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Ocean Vuong: Nachthimmel mit Austrittswunden

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Stefan Hölscher

Ocean Vuong: Nachthimmel mit Austrittswunden. Gedichte. Englisch / deutsch. Übersetzt von Anne-Kristin Mittag. München (Carl Hanser Verlag) 2020. 176 Seiten. 19,00 Euro.

Gegensätze über Bande gespielt.
Eine queere lyrische Identitätssuche


Der junge vietnamesisch-amerikanische Autor Ocean Vuong ist uns vor allem durch seinen 2019 im Hanser Verlag in deutscher Übersetzung erschienenen, international umjubelten Roman Auf Erden sind wir kurz grandios bekannt. Die Themen und Figuren, die den Roman bestimmen, tauchen allesamt auch in den bereits 2016, also deutlich vor dem Roman im Original veröffentlichten Gedichten Night Sky with Exit Wounds, die nun in einer zweisprachigen Ausgabe bei Hanser herausgekommen sind, auf: der Krieg in Vietnam; die Großmutter, die dort von einem amerikanischen Soldaten geschwängert wurde; der Vater, der die Mutter misshandelt und die Familie früh verlässt; die Mutter, die ihren Sohn liebt und ebenfalls brutal schlägt; Sexpartner und Liebhaber. Das alles mit unverkennbar autobiographischem Bezug zum Autor, der noch durch die Widmung für meine Mutter [& meinen Vater] und das vom Autor stammende Coverbild unterstrichen wird, das vermutlich den Autor als kleinen Jungen zwischen Großmutter und Mutter sitzend zeigt. Dabei kommt die Auseinandersetzung mit dem Vater, der im Roman eine fast unscheinbare Randfigur bleibt, intensiv und durchgängig in den Gedichten vor, die ihn ebenso wie der Roman als Verlorenen zeigen:

Wie jeder gute Sohn ziehe ich meinen Vater aus
dem Wasser, schleife ihn an den Haaren

durch weißen Sand, seine Knöchel graben eine Spur
die Wellen blindlings auslöschen        

Im Fokus stehen in den Gedichten ebenso wie im Roman Fragen von Herkunft, Identität, familiärer Dramatik, Gewalt und Sexualität, zum Teil brachial offen angesprochen:

Ein amerikanischer Soldat fickte ein vietnamesisches Bauernmädchen.
                                                                Deshalb gibt es meine Mutter.
Deshalb gibt es mich. Deshalb keine Bomben = keine Familie = kein Ich.    

Gemeinsam ist Roman und Gedichten vor allem aber die das beschriebene Geschehen durchziehende Verwobenheit von körperlicher Gewalt und Hingezogenheit, von vehementer Zerstörung und Kreation. Im Gedicht Eine Spur näher am Abgrund heißt es etwa:

O Vater, o Vorzeichen, drück
dich in sie – während das Feld zerfetzt wird

vom Grillengekreisch. Zeig mir, wie Verderben ein Heim
aus Hüftknochen baut. O Mutter

o Minutenzeiger, lehre mich,
einen Mann so zu umgreifen, wie Durst

Wasser umgreift

Diese Gleichzeitigkeit von Zerstörung und Entstehung (wie Verderben ein Heim aus Hüftknochen baut), sexueller Verbindung und physischer Bedürftigkeit (einen Mann so zu umgreifen, wie Durst Wasser umgreift) kennzeichnet Roman und Gedichte von Ocean Vuong wie eine Grundbedingung menschlichen Daseins. Man kann sich hier an die ursprüng-liche Fassung von Sigmund Freuds Triebtheorie erinnert fühlen, nach der es oberhalb der rein physiologischen Bedürfnisse (wie Durst, Hunger, Schlafbedürfnis…) über-haupt nur zwei den Menschen bestimmende und voneinander nicht loslösbare Grunddynamiken gibt, nämlich Eros als Lust- und Thanatos als Aggressionstrieb. Die Welt, die Little Dog im Roman und das lyrische Ich in Gedichten des Nacht-himmels mit Austrittswunden wahrnimmt, und hier muss man wohl sagen, die Welt wie sie auch der Autor Ocean Vuong wahrnimmt, wird auf allen Ebenen – politisch, gesellschaft-lich, individuell – durch die unauflösliche Verschlungenheit von zerstörerischer Gewalt und sehnsüchtigem Verlangen geprägt.
Das, was Ocean Vuongs Sprechen darüber nun aber zu etwas ganz Besonderem macht, ist, dass es dem Dichter gelingt, diese Gleichzeitigkeit in Sprache zu bringen. „Bringen“ ist dabei eigentlich schon ein zu statisches Wort und „Fassen“ wäre es allemal. Die Sprache von Ocean Vuong zeichnet sich nämlich gerade durch eine extrem hohe Beweglichkeit und Durchlässigkeit aus. Sie führt die Gegensätze ineinander über, verbindet sie, spielt sie über Bande – und tut dies mit kraftvollen, sinnlichen, assoziativen Bildern:

Ich halte im Feld & mache den Motor aus.

                                              Es ist ganz einfach: Ich weiß nicht
                                              wie man einen Mann zart

liebt. Zärtlichkeit
etwas, zu dem man geprügelt

                                             wird. Glühwürmchen gefädelt
                                            durch Saphirluft         

Du bist so still – du bist fast

                                              Morgen.

Die Weichheit des Körpers
bewahrt uns

                                              vor Einsamkeit
             
Selbst da, wo sich die Sprache ohne alle Umschweife auf sexuelle, und das heißt hier zumeist auf homosexuelle Interaktion bezieht, bewahrt sie ein poetisches Schweben, so wie etwa hier:

Hat meine Wange gezuckt,
als der nasse Schatten in seinem Schritt erblühte
& in das Ocker der Erde sickerte?
  
Oder hier:

          es gibt nichts
Heiligeres als den Herzschlag eines Mannes
          zwischen den Zähnen
zu halten
     
Dies ist die ganz große Stärke von Ocean Vuong: den Strom des Körperlichen in das Strömen der Sprache suggestiv zu überführen. Und mit dieser Bildlichkeit spielt er explizit auch selbst:

           Ich dringe in
mein Leben
           wie Worte
in mich drangen –
durch
          die Stille
dieses weit
          geöffneten Mundes
stürzend
               
Bei Passagen wie dieser oder auch der folgenden zucke ich allerdings ein wenig:

Im Museum des Herzens

bauen zwei kopflose Menschen ein brennendes Haus
   
Hier wird es mir, so sinnlich stark es klingen mag, ein wenig zu expressionistisch, zu pathetisch, zu dick. Und das scheint mir an nicht wenigen Stellen in den Gedichten dieses Bandes eine Gefahr zu sein: Die Gefahr, dass das sensitiv Bewegliche, Vitale und Emotionale mitunter auch in etwas, was man als effektorientiert und damit wieder als tendenziell trivial wahrnehmen kann, abgleitet. Es gibt Besprechungen, die die Übersetzung von Anne-Kristin Mittag als zu roh kritisieren. Die zumindest punktuell immer wieder aufscheinende Nähe von mutiger Emotionalität und schlichterem Pathos erlebe ich jedoch ebenso auch in den amerikanischen Originalgedichten, die ich bereits vor der Romanlektüre gelesen und nun in der zweisprachigen Ausgabe wiedergefunden habe.
    Im Roman habe ich hiermit nicht gehadert. Ich habe es dort nicht als Schönheitsfehler gesehen. Im Gegenteil: die Nähe und das immer wieder Ineinanderüberfließen von poetischer Subtilität und Reflexivität einerseits und prosaischer Klarheit und schonungsloser Direktheit andererseits, scheint mir gerade eine herausragende Stärke des Romans zu sein. Eine Stärke, die ich in den Gedichten leider nicht in entsprechender Weise wiederfinde. Vielleicht hat die durch den Handlungsfluss stärker strukturierte Romanform oder die über die Zeit gesammelte größere literarische Erfahrung des Autors beim Schreiben geholfen, diese Pole günstiger zu balancieren. Vielleicht sind es aber auch einfach unterschiedliche Leseerwartungen gegenüber dem jeweiligen Genre, die sich hier auswirken (können). Wie dem auch immer sei: Im Ergebnis halte ich den Roman für das deutlich größere, auch poetisch (!) größere Ereignis als die im Nachthimmel mit Austrittswunden versammelten Gedichte. Lyrisch spannend und lesenswert sind sie aber allemal.  


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