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Monika Rinck: Auch Verluste schaffen Verbindungen

Montags=Text
Foto: Rocío Bertolina
Foto: Laurel Severin
Auch Verluste schaffen Verbindungen

Ein Nachwort von Monika Rinck


Wie Wälder miteinander sprechen, wie ihr Wurzelgeflecht, dessen Größe in etwa der ihrer Krone entspricht, Signale weitergibt, in den Baum hinein und an andere Bäume, wie die Bodenpflanzen des Waldes einander womöglich warnen, vor Schädlingsbefall, wie sie über das Wetter sprechen, über all diese Verbindungen dachte ich soeben nach, und was genau es sein mag, „wovon jede Zelle träumt“.

Wovon jede Zelle träumt ist der Titel des Lyrikbandes der mexikanischen Dichterin Maricela Guerrero, die der interessierten deutschen Leserschaft vielleicht schon durch ihr großartiges Bändchen Reibungen, Fricciones, bekannt sein dürfte. In einer idealen Welt wäre dies der Fall. Maricela Guerrero stellt Verbindungen her – genauso wie sie auf die Verbindungen hinweist, die man gemeinhin als so selbstverständlich betrachtet, dass man sie gar nicht mehr denkt. Es geht um die Verbindungen der Zellen untereinander, die Erinnerungen, die uns mit denjenigen verbinden, die nicht mehr sind, die Verbindungen aller Lebewesen miteinander, aber auch diejenigen, die zwischen Kapitalflüssen, der Sprache des Imperiums und der Verwertung von Rohstoffen bestehen. Import – Export. Sammeln, Klassifizieren, Bewahren und Schützen.

Maricela Guerrero begibt sich in den Denkraum uralter Verbindungen, und sie schafft außerdem neue. Sie stellt uns Frau Olmedo vor, Biologin, Botanikerin, Lehrerin für Naturwissenschaften, eine unvergessliche, weise und engagierte Frau, die immer schon wusste, dass ein Baum kein Einzelwesen, sondern Teil eines Netzes ist. Frau Olmedo, die nicht nur Quell umfassenden taxonomischen Wissens ist, sondern ihre Schüler und Schülerinnen auch lehrt, Sprachen voneinander zu unterscheiden, Zahnschmerzen mithilfe von Nelken zu lindern und Wunden mit Aloe Vera zu heilen. Die Dichterin schenkt uns ihre Erinnerungen.

Kein Zweifel, dass ich einen Körper brauche, um mich zu erinnern. Dass ich einen Körper brauche, um zurückzugehen in der Zeit und undeutliche Bilder hervorzuholen, aus der Kindheit, Worte, die mir einst ganz neu waren, Sätze, die ich damals erstmals hörte. Dass ich einen Körper brauche, der aus Zellen besteht, ist klar. Wie mein Körper das anstellt, mich mit Erinnerungen zu versorgen, ist mir ein Rätsel. Zum Glück ist er auf mein Wissen nicht angewiesen. Sicher ist aber, dass die Zellen daran beteiligt sind. Ich stelle mir die Zellen wie ein Netz vor, was vermutlich nicht korrekt ist. Ich stelle mir vor, wie die Zellen in mir miteinander kommunizieren, um mich an ein Stück Wald zu erinnern, das wir "das Tälchen" nannten. So stelle ich eine Verbindung her, die in diesem Augenblick mehr als 40 Jahre überwindet. Ob sich nun eine meiner Zellen in diesem kleinen Waldstück befindet, während ich mich an meinem Wiener Schreibtisch an den geschotterten Weg in Richtung Ernstweiler erinnere?

Ein weiterer Umweg bietet sich an, denn soeben kommt mir der Vierzeiler in den Sinn, der dem Gedicht „Lost in Translation“ von James Merrill vorangestellt ist: „Die Tage die, leer dir scheinen / und sinnlos für das All / haben Wurzeln zwischen den Steinen / und trinken dort überall.“ Ich zitiere aus dem Gedächtnis und stelle mir das Geflecht aus feinen Wurzeln vor, das mich mit dieser Strophe verbindet. Es handelt sich um vier Zeilen von Valéry, in der Übersetzung von Rilke. Die Erinnerung des lyrischen Ichs in diesem recht umfangreichen Gedicht bringt Mademoiselle zurück in die Gegenwart, die Privatlehrerin, die dem Dichter offenbar deutsch und französisch nahebrachte, und eine Welt jenseits der unmittelbar gegebenen. Das sind die letzten Zeilen des Gedichtes „Lost in Translation“:

Lost, is it, buried? One more missing piece?

But nothing's lost. Or else: all is translation
And every bit of us is lost in it
(Or found – I wander through the ruin of S
Now and then, wondering at the peacefulness)
And in that loss a self-effacing tree,
Color of context, imperceptibly
Rustling with its angel, turns the waste
To shade and fiber, milk and memory.

Ein Gedicht, das „Lost in Translation“ heißt, kommt am Ende (in Athen) zu dem Schluss, dass nichts verloren geht. Oder: Alles Übersetzung ist, und noch das kleinste Teil von uns darin verloren, oder auch gefunden ist. Das letzte Wort lautet „memory“ – Erinnerung, gefunden und aufbewahrt.

Ich durfte die Arbeit an der Übersetzung des Bandes „Wovon jede Zelle träumt“, die Johanna Schwering erarbeitet und im Dialog mit Maricela Guerrero unermüdlich korrigiert und verbessert hat, begleiten und bin sehr dankbar dafür, Zeugin dieses Prozesses gewesen zu sein. Lektionen der Wachsamkeit, heißt ein Kapitel des Buches. Es kommen hinzu: Methoden der Aufmerksamkeit. "Frau Olmedo sagte wichtige Dinge: reist und lernt von der Wachsamkeit." Einmal in Gang gesetzt, bewegen sich diese Impulse weiter. Was Frau Olmedo lehrte und was Maricela Guerrero festgehalten, weitergedacht und fortgesetzt hat, wurde in der Übersetzung aufmerksam und wachsam in die deutsche Sprache hineinverlängert und kann nun weitergehen. "Manchmal scheint es möglich / ein Netz zu spannen." Die poetischen, botanischen und biologischen Netze, die Maricela Guerrero spannt, sind stabil, aber nicht nur idyllisch: Auch der Raubbau, die Förderung von Rohstoffen, der Kahlschlag greifen ein in Verbindungen und erschaffen neue. Manchmal sind sie von Protesten begleiten, oft geschehen sie einfach und begegnen dann als unvorstellbare Zahlen oder Vergleiche: Jede Minute werden 42 Fußballfelder Regenwald vernichtet, so ein Beispiel aus dem Jahr 2020. Es ist anzunehmen, dass die zerstörten Verbindungen größer und vielfältiger sind, als die Verbindungen, die durch Kahlschlag entstehen.

Im Atem sind alle Lebewesen miteinander verbunden. „Wir atmen gemeinsam und die Angst ist ein Tier, das sich bei uns niederlegt und schläft.“ Und etwas später heißt es: „Atmen ist eine runde und warme Form des Widerstands.“ Dass es nicht ausreiche, etwas zu sagen, es müsse geatmet werden, lese ich im letzten Gedicht des Bandes, das den Titel „Ausgangspunkte“ trägt. Am Ende kehre ich also lesend an den Anfang zurück. Gleichzeitig macht Maricela Guerrero damit klar, dass im Ende der Anfang verborgen ist, und dass ein Ausgangspunkt auch Veranlassung dazu geben kann, das Ende zu beeinflussen, das heißt, ein anderes Ende zu erkämpfen. Denn wenn wir einmal von all den Verbindungen ausgingen – und unverbunden würde kein einziger Mensch das Säuglingsalter überleben – warum soll dann am Ende das Unverbundene allein zu stehen kommen?

Auch die Arbeit an der Übersetzung von Gedichten schafft neue Verbindungen, insbesondere da, wo es fraglich ist, ob verschiedene Sprachen wirklich über äquivalente Synonyme verfügen. Und, anders als im Raubbau, ist es bei guten Übersetzungen zum Glück der Fall, dass auch da, wo etwas verloren geht, etwas anderes gewonnen wird. Das Wissen um den Verlust, und die erfindungsreiche, wachsame und aufmerksame Neuerfindung einer Verbindung zwischen zwei Zeilen in unterschiedlichen Sprachen.


In Maricela Guerrero: Wovon jede Zelle träumt. El sueño de toda célula. Gedichte. Zweisprachig. Aus dem mexikanischen Spanisch von Johanna Schwering. München (APHAIA Verlag) 2021. 147 Seiten. 19,00 Euro.
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