Nada Pomper (Hrsg): Zwei Sprachen unter einer Glocke
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Ulrich Schäfer-Newiger
Nada Pomper (Hrsg): Pod jednim zwonom dva
jezika. Zwei Sprachen unter einer Glocke. Antologija Hvratske i Njemačke suvremene
Lirike. Anthologie der kroatischen und deutschen zeitgenössischen Lyrik,
Križevci 2020. 900 Seiten. mh.krizevci@gmail.com.
Zwei Sprachen unter einer Glocke
U Knjigu se odasvuda slijevaju riječi: pjesnik je
Ruža
more poezija. Raspod kleše
munja.
In das Buch strömen von überall Worte: der Dichter
ist
Rose Meer Poesie. Die Ordnung meißelt der
Blitz
Mile Pešorda
Im lyrischen Geschäft, das
regelmäßig ein Geschäft ohne Gewinn ist, sind Anthologien (im guten, alten
Deutsch: Blütensammlungen) beliebt. Denn Anthologien versammeln scheinbar
leicht Texte (in diesem Fall Gedichte) aus
anderen Büchern, stellen sie nebeneinander, geben ihnen eine gemeinsame
Erscheinungsform. Anthologien enthalten Fragmente, aufgesammelte Splitter, aus
anderen Zusammenhängen, aus Traditionen, die nun als Bruchstücke zu etwas Neuem
zusammen-gesetzt und vergegenwärtigt sind und weiterleben. Anthologien machen
Änderungen und Verschiebungen poetologischer Richtungen, Strömungen, Gewohnheiten
und Traditionen leichter erkennbar und lesbar. Das gilt umso mehr, wenn die
Anthologie zweisprachige Gedichte aus zwei Ländern und Kulturen enthält. Dann
gilt noch zusätzlich: Sie dienen für Anfänger zum Einsteigen und
Hinausfahren ins Meer des zu Lesenden (wie Gustav Seibt es in der
Süddeutschen Zeitung einmal sehr schön formulierte, SZ vom 7.4.2022). Das Meer,
um das es hier geht, ist die kroatische und deutsche Lyrik des 20igsten
Jahrhunderts.
Die Rede ist von einer
durchaus einmaligen und in jeder Beziehung gewichtigen Antho-logie, die bereits 2020
in Kroatien erschien. Sie versammelt 36 kroatische und 26 deutsche Dichter
(einschließlich informativer Kurzbiografien) mit insgesamt 310 Gedichten, die
jeweils in ihrer Originalsprache und ihrer Übersetzung in die jeweils andere
Sprache, sich gegenüber-stehend, abgedruckt sind. Das ergibt ein 900seitiges
Werk von 1,6 kg Gewicht. Eine schwere und angenehm lautklingende Glocke.
Ausgesucht und übersetzt,
sowohl in die eine als auch die andere Richtung, wurden die Gedichte – auch
hier wieder bis auf einige Ausnahmen – von der seit Jahrzehnten in München
lebenden, literaturumtriebigen, kroatischen Dichterin und Übersetzerin Nada
Pomper. Das Ganze ist ihr Projekt. Unterstützt wurde sie dabei von im Buch
namentlich genannten fünf Lektor:innen und Korrektor:innen. Josip Bratulić,
früheres Mitglied der Kroatischen Akademie der Kunst und Wissenschaft und der
frühere Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, Dieter
Borchmeyer, schrieben Vorwörter. Die Herausgeberin selbst hat ebenfalls ein
Vorwort und fünf Gedichte beigesteuert. Der derzeitige Vorsitzende der
kroatischen Gesellschaft der Hochschul-lehrer für Kroatische Sprache, Srećko
Listeš, ist mit einem einführenden Essay über die Kroatische Lyrik im
Jahrhundert der Unruhen vertreten. Diesen Essay sollte man zuerst, neben
den Vorwörtern, lesen.
Die Anthologie erhebt nicht
den Anspruch fundierter Repräsentativität. Der Sammlung mag daher in Bezug auf
den Untertitel durchaus etwas Willkürliches anhaften, eine lehrreiche und
produktive Willkür freilich, die gewissermaßen das Ursprüngliche und Lebendige
der Gedichte, welches sie aus ihrem früheren Umfeld mitbringen, bewahrt und
Entwicklungen deutliche macht, vor allem, als sie für deutsche und kroatische
Leser und Leserinnen Unbekanntes enthält.
Aufgenommen sind Autorinnen
und Autoren, die im Wesentlichen in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts
geschrieben und veröffentlicht haben. Geordnet sind sie in der Regel nach ihren
Geburtsdaten und reichen von 1891 (Tin Ujević und Nelly Sachs) bis 1965 (Georg
Maria Roers, ein deutscher Dichter). Man sollte sich also durch das Wort
„zeitgenössisch“ im Untertitel nicht irritieren lassen. Es fehlen, das kann bei
einer Auswahl nicht anders sein, auch bekannte Namen. Auf der kroatischen Seite,
etwa Vladimir Nazor, Milan Begowić oder Antun Branko Simic oder etwa der 1984
geborene, in zwanzig Sprachen, auch ins Deutsche, übersetzte Marko Pogačar. Aus
dem deutschen Sprachraum fehlen u.a. Benn, Brecht, Celan, Bachmann oder Meckel.
Überhaupt finden Dichterinnen und Dichter, die nach 1965 geboren sind, in der
Sammlung keine Erwähnung. Dafür, natürlich, stößt man in diesem Meer
zweisprachiger Lyrik auf Überraschungen, auf unbekannt-wertvolles Treibgut
sozusagen, das es zu bergen gilt.
Das
Ergebnis dieser wohl jahrelangen Arbeit kann nicht hoch genug eingeschätzt
werden. Deutlich wird die Berechtigung dieser Bewertung, wenn man sich vor
Augen hält, dass gerade eine spezifisch kroatische Lyrik im 20. Jahrhundert in
Deutschland kaum rezipiert und, wenn vorhanden, dann wenig wahrgenommen wurde. In
den großen Anthologien von Enzensberger (Museum der modernen Poesie), Hartung
(Luftfracht) und Sartorius (Atlas der neuen Poesie, Niemals eine Atempause)
finden sich keine in kroatischer Sprache schreibenden Dichter. Das mag vor
allem daran gelegen haben, dass aus Sicht der internationalen Leserschaft…
es zunächst einmal die Rubrik „Kroatische Literatur“ bis in die 1990er Jahre
gar nicht [gab], sie musste erst hergestellt und wahrnehmbar gemacht werden.* Auf diesen noch immer anhaltenden Prozess der Herstellung einer
Gleichberechtigung der kroatischen Sprache im Konzert der europäischen
Nationen und Sprachen weißt auch Nada Pomper in ihrem Vorwort hin.
Erst eine
im Jahre 2010 von Hans Thill bei Wunderhorn herausgegebene Anthologie enthielt
zweisprachige Gedichte von mehreren jüngeren kroatischen Dichterinnen und
Dichtern. In Federico Italiano, Jan Wagner: Grand Tour, Reisen durch die junge
Lyrik Europas, 2019 sind neun gegenwärtige kroatische Dichter:innen vertreten. Schließlich
– um ein weiteres Beispiel zu nennen – gibt die Internetplattform ‚lyrikline.org‘
einen guten Überblick über die gegenwärtige kroatische Lyrikszene. Es werden
dort ca. 28 kroatische Namen mit Gedichtbeispielen sowohl in der
Originalsprache als auch in deutscher und/oder französischer oder englischer
Übersetzung vorgestellt. Die dort veröffentlichten und von Mathias Jacob ins
Deutsche übertragene Gedichte von Andriana Škunca (*1944) sind alle auch in der
Anthologie enthalten.
Die hier vorgestellte Sammlung
ist daher hinsichtlich ihres Umfanges und ihrer Vielfalt ein Novum und bietet
endlich den deutschen Lesern und Leserinnen die Möglichkeit, sich einen
gewissen Überblick zu verschaffen über kroatische Lyrikerinnen und Lyriker vornehmlich
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, des Zeitraumes also, in welchem sich eine
explizit und ausdrücklich kroatische Literatur und Lyrik neu entwickelte.
In der deutschen Abteilung
reicht die Autorenliste von z.B. Nelly Sachs über Hans Magnus Enzensberger, Michael
Krüger, Wolf Wondratschek, Ulla Hahn, SAID, Thomas Kling, Durs Grünbein bis zu
Anton G. Leitner und Ludwig Steinherr. In der Menge der präsentierten Texte
vermisst man einige vielleicht für das Verständnis hilfreiche Informationen.
Bei Durs Grünbein erfahren die Leser z.B. nicht, dass die ausgewählten Texte
aus zwei verschiedenen Quellen stammen und die Langgedichte Der Schnee von
heute und Im Buch der Welt I den Aufenthalt des René Descartes im
Winter 1519 in Neuburg an der Donau imaginieren. Bei kroatischen Dichtern
erfährt der deutsche Leser, der der kroatischen Sprache nicht mächtig ist,
nicht, wenn ein abgedruckter Text im čakawischen Dialekt geschrieben ist, wie dies
z.B. bei Daniel Načinović der Fall ist. Solche kleinen Mängel trüben freilich
nicht das gute Gesamtbild der Sammlung.
Es ist an dieser Stelle nun
nicht möglich, im Einzelnen auf alle besonders interessanten kroatischen
Autoren und Autorinnen und ihre Texte einzugehen, sie zu beschreiben oder zu
bewerten. Dieses poetische Gebirge sollte der interessierte Leser selbst
besteigen. Hier nur so viel:
Dem deutschen Leser werden
schnell besondere, immer wieder verwendete poetologische Topoi in den kroatischen
Gedichten deutlich: Heimat, Heimatverbundenheit, christliche Religiosität,
Gottessuche, Volk, Meer, Gewalt, klassische Metaphorik wie Unendlichkeit,
Seele, Mond usw.
Gut erkennbar wird diese uns
in Deutschland heute vielleicht als traditionell auffallende Poetik beim Vergleich der Gedichte Ins
Lesebuch der Oberstufe (S. 148) von Hans Magnus Enzensberger,
in welchem er bekanntlich in der ersten Zeile seinem imaginären Sohn rät: lies
keine Oden, mein Sohn, lies die Fahrpläne, und dem Gedicht Poputnica
Sinu (contra Iohannem Magnum), S.464, deutsch: Reisebegleitwort an den
Sohn von Ante Stamać (1939-2016), worin dieser Autor direkt auf
Enzensbergers Gedicht antwortet und seinem Sohn ausdrücklich rät, keine
Fahrpläne, sondern lieber Oden zu lesen. Während Enzensberger seinem Sohn zu
einem emanzipierten, widerständigen, mündigen Verhalten, zu einer Abnabelung
rät, versucht Stamać dagegen, seinen Sohn bei sich zu halten, warnt ausdrücklich
vor horizontaler Unübersichtlichkeit da draußen, macht ihm Angst
vor Angreifern, die hinter jeder Ecke lauern. Und: Die Oden, die
für ihn in die Unendlichkeit aufsteigende Kraftlinien sind, seien zugleich
vielblütenblättriges Aufblühen des inneren Reifens, ihre Sprache dem
Heiligen Franziskus geweiht, Hölderlin und den Alpengipfeln / dir Sohn,
deinem Blick voller Götterglanz.
Erst allmählich, so hat es den
Anschein, hat sich die Generation der in der Anthologie versammelten
kroatischen Dichter von dieser im Deutschen konventionell anmutenden, traditionell-überhöhenden
Metaphorik befreit. Man kann diesen Wandel gut anhand der ausgewählten Gedichte
verfolgen. Und das ist ein unbedingter Gewinn dieser Anthologie für die
deutschen Leser, die sich für die Entwicklung der kroatischen Lyrik in der
zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts interessieren. Dieser Wandel ging einher, so
der Eindruck, den die Sammlung vermittelt, mit dem Wandel auch der
Gedichtgegenstände (Krieg, Existenz, Gewalt) und dem Wandel der Formen (freie
Verse, Prosagedichte). Eines der vielen Beispiele dafür mag das Gedicht Vražda,
deutsch: Magie von Jure Kaštelan (1919-1990) sein:
MagieForm ist Einklangund mein Einklang ist der Schreimeine Einheit ist der Schreidie Welt meiner Sinne schreitdas Licht, das ich sehe, schreitder Buchstabe, den ich schreibe, schreitdie Zeit, die ich lebe, schreitich auf den Rädern der Kriege aufgespanntschreie schreie schreieweil auch der Berg in den leeren Himmel schreit
Andere
Beispiele bieten die interessanten Prosagedichte von Gordana Benić
(*1950), in der Sammlung in der Übertragung von Alida Bremer abgedruckt (S. 747
ff) oder auch die Texte von Dubravko Horvatić (1939-2004), S. 431 ff,
oder von Zvonimir Mrkonji (*1938), S. 407 ff. Sein Gedicht Spaljena
Zemlja (Verbrannte Erde) hat die Eigenschaft, sozusagen dauernd hochaktuell
zu sein:
Verbrannte ErdeWo einst das Haus, die Ähren, der Eichenwald waren, sahen sie im Voraus die Trümmer, den Brand, den Ruß.Wo der Mann, die Frau, das Kind waren, sahen sie den Blutfleck. Den Staub, den Durchzug hätten sie gehört, statt die Sprachen. Die Augen im Voraus erblindet, die Ohren im Voraus taub, durch den Blitz, durch den Knall.Wo die Schafe, Kühe, Pferde weideten, sahen sie das Aas.Wo sie Blut rochen, sahen sie Erguss, den Bach, den Fluss.Wo man das Singen gehört hat, haben sie den Schrei gehört.Wo das Volk gewesen war, haben sie die schwarze Erde aufgemacht, imVoraus.
Wer
denkt da jetzt nicht unwillkürlich an den Krieg in der Ukraine, auch wenn es im
Gedicht – und nicht nur in diesem – um die eigene, kroatische Kriegserfahrung
geht? Genannt werden sollen hier noch in diesem Zusammenhang des langsamen Wandels
beispielhaft: Ernest Fišer, (*1943) S. 631ff, oder Mile Pešorda
(*1950), S. 759, dessen Gedicht Ars Poetica in der Form einer Liste von
13 Nummern Aussagen untereinander reiht, deren Nr. 2 als Motto dieser Rezen-sion
vorangestellt ist.
Natürlich
sind in dieser Sammlung auch klassische, in Kroatien wohlbekannte Namen
vertreten, wie der schon genannten Tin Ujevic (1891-1955, teilweise in
der Übersetzung von Ina Jun-Broda), oder Tragutin Tadijanović
(1907-2007) und vor allem die in Kroatien angesehene Vesna Parun
(1922-2010), S. 209ff. Und last but not least: Es gibt eine Reihe von Texten weniger
bekannter Autoren, auch unter den deutschen (Hans Krieger, Wolf Peter Schnetz,
Georg Maria Roers), die in dieser Anthologie aufscheinen und die Lektüre
spannend machen. Zum Beispiel: Das Gedicht Iz ciklusa: ima netko (Aus dem
Zyklus: Es gibt jemand) der christlich-katholischen Lyrikerin und Nonne Anka
Petričević (*1930). Es bringt, vielleicht ungewollt und unerwartet, trotz
traditioneller Metaphorik, überzeugend das verzweifelt-suchende
Krisenbewusstsein unserer Zeit zum Ausdruck.
Das
gewinnlose Geschäft mit der Lyrik macht auch vor Anthologien nicht halt. Das
hier besprochene Buch hat sogar in Kroatien selbst keinen Verlag gefunden, zu
groß scheinen die wirtschaftlichen Risiken. Als Verleger zeichnet die
kroatische Kulturorganisation
Organak Matice hrvatske u Križevcima, Trg Antuna Nemčića 8, 48 260 Križevci, E-adresa: mh.krizevci@gmail.com.
Dorthin kann
man sich wegen des Buches zwar wenden. Einen professionellen Vertrieb gibt es
aber offenkundig nicht. Es wäre unverzeihlich, wenn diese einmalige Anthologie,
diese umfassende Gegenüberstellung kroatischer und deutscher Gedichte des 20.
Jahrhunderts, keine größere Aufmerksamkeit und keinen ‚Markt‘ fände.
* So Miranda Jakiša, in
ihrem instruktiven Essay ‚Kroatische Literatur heute. Realitätsbesessenheit und
Protestkultur‘, abrufbar unter:
https://www.owep.de/artikel/1069-kroatische-literatur-heute-realitaetsbesessenheit-und-protestkultur.