Nils Röller: Alpentram
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Astrid Nischkauer
Nils Röller: Alpentram. Wien (Klever Verlag) 2021. 152
Seiten. 18,00 Euro.
Buchstaben
löchern das Kontinuum
Ich verstehe Philologie als Frage danach, was Textformen mit uns anstellen, oder was wir mit ihnen anstellen. Kritik führt zu Aufmerksamkeit, die es zu entwickeln gilt. Nicht im Sinne von besser-schöner-weiter. Sondern es steht an, die Kritik weiter zu treiben, zu dem zu treiben, was Diaporie genannt werden kann, die Entzweiung der Ausweglosigkeiten.
Mit diesen Worten
schließt Nils Röller sein Literarisches
Selbstgespräch, das er für fixpoetry.com geführt hat und welches inzwischen
in Buchform im Klever Verlag erschienen und nachzulesen ist (Literarische Selbstgespräche, Klever,
2021). Seine Schlussworte möchte ich als Ausgangs-punkt nehmen und sie an den Beginn
meiner Kritik seines Buches Alpentram
stellen. Einerseits lassen sich seine Worte als Aufforderung, Herausforderung
auffassen, andererseits aber auch als Mut machende Hoffnung in Zeiten
scheinbarer Ausweglosigkeiten aller Arten. Denn es gibt Dinge, die
unverständlich sind und dazu gehört insbesondere, was Menschen anderen Menschen
antun können.
Ban ist ein Zeichenzug für das Unmögliche, das nicht unterMenschen geschehen sollte, aber dennoch geschehen istund geschehen wird.
„Ban“ ist dabei keine Erfindung Nils Röllers, sondern geht auf das Buch Ban en Banlieue von Bhanu Kapil zurück, die 2020 mit dem T.S.Eliot-Preis ausgezeichnet wurde. „Ban“ als Begriff scheint insofern naheliegend, um von Nils Röller in Alpentram aufgegriffen zu werden, als es als Wort vom Schriftbild her eine gewisse Nähe zum Wort „Bahn“ nicht abstreiten kann. Dass sich die beiden Worte dann aber doch klar und deutlich durch den Buchstaben „h“ voneinander unterscheiden, ist natürlich wesentlich und nicht zu übersehen.
Dass unmenschliche
Taten unbegreiflich sind und daher damit eigentlich auch unmöglich sein
sollten, aber dennoch geschehen, scheint mir der in Alpentram verhandelte Kernkonflikt zu sein, der jedoch nicht so
sehr ausformuliert, sondern mehr umkreist wird und vor allem in den Lücken des
Dazwischen spür- und sichtbar wird.
Die Lücken drängen nach. Sappho-Lücken, in denen dieÜberlieferung versagt hat, Lücken, in denen dieInteressierten, wie in einem Meer von Möglichkeitenschwimmen oder ertrinken unter der Last der Erfahrung,die in die Tiefen des noch nicht Benannten zieht.
Auch Ban entsteht
im Dazwischen. Daher lenkt Nils Röller die Aufmerksamkeit auf die Brüche,
Lücken und Spalten, die sich zwischen Textblöcken oder Worten auftun. Statt
auftretende Risse zu verspachteln und zu versuchen, diese vor den Augen der
Lesenden zu verbergen, richtet Nils Röller im Gegenteil die Linse genau darauf
und stellt sie scharf, um so einen leicht zu übersehenden Spalt zu einem bodenlosen
Abgrund werden zu lassen.
Der Text wird zur Linse, die auf Details zoomt.Das Tram ist nun Teleskop, Röhre, die sich dehnt und strecktgemäss dem Zoom der Linse.
Doch so, wie auch das
Instrument zum Beobachten, das Tram-Teleskop, sich von einem Ort zum nächsten
bewegt und die Linsen verstellbar sind, hält auch das zu Beobachtende nicht
still und wandelt sich im Beschreiben stetig weiter:
Lücken dehnen sich zu Weiden, auf denen sich Pferdetummeln. Feuchte Flecken werden zu Gewässern, in denenHalme sich zu Booten verdichten, Schwimmer erreichen sie,steigen ein, springen wieder in das Gewässer, wenden ihreKörper. Etwas sinkt in die Tiefe, etwas löst sich von derOberfläche ab.
Ausgangspunkt von
Nils Röllers Schreiben und Nachdenken ist dabei Albrecht von Hallers Gedicht
„Die Alpen“, das vom Schweizer Alpentram gewissermaßen in die Gegenwart geholt
wird:
Aus dem Frankentalkommt das Tram mit der Anregung, den Alltag mit HallersReimen abzugleichen, seine Endreime als Pole zu verstehen,die Worte in eine Form hineinzuziehen, die quer zumGewohnten steht. Querstellung reisst Gewohnheit auf.
Gemeinsam mit dem
Gedicht Albrecht von Hallers rückt auch Haller selbst als Mensch und
Naturforscher in den Fokus der Aufmerksamkeit. Denn Nils Röller setzt sich
nicht nur damit auseinander, wie Albrecht von Haller gedichtet und publiziert
hat, sondern auch wie er gelebt hat und wie der Forschungsalltag zur Zeit der
Aufklärung ausgesehen hat:
Forschungen und Publikationen sind von der Verfügbarkeitan Leichen, insbesondere dem Überfluss an Kinderleichengelenkt, an denen Details, aber nicht der gesamte Körpergut untersucht werden kann. So liefert er eine Anatomie derFragmente.
Nils Röller
wiederum liefert mit dem Alpentram
eine Poetik der Fragmente, zwischen denen Spannungen entstehen sollen, die dazu
führen, dass die einzelnen Elemente zu schwingen, zittern und pulsieren
beginnen. In gewisser Hinsicht ist Alpentram
mit Frankensteins Monster zu vergleichen, eine Assoziation, die vielleicht auch
mit dem Coverbild zusammenhängt, auf dem eine anatomische Abbildung aus einem
Buch Albrecht von Hallers zu sehen ist. Vergleichbar mit Frankensteins Monster
wäre Alpentram für mich aber
insofern, als es sich aus unterschiedlichen Text-Gliedmaßen und –Körperteilen,
Passagen und Fokussierungen zusammensetzt, die zwar zu einem neuen, so noch
nicht dagewesenen Ganzen zusammengefügt werden, wobei die Fugen und Nähte
zwischen den einzelnen, intakt gebliebenen Text-Gliedmaßen jedoch sichtbar bleiben.
Entscheidung, den Bruch, die Differenzzu akzeptieren und zu erkunden, nicht hineindenken in Banoder in Hallers Alpen, stattdessen beobachten, wie sich dieTexte zueinander verhalten.
Alpentram
enthält Zitate von Albrecht von Haller, Charles Olson, Bhanu Kapil, und anderen,
die im Text eingerückt sind. Damit kommen jene, über welche Nils Röller
schreibend nachdenkt, gewissermaßen auch selbst zu Wort. Und zugleich weist
Nils Röller dadurch weit über sein eigenes Buch hinaus und regt dazu an, selbst
zu Werken zitierter und erwähnter Autoren und Autorinnen zu greifen.
Welcher Text im
Tram zu lesen ist, hängt auch sehr stark von den jeweils Ein- und Austeigenden
ab. Manche tragen Bücher oder Zeitungen mit sich, oder es sind auf ihrer
Kleidung Markennamen zu lesen. Jeder und jede Einsteigende bringt etwas mit ins
Tram, sei das jetzt eine neue Farbe im Gesamtbild, oder auch der den Gedanken
an einen Bärlauch-Halm auslösende Duft aus einer Tasche. Diese Überlegung
wendet Nils Röller auch auf sein eigenes Schreiben an. Denn so wie er die Ein-
und Austeigenden beobachtet, beobachtet er auch sich selbst als Lesenden des
Gedichts „Die Alpen“ Albrecht von Hallers, als Fahrgast des Züricher Trams und
als Schreibenden, der dem Text, den er liest, ebenso viel Aufmerksamkeit widmet,
wie der Umgebung in und den Umständen unter denen er diesen Text liest. Das
heißt, ebenso wie er die anderen beobachtet und beschreibt, hinterfragt er
auch, was er selbst mitbringt, also was ihn gerade beim Lesen des Gedichts
beschäftigt, welche Texte und Autoren ihm im Moment gerade präsent sind und ihn
daher gewissermaßen begleiten auf seiner Fahrt im Züricher Tram, bei der
Lektüre des Gedichts „Die Alpen“ und insbesondere auch beim Nachdenken und
Schreiben über alles das. Die Zusammenschau von Albrecht von Hallers Gedicht, von
Charles Olson, Bhanu Kapil und der Gegenwart des Züricher Trams, die Nils
Röller vornimmt, ist einerseits sehr individuell, wird durch das Offenlegen und
Beschreiben aber andererseits relativiert und gewissermaßen auch wie ein Experiment
wiederholbar. Das Besondere am Alpentram
von Nils Röller ist gerade die implizite und sehr genaue Selbstbeobachtung
während des Prozesses des Lesens, Schreibens und Nachdenkens. Das Einbeziehen
indischer Dichtung ist für ihn dabei aus einem ganz bestimmten Grund wichtig
und notwendig, wie er in seinem Selbstgespräch darlegt:
Sich heute mit einem Gedicht zu beschäftigen, das in den Alpen eine Idylle konstruiert, das impliziert auch die Funktion des Topos in national gesinnten Diskursen zu reflektieren. Deswegen sind für mich die indischen Dichterinnen sehr wichtig. Sie dichten in der Diaspora.
Auf der einen
Seite haben wir Albrecht von Hallers Verse, an denen er 1729 bis 1776 arbeitete
und sie immer wieder veränderte, ergänzte, neu herausgab und diese stetigen
Veränderungen mittels unzähliger Fußnoten und Anmerkungen dokumentierte. Auf
der anderen Seite haben wir die Gegenwart, symbolisiert durch das Züricher
Alpentram, in welcher und in welchem von Hallers Verse gelesen werden:
Die Alpen erscheinen unbemerkt fürkurze Zeit zwischen den Häuserzeilen. Die Fahrgäste schauenauf die Apps. Jeder sieht dort etwas Anderes, das sich vermutlichähnelt.
Schon alleine die
Setzung – Züricher Alpentram der Gegenwart und von Hallers Gedicht „Die Alpen“
aus dem 18. Jahrhundert – ist an sich sehr spannungsgeladen. Verstärkt wird das
Ganze dann auch noch dadurch, dass Nils Röller stellenweise die von Haller
verwendete Versform des Alexandriners aufgreift, um damit Gegenwart zu
beschreiben. Dazu meint er in seinem Selbst-gespräch:
Es wirkt merkwürdig, aber eben nicht verfremdend, jetzt den Alexandriner zu verwenden, um Gegenwart zu beschreiben. Ein Grund für die Merkwürdigkeit ist, dass ich eine klassische veraltete Form verwende, um ein Objekt wahrzunehmen. Der Alexandriner wird zu einem Sichtrohr und das Tram wird zu einer Röhre, in der ich mich bewege, und das nehme ich durch den Alexandriner wahr. Zwischen den Rohren geraten einzelne Worte in den Fokus und Details wie der Fußboden im Tram.
Die Reibung, die
durch die Verwendung des Alexandriners entsteht, das leichte Holpern, das uns stolpern
lässt, ist dabei explizit gewünscht und beabsichtigt.
Doch Text bewegt verquer dem Strome sich entgegen.
„Schreibend
reflektieren.“ – Das ist, um es mit einem Zitat aus dem Band auf den Punkt zu
bringen, was Nils Röller mit Alpentram
macht und möchte. Dabei legt er alle seine Karten offen auf den Tisch, um uns
Lesende mit einzubeziehen und selbst zum Mitdenken und Weiterdenken zu bringen.
Alpentram ist damit keine kleine
Herausforderung, aber eine sehr schöne. Lässt man sich ein auf dieses Buch,
führt das im besten Falle zu einer größeren, differenzierteren Aufmerksamkeit.
DieseAufmerksamkeit möchten Worte hüten wie einen Halm, der aufdem Wasser vom Wind bewegt wird. Es wächst die Hoffnung,einen anderen Halm zu finden (einen Vers), der diesen Halm,anhebt, wenn er untergeht.