Nancy Hünger: Ein wenig Musik zum Abschied wäre trotzdem nett
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Dirk Uwe Hansen
Etwas scheitert und wird zum Gedicht
Nancy Hüngers zweiter und jüngster Gedichtband ist nun schon
einige Monate auf dem Markt. Aber Lob für ein gutes Buch kommt ja irgendwie
immer rechtzeitig, vor allem so kurz vor Weihnachten… Und das
erst recht, wenn das Buch auch noch in einem Verlag erscheint, dessen gesamte
Produktion seit der Gründung der edition Azur im Jahre 2005 sich als Geschenk-
und Selbstlesebücher empfiehlt — nicht zuletzt wegen der Ausstattung durch
Frauke Wiechmann und Glenn Vincent Kraft, die es geschafft haben, dem Verlag
ein wiedererkennbares Profil und zugleich jedem einzelnen Buch seine
bestrickende Individualität zu verleihen.
Hüngers erster Band ist (auch in der edition Azur) im Jahre
2006 erschienen, elf Jahre haben wir warten müssen (nun ja, sie hat in der
Zwischenzeit einige Bände kleiner Prosa veröffentlicht, um das Warten zu
verkürzen) und entsprechend umfangreich ist dieser Band geworden: 99 Seiten
Gedichte in 8 Kapiteln oder Zyklen. Doch auch wenn man vermuten kann, dass die
Gedichte in großem zeitlichen Abstand zueinander in diesen elf Jahren entstanden
sind, so zieht sich doch der spezifisch Hüngersche Ton durch alle Texte und
verbindet sie zu einem Ganzen; es ist ein Ton, der mit dem Titel der Sammlung
durchaus treffend beschrieben ist, denn was Hüngers Texte auszeichnet ist ihre
hohe Musikalität, die den Leser dazu bringt, sie beim Lesen stets ein wenig im
Kopf zu singen. Und auch die Melancholie, die das Wort „Abschied” nahelegt,
zieht sich durch alle acht Kapitel hindurch, jedoch wird stets jeder Form von
Sentimentalität gewehrt durch eine bisweilen leicht amüsierte Distanz, die die
Sprecherin der Gedichte wahrt, und die eben selbst aus dem Scheitern — viele
der Gedichte handeln vom Scheitern, etwa der Jugendpläne, einer Liebe, einer
Reise… — Schönheit und Neues entstehen lässt.
Melancholie und Distanz prägen gleich die Gedichte des
ersten Kapitels „Liederliche Lieben”. Liederlich ist hier durchaus doppelt zu
lesen als Zeichen der Hinfälligkeit menschlicher Beziehungen und der
Verwandlung eben in Lieder. Alle Gedichte des Kapitels sind Personen gewidmet
(man könnte also einer biographistisch-sentimentalen Lesart verfallen), die
jedoch nur als Initialen genannt werden (und damit diese Lesart unterlaufen).
Es sind Gedichte, die bleiben, auch wenn Beziehungen sich auflösen wie am Ende
des Gedichtes „Lieber alter Dichter, für G.B.”:
… weil Du voraus musstestdarf ich dich bedenken an einem achten Juni die letztenGedichte unter der Hand und muss Dir 16:42 gestehenich lebe während dies Gedicht ohne mich Dir sprichtwer weiß was ihr euch zu sagen habt allesdas mein Lieber geht mich nichts an.
„Postmusikalisch und schlichtweg naiv”, das zweite Kapitel
zeigt wieder ein Scheitern, ein vorgezeichnetes diesmal, denn es handelt vom
Verlassen der geschlossenen Gesellschaft einer gemeinsam verbrachten Jugend. Und
auch hier entsteht aus diesem Nicht-mehr ein Neues:
… in die Flächenunsrer Hände schrieben wir Gedichte und lotetenden Hubraum unsrer kleinen Sprache ausso einfach war das, geschlossene Gesellschaft,wenn wir wiederkommen, schleichen wirin die Verstecke auf dem Pausenhof hocktimmer noch die alte Scham und starrt unsaus den Fertighäusern an …
Vom Scheitern sprechen auch das
dritte Kapitel „Lebe wohl, gute Reise” („Wir buchten Trost und erschwingliche
Exotik / aus dem TUI-Pfandleihhaus an den Küsten / salzverklebte Lumpen…”) und
das fünfte „Familiarium” („Wir bergen die Jahre vom Grund, / die Fotos
erleichtern die Arbeit, / Wir waren schon einmal vorhanden, // nur bleicher
…”).
Hüngers Gedichten ist ein spezifisch
musikalisches Gelingen zu eigen, die Texte gewinnen einen Rhythmus, der fast
geeignet ist, den Leser in Trance zu versetzen, aus dem dann aber immer wieder
Formulierungen hervorblitzen, die innehalten lassen. Ein solches Hervorblitzen
habe ich mit dem kleinen Zyklus „volvere”, dem vierten des Bandes, erlebt, in
den ich mich sofort beim ersten Lesen verliebt habe. Zehn Texte sind es, die
alle in einem Dazwischen stattfinden. Gedichte mit so langen Zeilen, dass sie
aussehen wie Prosa, Gedichte, in denen ein Ich häufig mit einem Du oder über
einen Dritten spricht, und die doch den Dialog über Zeit und Raum hinweg in
einem viel größeren literaturhistorischen Rahmen suchen, der von Pindar über
das hellenistische Epigramm, Dylan Thomas und Paul Celan bis zu Monika Rinck
reicht (für mich, andere werden bei der Lektüre diesen Rahmen gewiss noch
erweitern können).
Ich schreibe meine Sehnsuchtsprotokolle fliegenunter der Landschaft vielleicht der baltischen Seeentlang MEINE HÜFTE IST EINE VOLLWAISEschreibe ich meine Hüfte schmiegt sich an jedermannso einfach nicht wahr leuchtet dein Gesicht um meineHüfte müssen wir Sorge tragen sehr indezent nähen wirschwarzen Tüll um meine Hüfte ist in Trauer schreibe ichmeine Sehnsucht läuft aus allen Kanälen Honig und Schweißmein Körper suppt den Honig aus jeder Pore fließt etwasfließe ich aus den eigenen Poren werde ich aus ich werdeich wechsele die Laken stündlich die Honigwäsche locktdie Bienen summen meine Sehnsuchtsprotokolle durchmeine Wiesen rauscht Honig schreibe ich der baltischen See
Begeisternd ist hier neben Hüngers
unglaublich sicherem Umgang mit dem Rhythmus ihrer Sprache, wie sie das seit
Pindars Nemeischen Oden bekannte Honigmotiv über Monika Rincks
„Honigprotokolle” aufnimmt und für ihren eigene Text nutzbar macht.
Fast widerwillig („schweigen wollte
ich über die Tiere”) kommen mit dem sechsten Kapitel „Rupfen in fremden Gärten”
Naturgedichte in den Band. Wie in den ersten Kapiteln aus Scheitern Schönheit
entsteht, entsteht das Sprechen in diesen Gedichten aus dem Versuch zu
schweigen — vielleicht könnte man diese Figur als das Hünger-Paradoxon in die
Literaturwissenschaft einführen:
Wem wollte man erzählenplötzlich der Fuchs über die Straßenüber das Laub getuscht und mein Rufennoch lange durch das durch alles Fell in mir fuhrund der Fuchs dann plötzlich verschwandim Dickicht auch mein Rufen
Folgerichtig scheint es dann, wenn
die Texte des nächsten Kapitels „Ach diese herrlichen Schwendtage” nicht mehr
von etwas erzählen, sondern schlicht nur noch stattfinden. Prosaminiaturen, die
sich treiben lassen, wie der Bauer sich an den Schwendtagen, den Tagen also,
die für die üblichen Tätigkeiten nicht geeignet sind, treiben lassen mag. Und
so habe ich mir für die zweite Lektüre des Bandes auch vorgenommen, die Texte
dieses Kapitels immer mal wieder zwischen die der ersten Kapitel
dazwischenzuschieben.
Vom Schweigen, oder besser: vom
Hadern mit den Möglichkeiten des Sprechens, handeln auch die Gedichte des
letzten Kapitels. Poetologische Texte, die, wie der lange letzte Text, ein
Mißtrauen gegen den Literaturbetrieb, oder, wie die anderen Texte des Kapitels,
gegen das Funktionieren von Sprache überhaupt zum Ausdruck bringen, auch dies
natürlich wieder ein Fall von Hünger-Paradoxon:
die sprache soll mancherorts einfach seinsagt man haus und baum oder stein und holzmeint man was man sagt ist stein und holzes genügt sie ist aus einfachem zeug man sprichtvon der mundart der dinge sagt geh weit zurückan die grenze wo der himmel das land rührtund man einstöckig baut aus einfachem zeugwollen gedichte sein stein und holz nicht einmalewig nein staub wäre genug das fliegt und verwehtetwas leichteres habe ich nicht gefunden ich sage baumund habe schon blätter und äste und stamm und wurzelhabe noch immer keinen baum nur ein gerüchtvon einem baum der kein baum ist nur ein gerüchtsag ich den dichtern die selbst gerüchte sind sagenes gibt keinen baum den man einstöckig baut
Es lohnt sich, sich auf den Reiz der
Musik, die Hünger dem Abschied, dem Scheitern und dem Unsichtbarwerden der
Dinge verleiht, einzulassen.
Nancy Hünger: Ein wenig Musk zum Abschied wäre trotzdem nett. Gedichte. Dresden (edition AZUR) 2017. 118 Seiten. 18,90 Euro.