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Neue Rundschau, Heft 3/2021

Rezensionen/Lesetipp > Zeitschrift des Monats

Michael Braun

Zeitschrift des Monats

Neue Rundschau, H. 3/2021: „Farbe bekennen“

Wohlfühlliteratur? Oder Poetik des Widerstands?


Die Social Media-Künstlerin und Instagram-Poetin Dichterin Rupi Kaur ist derzeit die berühmteste Dichterin der Welt. Die verkaufte Auflage ihrer drei seit 2015 publizierten und in 40 Sprachen übersetzten Gedichtbände nähert sich sieben Millionen Exemplaren. Ein Erfolg, der in der internationalen Literaturkritik kein Thema ist. Denn ihre Verse, die in großer Schlichtheit über sexuelle Selbstbestimmung, Liebeskummer, Depressionen und Erfahrungen des Körpers sprechen, werden wegen ästhetischer Unterkomplexität kaum als ernst zu nehmende Poesie wahrgenommen. Am Ende ihres 2015 publizierten Mega-Sellers „milk & honey“ heißt es in einer Notiz, der Gedichtband sei „a collection of poetry about love / loss / trauma/ abuse/ healing/ and feminity“. Der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler hat im Sommer dieses Jahres in der Zeitschrift „Pop. Kultur und Kritik“ (Heft 18/2021) das Rupi Kaur-Phänomen zum Anlass genommen, nicht nur über die schwindende Reichweite literaturkritischer Urteile nachzudenken, sondern auch über den derzeitigen Siegeszug eines „populärrealistischen Erzählens“ und der damit verbundenen „weltanschaulich-politischen Stilgemeinschaft“, die sich dann in einer „Kuschelzone mythischer Wohlfühlselbstverständlichkeit“ zusammenfinde. Was Baßler als „Neuen Midcult“ in den Blick nimmt, ist eine auf Identitätsfragen und weltanschauliche Identifikation zielende Literatur, die in ihr populärrealistisches Erzählen „schwere Zeichen“ implantiert: also z.B. Themen wie Missbrauch, Trauma, Rassismus, patriarchale Gewalt, Nationalsozialismus, Kapitalismus, Flucht. Eine Literatur also mit ostentativer Bedeutungsschwere, die sich auf die Autorität von diskriminierten Gruppen beruft, um die eigene ästhetische Bedeutsamkeit zu unterstreichen. Als ein Exempel dieser Art von Literatur nennt Baßler an einer Stelle Olivia Wenzels Debütroman „1000 serpentinen angst“. –
      Auf Baßlers Kritik antwortete in der „taz“ (14.7.2021) der Hanser-Lektor Florian Kessler mit der durchaus zutreffenden Beobachtung, dass das Unbehagen des Literaturwissenschaftlers am „Neuen Midcult“ sehr viel mit einer signifikanten Verschiebung der Aufmerksamkeitsökonomie in der literarischen Welt zu tun hat. Das etablierte Printmedien-Feuilleton und seine Paradigmen stehen eben nicht mehr, so Kessler, im Zentrum der literarischen Öffentlichkeit. Stattdessen erleben wir die „zunehmende Sichtbarkeit von Geschichten und Au­to­r*in­nen, die sich den Kriterien und Traditionen jenes etablierten, weißen, heteronormativen Bildungsbürgertums entziehen, das auch 2021 noch den Großteil von Verlagswesen und Kritik ausmacht“. Und damit unmittelbar verbunden sei das Missbehagen der bis dato etablierten Literaturkritiker*innen, denen dämmert, dass ihre gefühlte Urteils-Exklusivität plötzlich nicht mehr greift und ihre Deutungshoheit in der Konkurrenz mit den Social Media-Plattformen zerbröselt.
      An diese Debatte knüpft nun auch das aktuelle Heft der Neuen Rundschau (H. 3/2021) an, das ein Dossier zur Revision des alten weißen „Mainstream-Literaturkosmos“ vorlegt. Mit Olivia Wenzel, Sharon Dodua Otoo, Claudia Rankine, Jeannine Kantara, Elsa Diallo und Ijeoma Umebinyuo erkunden sechs Schwarze Autorinnen auf unterschiedliche Weise die löchrig gewordene Ordnung der alten Literaturwelt. Von einem aufschlussreichen Experiment berichtet Claudia Rankine. Sie besuchte mit einer weißen Freundin ein Theaterstück, an dessen Ende die Weißen im Publikum gebeten wurden, auf die Bühne zu kommen. Rankines weiße Freundin bleibt aber auf ihrem Platz. Die Verunsicherungen, Grübeleien und Rechtfertigungen, die mit dieser Erfahrung verbunden sind, werden hier sehr differenziert gegeneinandergestellt.
    In einem Briefwechsel attackieren Olivia Wenzel und Sharon Dodua Otoo die Äußerungen Moritz Baßlers zur identitätspolitischen „Wohlfühlliteratur“ und fordern die Selbstreflexion der etablierten Kritik: „Weiße Menschen müssen sich bewußtwerden, was das eigne Weißsein bedeutet.“ Einige der Beiträge im Neue Rundschau-Dossier, etwa Sarah Colvins Plädoyer für die „Beautiful Experiments“ von Olivia Wenzel und Sharon Dodua Otoo, beschränken sich auf die Skizzierung jener „eigensinnigen Literatur“, die von Schwarzen Autorinnen verfasst wird. Wie die „ästhetisch-epistemische Erneuerung“ dieser Literatur jenseits identitätspolitischer Bekennt-nisse konkret aussehen könnte, wird leider nicht ausgeführt.
     Den Kritiker*innen aus dem alten Literatursystem (in diesem Fall Elke Heidenreich, Philipp Tingler und Katharina Borchardt) wird recht harsch „epistemische Arroganz“ gegenüber Schwarzen Autorinnen vorgehalten. Das Neue Rundschau-Dossier liefert nur einige Präliminarien für den Versuch, neue Kriterien im Umgang mit einer identitätspolitisch motivierten Literatur und deren „erkenntnistheoretische Spannung“ zu finden. Substantielle Auseinandersetzungen dazu, die über bekenntnishafte Statements hinausgehen und die „Beautiful Experiments“ dieser Texte in detaillierten Analysen erschließen, wären zu wünschen.

Zu welchen Erkenntnisgewinnen akribische Textexegese führen kann, wird in der „Carte Blanche“-Abteilung der Neuen Rundschau demonstriert. Besonders lesenswert ist hier Reinbert Tabberts Porträt des frühen W.G. Sebald, der vor seinem literarischen Durchbruch mit dem Prosabuch „Schwindel. Gefühle“ (1990) mehrfach an der Ausarbeitung eines großen auto-biografischen Romans gescheitert war. Anhand seines Briefwechsels mit dem Autor aus den Jahren 1967 bis 1978 kann Tabbert zeigen, wie Sebald sich als Romancier und als Theaterautor und dann auch als Literaturkritiker versuchte, bis er seinen eigenen Weg des melancholisch-phantastischen Erzählens fand. Ein kleines Meisterstück liefert auch Frank Hertweck ab, der in einem Exerzitium philologischer Feinmechanik Paul Celans Gedichtzyklus „Stimmen“ erkundet, der erstmals im Gedichtband „Sprachgitter“ (1959) publiziert worden ist. Hertweck untersucht das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in Celans Gedichten und kann belegen, dass die aufgerufenen „Stimmen“ als „Stimmen der Bedrohung“ zu lesen sind. Denn das Gedicht „Stimmen“ ist 1956 zu einer Zeit geschrieben worden, als Celan sich von Lügnern und Denunzianten umzingelt fühlte, von „Rechtsnibelungen“ und „Linksnibelungen“, die ihn als Plagiator Yvan Golls bloßstellen wollten. Der ansonsten so kundige Aufsatz Hertwecks kann jedoch nicht klären, warum Celan sehr zurückhaltend und nicht-konfrontativ gegenüber Martin Heidegger und Armin Mohler agierte, zwei finsteren rechtskonservativen Geistern, die zeitweise überzeugte Parteigänger der Nazis waren.

Neue Rundschau, Heft 3/2021; S. Fischer Verlag, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt a.M., 222 Seiten, 17 Euro


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