Michael Krüger: Nachwort zu Luis Quintais' "Die reglose Nacht"
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Michael Krüger
Nachwort zu Luis Quintais: Die reglose Nacht
Ende des vergangenen Jahrhunderts war ich
für zehn Jahre in München der Nachbar des Übersetzers und Schriftstellers Curt Meyer-Clason und seiner Frau. Wir
kannten uns schon von früher, und er hatte mich auch einmal nach Lissabon
eingeladen, wo er in den entscheidenden Jahren vor der Revolution das
Goethe-Institut leitete. Wahrscheinlich hat vor und nach ihm kein Politiker so
viel für die portugiesische (und brasilianische) Literatur getan wie dieser
Enthusiast, der in seiner Jugend einmal nach Brasilien geschickt worden war, um
Kaufmann zu werden. Nach meiner Einschätzung ist er nie ein grosser Kaufmann
geworden, weil sein Enthusiasmus ihn dazu nötigte, sein Leben der Literatur zu
widmen. Wie so oft im Leben, genügt eine charismatische Figur, dass man sich
plötzlich für eine Sache interessiert, die normalerweise am Rande geblieben
wäre. Plötzlich drehte sich alles um die portugiesische Literatur: der Verlag, in
dem ich arbeitete, verlegte nun portugiesische Autoren ( Antonio Lobo Antunes, Eugenio
de Andrade und Cardoso Pires), ich traf andere Autoren auf der Dachterrasse von
Meyer-Clasons - Miguel Torga, Almeida Faria, Yvette Centeno - ,und wenn unser
Autor und Freund Antonio Tabucchi bei uns war, wurde ununterbrochen von
Fernando Pessoa gesprochen, der in meinem Freund Peter Hamm einen der besten
Kenner seines Werkes gefunden hatte (leider erst lange nach Pessoas
Tod).Überdies war ich mit dem portugiesischen Maler Costa Pineiro befreundet, der
auf unzähligen Bildern das unfixierbare Porträt von Pessoa gemalt hatte. Kurz: In
einer bestimmten Periode meines Lebens wusste ich sehr genau, wie man den
ersten Modernismo vom zweiten Modernismo zu unterscheiden hatte, und wenn heute
der erste Satz des Wikipedia-Eintrags zur portugiesischen Literatur lautet: "Die
Lyrik ist die bedeutendste Kunstgattung Portugals, und die einzige, die
wirklich Weltgeltung erlangte", dann ist das nicht zuletzt der
insistierenden Vermittlung des genialischen Freundes Curt "Hugues"
Meyer-Clason zu danken. Um wenigstens den Klang der Sprache zu inhalieren, bin
ich damals gleich nach der Revolution nach Portugal in die Ferien gefahren.
Das meiste von Hugues habe ich - neben
seinen Büchern natürlich - auf der Strasse von ihm gelernt, gewissermassen im
Vorbeigehen. Denn wann immer er unterwegs war, übersetzte er im Kopf Gedichte, er
passte deren Rhythmus seinen Schritten an, und es konnte vorkommen, dass er in
dem kleinen Laden des Türken bei uns an der Ecke erst ein
Übersetzungsproblem lösen musste, bevor er seine Bestellung aufgeben konnte. Bei
einer dieser Gelegenheiten, ich habe es nicht vergessen, habe ich zum ersten
Mal den Namen Herberto Helder gehört, der in Portugal eine geradezu kultische
Verehrung genoss, obwohl er alles tat, um die Aufmerksamkeit von sich
abzulenken: seine Bücher durften nur in kleinen Auflagen erscheinen, in fünfzig
Jahren hat er ein Interview gegeben, und dem Betrieb hielt er sich fern - nicht
einmal Preise hat er angenommen. Und trotzdem konnte meine Freundin Yvette
Centeno damals sagen: Wenn einer die portugiesische Literatur erneuert hat, dann
war es der aus einer jüdischen Familie von Madeira stammende Helder.
Ich habe sicher zwanzig Jahre nicht mehr
an Helder gedacht, obwohl mich mein Freund Manuel Alberto Valente immer wieder
ermahnt hat, mich mit seinem Werk zu beschäftigen. Aber jetzt, als ich die
website von Luis Ferdinando Gomes da Silva Quintais durchstöberte, um nach
gemeinsamen Freunden zu suchen, fand ich seinen Namen wieder. Luis hat ihm und
seiner Anthologie "Poesia Experimental" eine schöne Ehrung
widerfahren lassen, und zum ersten Mal in meinem Leben habe ich auch ein Foto
von Helder gesehen: er schaute mich wie von einer Münze aus an. Gleich unter
Helder waren noch einige andere Favoriten abgebildet, nämlich der exzentrische
englische Dichter Philip Larkin, der bei uns so wenig bekannt ist, weil ihm
Übersetzungen seiner Gedichte ein Graus waren ( er stünde heute an der Seite
der Brexiteers), die indische Dichterin Eunice de Souza, mit der ich mich auch
einmal befasst habe (Luis druckt das herrliche Photo der Dichterin mit einem
Papagei auf dem Kopf) und Claude Levi-Strauss und seine Studien über Japan, was
wiederum den ethnologischen und anthropologischen Interessen von Luis
geschuldet war. Und seinem Interesse an Photographie! Vor vielen Jahren habe
ich einmal einen Band mit den Photographien von Levi-Strauss verlegt, die er
während seiner berühmten Tristes-Tropique-Reise gemacht hat, ursprünglich
wahrscheinlich, um Anhaltspunkte für die spätere Beschreibung zu haben, die
sich aber, Jahrzehnte später angeschaut, auch als eigene künstlerische Arbeiten
herausstellten.
Luis Quintais ist Anthropologe. Eine
seiner wissenschaftlichen Veröffentlichungen ist dem Tagebuch des
stellungslosen deutschen Seemanns Franz Piechowski gewidmet, der 1930 den
Gesandten des Deutschen Reichs, Karl Albert von Baligard, in Lissabon
erschossen hat. Baligard war 1928 nach Lissabon berufen worden, nach Stationen
in Berlin, Lausanne und Athen; ausserdem war er Mitglied der deutschen
Delegation bei den Friedensverhandlungen von Brest - Litowsk. (Er hat neben
vielen rechtshistorisch interessanten Aufsätzen und Rezensionen einen bis heute
bemerkenswerten Aufsatz über die Arbeiterbewegung in Griechenland in den
Sozialistischen Monatsheften geschrieben, in dem er festhält, dass eine
klassenbewusste Bourgeoise ebenso fehle wie ein klassenbewusstes Proletariat; seine
Dissertation über den Ehevertrag von 1906 ist heute noch erhältlich, für 20
Euro.) Für einen medizinisch orientierten Anthropologen muss das Tagebuch des
armen Seemanns natürlich eine Fundgrube sein: wann und warum musste er zur
Waffe greifen, um sicher nicht einen unmittelbar Verantwortlichen seines
sozialen Niedergangs umzubringen. Luis hat sich auch später mit
post-traumatischen Problemen beschäftigt, etwa bei portugiesischen Ex-Soldaten, die ihre Erlebnisse in den kolonialen
Auseinandersetzungen verarbeiten mussten und oft nicht konnten.
Seit 2005 ist Luis Quintais, der (im für mich schönen Jahr) 1968 in Vila Luso in
Angola zur Welt gekommen ist und wahrscheinlich in seiner Familie ein reiches
Material für Feldforschung zur Verfügung hat, Professor für Anthropologie im
schönen Coimbra - und ein Dichter, der für seine Gedichte
mit vielen Preisen, zuletzt mit dem angesehenen Preis der Ines de
Castro-Stiftung ausgezeichnet worden ist. Wissenschaftler und Dichter, geht
das? Ja, wenn man ein pensador lirico ist, ein Dichterdenker, der bei seinen
Forschungen in dem unübersichtlichen Gebiet zwischen den Kulturen jenes
lyrische Denken entwickelt, das ihm hilft, eine eigene Poetik zu erarbeiten. Sein
neues Buch, das zweite in deutscher Übersetzung, beginnt mit dem lapidaren
Befund: Die Welt liegt im Sterben. Wer so anfängt, muss sich seiner Sache
entweder sehr sicher sein (banal) oder er will provozieren (das kann mit so
globalen Aussagen aber ins Auge gehen) oder aber er ist sehr unsicher und baut
eine hohe Hürde auf, um sie Stück für Stück zu dekonstruieren, oder
altmodischer: abzubauen. Man muss den poetischen Zickzackkurs um die grossen
Begriffe herum nachvollziehen, um das poetische Prinzip zu erkennen, das diesen
Autor leitet. Dass er sich bei seinem Erkenntnishindernislauf vieler Dichter
und Denker versichert, spricht für ihn - keiner kann es mehr allein schaffen
oder es handelt sich um einen Scharlatan, Hochstapler oder Betrüger, von denen
wir schon genug haben. Jemand hat soeben Europa die Kehle durchgeschnitten, heisst
es in einem seiner Texte, jetzt brauchen wir sehr gute, sehr intelligente
Ärzte, die nicht nur die Wunde verbinden, sondern auch eine Therapie kennen, sie
auszuheilen. Nur Narren glauben, dass das die Politiker wären. Und auch die
Dichter sollten nicht als Heiler auftreten, als Schamanen. Oder warum
eigentlich nicht?
Ich freue mich, dem schwierigen und
schönen Gedichtband von Luis ein paar Zeilen voranstellen zu dürfen. Deshalb
will ich auch noch auf die letzten Zeilen des Buches hinweisen, die ja ein
fernes Echo auf die brutale Eingangssequenz darstellen: "Wir wurden von
dieser Blume, von diesem Himmel, von diesem Morgen erwartet. Die blaue Blume, die
überlebende blaue Blume wird in der Wüste geboren werden. Die Nacht wird
gefaltet, reglos bleiben, beschrieben durch neue Eigenschaften, unruhige
Schatten, unaufhörliche Winde."
Allmannshausen, im Sommer 2020
Geschrieben für Luís Quintais: Die reglose Nacht.
Poesie. Aus dem Portugiesischen von Mário Gomes. München (Aphaia Verlag) 2021.
167 Seiten. 17,00 Euro.
