konjunkturinstitutes, bahnbrechende Arbeiten. Im Anschluss an Josef A. Schumpeter (1939) spricht man von Kondratjew-Zyklen, die nach Schumpeter um die 55 Jahre, nach anderen Autoren 40-60 Jahre dauern. Aus heutiger Sicht betrachtet, eröffneten K´s Forschungen für die Entwicklung der Sowjetwirtschaft antistalinistische Perspektiven. So trat er im Gegensatz zur (voluntaristischen) direktiven Planung für eine indikative Planung ein. Die Gestaltung der Agrarordnung hielt er für die Schlüsselfrage der sowjetischen Wirtschafts-entwicklung: Gestützt auf die Nationalisierung des Bodens gelte es vor allem, das wirtschaftliche und kulturelle Niveau der bäuerlichen Einzelbetriebe zu heben und sie (nur) in dem Maße zu kollektivieren, wie durch Umfang und Fortschritt der Agrartechnik hierfür gesicherte Entwicklungsbedingungen geschaffen werden können. 1930 wurde K. verhaftet, 1932 als vermeintliches Mitglied einer von der Geheimpolizei zu diesem Zweck erfundenen Bauernpartei zu einer 8-jährigen Haftstrafe verurteilt. Erneut vor ein Militärgericht gestellt, wurde er am 17. 9. 1938 erschossen.


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