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Norbert Lange: Ein Gedicht sagen

Werkstatt/Reihen > Reihen > Robert Duncan - Es ist Magie. Spontane Passagen

Norbert Lange


                                                                                                                                                                    7.3.2017

Ein Gedicht sagen

Lieber Mathias,

das war ein gutes Treffen! Auch eine schöne Gelegenheit, die Themen aufzufrischen, auf die wir in unseren Gesprächen oft zurückkommen. Auf dem Heimweg ist mir dann noch das richtige Wort eingefallen, um Robin Blasers Umgang mit den Wörtern zu beschreiben: Es war nicht „Eleganz“, an die ich dachte und wie ich zuerst erklären versuchte, auch wenn das, ganz sicher sogar, eine Eigenschaft von Blasers Gedichten ist; sondern das Wort, nach dem ich suchte, war „Achtsamkeit“. Ich bilde mir ein, dass man Dichtern anhören kann, wie sehr sie in ihren Gedichten den Wörtern Raum geben, oder wie wenig sie ihn ihnen überlassen. Wenn ich Blaser höre – und als ich Harald Muenz und Dir zuhörte, hatte ich denselben Eindruck –, spüre ich eine Aufmerksamkeit, die den Wörtern die Möglichkeit lässt, sich zu artikulieren. Es ist ein Hegen der Wörter, da man um ihre Sensibilität weiß und ebenso darum, welchen Zorn sie über einem entladen können, wenn sie falsch angefasst werden. Sensibilität und Zerbrechlichkeit sind eben nicht synonym. Die Angewohnheit der Wörter, sich gegen den zu wenden, der sie gebraucht, tritt dazwischen. Und nur Schwachköpfe oder selbstgerechte Autokraten glaubten dann, dass sie ihnen blind folgen. So schnell kann sich täuschen, wer meint, mit Wörtern auf etwas hinauszulaufen, während sie mit ihm schon umspringen, wie es ihnen gefällt. Wie man auf Wörter gekommen ist, so hat man sie sich möglicherweise schon eingefangen. Und wer trotz mehrerer Backpfeifen noch meint, keinen Grund zum Zweifel am eigenen Verhalten zu haben, der wurde unlängst zur Marionette seiner empfindlichen Wärter.

Man ist also gut beraten, im Umgang mit ihnen behutsam vorzugehen, weil sie auf Zwänge jeder Art allergisch reagieren. Ein solcher Zwang könnte beispielsweise sein, eine Lesung veranstalten zu sollen. Dabei möchte man das evtl. gar nicht. Man möchte vielleicht lieber in einem Restaurant, bei einem Kaffetrinken oder auf der Arbeitsstelle mit jemandem ins Gespräch kommen, über dies und das sprechen, um am Ende sagen zu können: Wenn jemand auf dich zugeht und ein Gedicht sagt, woher weißt Du, dass es ein Gedicht ist? Und nicht etwa einem didaktischen Impuls folgend: Siehst Du, Du dachtest, wir sprechen über dies und das. Du hast jedenfalls nicht damit gerechnet, dass ein Gedicht gesagt werden würde. Und am Ende hatten wir da doch ein Gedicht.

Nein, es hat sich ja alles am richtigen Platz befunden, im Raum. Du, ich, die anderen. In der Zeit. Und deswegen haben wir ein Gedicht gesagt.

Im übrigen war es ein sehr kurzer Text, der mit einem Brief Mozarts, einem Gedicht Konrad von Würzburgs, einem Deiner Gedichte und mit Euren beiden Stimmen eine Stunde füllte.

In den vergangenen Monaten hatte ich auf Lesungen – nicht nur dort, aber sie meine ich –, oft das Gefühl, weniger Wissen und Sicherheit zu haben, um über etwas zu sprechen oder überzeugend eine Haltung einnehmen zu können, und sei es nur als Autor, der gleich Gedichte vortragen wird. Und da wundere ich mich immer wieder, wenn meine verschiedenen Rollen (Interessen, Beziehungen, Jobs), aller Schwere und gleichzeitigen Haltlosigkeit zum Trotz, bisweilen auf einem Feld zusammentreffen, das ihre Widersprüche vereinbar wirken lässt.

Diesen Eindruck hatte ich während Eurer Veranstaltung. Wobei es kein gutes Wort ist: Veranstaltung. Lesung ebensowenig, genausowenig wie Performance oder Happening. Vielleicht Letzteres. Ein Geschehen, Event? Oder wie wäre Ereignis?

Euer Setting war denkbar einfach und vertraut: Ein Komponist und ein Dichter treten in einen Raum, um ihre anschließende Kommunikation mit dem Publikum zu teilen. Ein Tisch und ein Klavier, beide mit Büchern darauf. An den Wänden der Lettrétage Stühle auf denen das Publikum Platz genommen hat. Blätter und Zettel auf dem Boden, ein Schreibtisch in einer Ecke und im hinteren Raum ein weiterer Tisch. Anderes habe ich vergessen. Ich erinnere mich auch an zwei Notenständer und einen Kühlschrank. Die Notenständer waren vielleicht Lesepulte oder, wenn man die darauf gebreiteten Mappen mit ihren Bildern und Blättern bedenkt, Minnealtare. Auf einem Blatt las ich die schöne Bezeichnung: Singspruchdichtersprech. Es könnte aber auch Sinnspruchdichtersprech geheißen haben.

Während des Ereignisses von Muenz und Dir musste ich an eine Zeile von Robert Duncan denken, um die ich ihn schwer beneide, weil er in dem Gedicht (das man hier nachlesen kann) von einem magischen Ort erzählt, an dem etwas Einzigartiges geschieht:
                         
Often I am permitted to return to a meadow …

Wann immer ich in Zukunft das Wort Idylle (wie in „Neo-Biedermeier“) höre, will ich an den Satz dieses Gedichts denken, das davon spricht, in den Kreis einer Gemeinschaft aufgenommen zu werden, die, stelle ich mir vor, nicht exklusiv ist, sondern jedes Einzelnen Anwesenheit in ihrer Mitte billigt, inklusive aller Dünnhäutigkeiten, Überforderungen und Absichten. Die Möglichkeit eines solchen Ortes ist doch eine krasse Vorstellung? Der Satz, den Duncan und man selbst als Mitleser wiederholt, erschafft ja erst jenen Raum, von dem er spricht. Oder zeigt er schon darauf, so dass man sehen kann: er ist da, es gehört nicht viel dazu, hineinzugehen?

Oder wieso steht rechts vom Eingang zur Lettrétage auf der Mauer:

Wovor hast Du Angst?

Statt zu denken, es gäbe eine gewisse Weise, einen Text zu durchqueren, könnte man ihn doch betreten, ohne zu erwarten, von jemandem hindurchgeführt zu werden, oder gar zu fürchten, dass der Text einen gleich wieder rauswirft. Ebensowenig konnte man erwarten, dass der Text in der Topographie, die er für den Abend in der Lettrétage bildete, von selbst zuende ging. Die Verwirrung von zweien, deren Gespräch ich nachher vor dem Haus belauscht habe und die sich erklärende Worte gewünscht hätten, bevor es losging, rührt für mich von der falschen Annahme her, dass ein Text seinem Anlass entsprechend jedes Mal eine Gebrauchsanweisung braucht. Im Text aber – und schließlich hat man als Publikum für ihn den Rahmen gebildet (der Kreis, in dem die Stühle angeordnet waren) –, kann keine Unruhe aufkommen. Er wird zur schützenden Schale, wenn man es ihm erlaubt, und zerbrechlich wäre er nur, wenn man der Furcht vor ihm den Vorrang lässt. Man darf nur nicht erwarten, dass was man erwartet auch eintrifft. Überhaupt darf man erwarten: nichts, weil nichts geschieht, wo bereits ein Ergebnis vorher festgelegt war.

Und so verstehe ich den Satz von Mozart, den ihr im letzten Drittel des Abends zitiert habt, als weniger nachsichtigen Cousin des Duncan-Satzes, der aber dasselbe will: „Die Herren, die so pedantisch zu Werke gehen, werden immer mitsamt der Musik zugrunde gehen.“

Zugrunde gegangen, ist keiner, und wenn, dann auf die schönste Weise.

Entstanden ist jedenfalls kein Feld, auf dem ein Wettkampf herrschte und wo man sich hätte behaupten müssen, als Publikum oder als Aufführender.

Stattdessen entstanden wunderbare, manchmal wunderbar komische Episoden, wie das behutsame Flüstern mit dem Megaphon oder Euer Funkverkehr zwischen Hinterzimmer und Vorderzimmer als kommunizierenden Röhren, das Balancement der Vokale und Konsonanten anhand zweier Telefone auf der Stange sowie die Präsentation des „Ton-Eis“, das mit großer Achtsamkeit durch den Raum getragen wurde.

Wer hätte da nicht ratlos bleiben und über die Bedingungen nachdenken wollen, unter denen ein solches Ereignis stattfinden kann?

Was zuletzt ein gelungenes Wagnis war.


Kurz und herzlich,

Norbert
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