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Muse, die zehnte

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Jayne-Ann Igel

Expeditionen ins Unbekannte

Anmerkungen zu „Muse, die zehnte“


Sappho wird eine Sonderstellung in der antiken, qua Überlieferung von Männern dominierten Geisteswelt zugeschrieben. So bezeichnete sie Platon als die zehnte, wenngleich sterbliche Muse der Poesie. Was nicht heißt, daß es nicht auch andere Dichterinnen zu jener Zeit gegeben haben mag, nur daß von ihnen nichts auf spätere Generationen überkommen ist. Und wahrscheinlich hätte ohne die von berühmten Zeitgenossen gezollte Anerkennung, wie etwa die seitens Solons, der Sapphos Verse auswendig lernte, ihr Werk dasselbe Schicksal ereilt. Dennoch finden sich relativ wenige Gedichte und von diesen oft auch nur einzelne Strophen, Zeilen oder Verse bewahrt. Was sie in der Gegenwart, in der eine Neigung zum Fragment und zum Prozesshaften beobachtbar ist, in einem gewissen Sinne sogar zugänglicher, zeitgemäß erscheinen läßt. Nicht zuletzt ihres Tones wegen, den sie beispielsweise in ihrer dichterischen Ansprache an die Göttin Aphrodite (Frg. 1), anschlägt, unerhört, voller Subjektivität, von einem Widerspruchsgeist durchdrungen und gar nicht devot.

Kolportiert wurde in Bezug auf Sappho über Jahrhunderte hinweg vor allem die Legende von der freien resp. lesbischen wie unerfüllten Liebe und der Wollust auf Lesbos, in ihrem Kreis. Gerade im 18. und 19. Jahrhundert war die Rezeption davon bestimmt, nicht zuletzt genährt von Stücken Franz Alexander von Kleists (eines Bruders von Heinrich von Kleist) und Grillparzer, die von Sapphos unerwiderter Liebe zu Phaon, einem Jüngling, handeln. Ein Fenster zu ihren Texten aber stieß vor allem der aus Worms stammende Theologe und Schriftsteller Johann Nikolaus Götz mit seinen Nachdichtungen auf, die 1760 zusammen mit Gedichten Anakreons erschienen. Er begründete damit einen neuen Zugang zum Werk dieser Dichterin im deutschsprachigen Raum, und auch er hat sich mit eigenen Versen Sapphos Welt zu nähern versucht, wovon eine Elegie mit dem Titel „Die Mädcheninsel“ Kunde gibt.

Ich erinnere mich, daß uns im Literaturunterricht (Ende 60er Jahre) das Geschick einer Frau und Dichterin vermittelt wurde, deren Einsamkeit und Unerfülltheit letzthin als unausweichlich betrachtet werden müsse. Und wir jenen berühmten Vers vom Mond und den Plejaden genau in diesem Sinne interpretierten.

Den Herausgebern des vorliegenden Bandes kommt der Verdienst zu, einen Raum für die Auseinandersetzung mit Sapphos Werk jenseits ausgetretener Pfade im Verlaufe der Rezeptionsgeschichte eröffnet zu haben. Dazu haben sie eine Anzahl zeitgenössischer Autorinnen und Autoren eingeladen, ihre Antworten auf Sappho von Mytilene, wie sie sich aus den überlieferten Versen konstituiert, ihre Lesarten einzelner Fragmente, ihre Reflexionen, Assoziationen und Variationen beizusteuern. Weit über vierzig von ihnen sind mit viel Lust der Einladung zu einem Unterfangen gefolgt, das einer Expedition gleicht, die zum Teil überraschende Ergebnisse zeitigt.

Birgit Kreipe bildet in ihren Annäherungen die auf Gefäßscherben fragmentarisch überlieferten Verse nach (S. 87). Angelika Janz (S. 89) brilliert mit ihrer Interpretation, indem sie Vorgefundenes ergänzt und damit einer Deutung unterwirft. Kerstin Becker weiß in ihrer dichterischen Antwort auf das Fragment 31 mit einer schönen Zeile zu überraschen: die Zunge stirbt mir im Gehäuse. (S. 46) Eine Besonderheit stellen die beiden Pioniere einer feministisch grundierten Sappho-Rezeption in den 60/70er Jahren des 20. Jahrhunderts, Marylin Hacker und Joan Larkin, dar. Hackers Replik auf eine Mädchenliebe in Fragment 31 findet sich gleich in zweifacher Übersetzung, was Bedeutungs- und Sinnverschiebungen im Prozeß der Übertragung nachvollziehbar macht. (S. 42/43) Hackers Verse dabei frech, zeitgenössisch und nie frivol. Bertram Reinecke geht in seinem Ansatz spielerisch mit der rezeptiven Wahrnehmung Sapphos in der jüngeren Kulturgeschichte um und macht die Mechanismen sichtbar, die den Moden resp. dem Zeitgeist zugrundeliegen, was in der Folge mit der Überlieferung geschieht, aus ihr herausgelöst, weitergetragen, verändert wird. (S. 82/83). Als Kür kann die Abteilung „Alles wird Mond“ betrachtet werden, in der freie Variationen und Interpretationen zu Sapphos wohl bekanntestem Gedicht versammelt sind. In etlichen der Stücke kommt das Gestirn als eines zur Sprache, das entschwunden oder noch nicht aufgegangen ist, das fehlt. Und damit ist gleichsam von ihm als einer Metapher die Rede, die schon des längeren in der deutschsprachigen Dichtung als unzeitgemäß erachtet wird, doch hier in einer spielerischen wie auch (selbst-) ironischen Näherung und Brechung Substanz zurückerhält. Brigitte Struzyk hat die Rückseite des Mondes bemalt, sieht die Verwandlungen, die dessen Licht zeitigt, sich im Traum vollziehen. Marianne Lanz fragt: brauchen wir überhaupt einen/ wir versuchen es mit lampen luxus plänen. Michael Gratz führt spielerisch vor, was herauskommen kann, wenn die Verse mittels der Stillen Post die Filter mannigfacher Übertragung passieren – im Ergebnis ein polyglottes Intermezzo. Und daß in diesem Zusammenhang auch ein Prozeß von Be- und Umschreibungen statthat (seit wann ist eigentlich die Verwendung dieser Begrifflichkeiten in Bezug auf die mündliche Entäußerung nachweisbar?). Martin Piekar weist in seiner Sapphoesie der Dichterin ihren Ort irgendwo zwischen Voll- und Sichelmond zu und Marcus Roloff variiert Sapphos Verse gleich in vier vierzeiligen Nachtgedichten, hier das erste: abgang mond, das/ siebengestirn inkl. 24 h./ alles fließt, aber/ ich liege.

Dirk Uwe Hansen, der mit Michael Gratz als Herausgeber des Bandes zeichnet, hat Sapphos Fragmente am Schluß in einer eigens dazu erstellten Prosaübertragung zu einem Ganzen gefügt, einer Art Brief, gerichtet an Unbekannt. Und für mich wird gerade dort noch einmal deutlich, daß die überlieferten Zeilen und Verse gleichsam Flaschenposten darstellen, deren Entstehungskontexte, das Warum und Woher, sich im Vagen bewegen, nur schwer rekonstruieren lassen. Nicht nur in diesem Zusammenhang lohnt es sich, seine 2012 editierten neuen Übersetzungen und Nachdichtungen ausgewählter Fragmente Sapphos („Sappho. Scherben – Skizzen“) daneben zu legen, wo er sich zum Teil größere dichterische Freiheiten erlaubt als im vorliegenden Band, so beispielsweise in Bezug auf Frg. 51. In der Übersetzung lautet der Vers: Ich weiß nicht, was ich tu. Zweifach sind meine Überlegungen. In Hansens Nachdichtung: Was weiß denn ich wo/ hin und welche ich bin/ so schnell. In „Muse, die zehnte“ wiederum: Ich weiß nicht, was ich tu. Gespalten sind meine Gedanken. Für mich bildet die mittlere Version die ausdrucksstärkste, jene, die auch im Sprechen selbst und in der nachempfundenen Metrik etwas von der Irritation der Autorin vermittelt. Aber daß diese verschiedenen Versionen bei einem Nachdichter zu beobachten sind, macht deutlich, daß die Auseinandersetzung mit Sappho noch längst nicht zu einem Ende gekommen ist, es hoffentlich nie sein wird.

Februar 2015


Muse, die zehnte. Antworten auf Sappho von Mytilene. Hrsg. von Michael Gratz und Dirk Uwe Hansen. Dt./altgriech. Greifswald (freiraum-verlag) 2014. 150 Seiten. 14,95 Euro.

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