Neue Rundschau, Heft 4/2019: Lyrikosmose⁵
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Michael Braun
Zeitschrift des Monats
Neue
Rundschau, Heft 4/2019: Lyrikosmose⁵
Der
Untergang des Männerplaneten
„Boom,
boom, boom, boom. Das ist meine Geschichte. Das ist der Körper der Dichterin
auf seiner Bewegung durch den Raum.“ Hier gibt eine Autorin ein Signal: ein
stark gestisches, ein akustisches, ein musikalisches, ein rhythmisiertes
Zeichen. „Boom, boom, boom, boom“: Schon sind wir im Takt, vier kurze Schläge,
ein Getrommel, die Beats per Minute sind gestartet. Es geht um die Mobilmachung
von Sprache und Körper in demonstrativem Subjektivismus. „Das ist meine
Geschichte“. Es ist der Auftritt eines weiblichen Selbstbewusstseins, das sich
Raum und Luft verschafft. Und sich auch Lust verschafft, transgressiv, alle
Gender-Grenzen sprengend. Es ist ein Bekenntnis der queeren Dichterin Eileen
Myles, das als Faltblatt, als obligatorischer Thesenzettel der jüngsten Ausgabe
der Neuen Rundschau (H. 4/2019) beigefügt ist. In „elf Sätzen“ regnet
der poetologische „Kometenschauer“ von Eileen Myles auf uns herab: „Ich werde
high, allein schon von dem strahlenden Glanz, lebendig zu sein.“ Und dieser
„Glanz“, diese poetische Erzeugung dynamischer Lebendigkeit manifestiert sich
in einer Schreibstrategie gestischer Direktheit, im Protokoll unmittelbarer
sinnlicher Präsenz: „ich bin immer/ hungrig. & will/ Sex. Das ist so. / Mal
ganz ehrlich/ die neue natur-/ belassene Erdnuss- / butter schmeckt/ ziemlich
scheiße/ kauf sie lieber/ wie immer im/ Glas im größt-/ möglichen Super-/ markt
deines Vertrauens.“ Früher hätte man ein solches poetisches Verfahren Neue
Subjektivität genannt, konstituiert als „lässige Lyrik für nachlässige Zeitgenossen“
(Peter M. Stephan). Das wäre aber eine sehr oberflächliche Sicht. Denn dieser
sehr markante Direktheitsgestus mündet nirgendwo in eine bräsige
Selbstzufriedenheit, sondern explodiert in jeder Zeile, in jedem Vers mit neuen
Überraschungen und einer schonungslosen Erkundung der Ich-Position, des instabilen
Subjekts. Keine Larmoyanz, nirgends. Sondern intensive Ich-Dekonstruktion.
Im
post-patriarchalen Zeitalter hat man die 1949 geborene Eileen Myles, die eine
Weggefährtin der Beat-Ikone Allen Ginsberg und Assistentin des Dichters James
Schuyler war, zu einer cult figure to a generation of post-punk female
writer-perfomers (New York Times) erhoben. Im aktuellen Heft 4/2019 der Neuen
Rundschau erscheinen nun ihre Gedichte im kraftvollen weiblichen Bündnis
mit Texten von Ann Waldman, Anne Lauterbach, Tracy K. Smith und Claudia
Rankine, und wir können beobachten, wie die Impulse der Beat Generation
weitergereicht werden. Eine „Politik des Körpers“ finden wir auch bei der etwas
älteren Ann Waldman (Jg. 1945), die einst mit Allen Ginsberg die Jack
Kerouac School of Disembodied Poetics gegründet hatte und danach ein
fulminantes, an Performance-Techniken orientiertes Werk in insgesamt vierzig
Bänden vorlegte. Zuletzt einen Band mit dem programmatischen Titel Trickster
Feminism. In der Neuen Rundschau ist erstmals (in der Übersetzung
von Daniel Jurjew) ihr elegisches Poem auf den 2017 verstorbenen großen
Kollegen John Ashbery zu lesen. Eine der schönsten
Legenden, die diesen Giganten der Weltpoesie umwehten, erzählte davon, dass
selbst die Falschschreibung seines Namens Poesie erzeugt hat. „Ash-berry“ – die
Asche und die Beere. Die „Beere aus Asche“ verwies auf das beunruhigend
Flimmernde seiner Gedichte, das Opake als eine Brücke zum Wunderbaren. Ann
Waldman preist nun seine „Kosmographie in einer besseren Welt“, nennt den
Dichterkollegen eine „Belohnung fürs Geboren-Werden“.
Zu
den Höhepunkten dieses Heftes mit sieben Weltpoetinnen zählen die Gedichte der
afro-amerikanischen Dichterin Tracy K. Smith, die mit ihrem geschmeidigen
erzählerischen Stil und einer sinnlichen Eleganz auf ihre Themen zugreift. Da
lesen wir (in der fabelhaften Übersetzung von Britta Waldhof) Gedichte von
zwielichtigen Engeln, die „grauhaarig, / In lederner Bikerkluft“ im Hotelzimmer
erscheinen, oder kleine ironische Abgesänge auf den untergehenden „Männerplaneten“.
Tracy K. Smith erscheint selbst wie eine transzendental versierte Botin
zwischen dem genau beobachteten Diesseits und einem wenig einladenden
„Schattenreich“ : „Es gab noch ein Diesseits, aber dort lebten wir nicht: wir,
die wir beständig Ungesehenem den Rücken zukehrten, nur mit Blicken sprachen,
die Arbeit vorantrieben. Was war unsere Arbeit? Unsere Türen ließen sich nicht
verschließen.“
Der
Auftritt der amerikanischen Weltpoetinnen wird flankiert von einem lehrreichen
Mail-Dialog zwischen Anja Utler und Beate Tröger über die Strategien zur Übersetzung
der Nobelpreis-Kandidatin Anne Carson. Hinzu kommen neue Gedichte von Olga
Martynova, die den poetischen Topos von der Biene aufgreift, die in ihren
Baumeisterfähigkeiten der Arbeit des Dichters gleichkommt. In einem schönen
poetischen Vexierspiel porträtiert sie zudem den „lieben Gott“ als eine Gestalt
der Vergänglichkeit und als profanen Gegenstand. Der große Schöpfer wird in
diesem sprachspielerischen Kunststück zunächst zur Sanduhr, dem Inbegriff der
Vergänglichkeit, und später zur Bananenschale – ein Akt der Entzauberung und
Wieder-verzauberung zugleich: „der liebe Gott ist eine ziemlich große Sanduhr, /
die Erde steht auf dem Uhrsand, / den er aus dem Ursand entsandt, / der Sand
schmerzt und schmilzt/ im Stundenglas.
in hora mortis. // der liebe Gott ist eine kleine Bresche/ mit allerlei Frisur,
/ das wissen alle. // der liebe Gott in seinem Gnadenzorn / ist eine
Bananenschale.“
Neue Rundschau, Heft 4/2019: Lyrikosmose⁵. S.
Fischer Verlag, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt/ Main. 208 Seiten, 17 Euro.