Direkt zum Seiteninhalt

Michael Heller: Einführung

Theater / Kunst > Kunst
Michael Heller
Beckmann-Variationen
(Auszüge)

übersetzt von Joachim Frank


Der folgende Text wird im Original als “1.” eingeführt.  Er ist eine Einleitung in die Sammlung der “Beckmann-Variationen” und beschreibt auf lyrische Weise den Morgen, als Heller und seine Frau zur Tate gefahren sind.


1.  Einleitung


Schwierig für mich, diesen Morgen in London zu vergessen, im Winter 2003, als ich mit meiner Frau in den Bus Nr. 4 stieg, um die Beckmann-Ausstellung in der Tate Modern zu besuchen. Fast wie kleine Götter saßen wir auf dem oberen Deck des Busses, schauten hinunter auf die geschäftigen Straßen, sahen, wie sich der Alterseindruck der Nachbarschaften änderte.  Von Londons Norden, von Islington, durch Angel mit seinen wirbelnden Fluten von jungen Leuten, wusch eine animierte See gegen das umblätterte  Clerkenwell, ebbend und steigend, um das neue Sadler's Wells Theater, den schäbigen Zeitungsbüros mit den Papiermachern. Und da waren wir, hoch oben, fuhren vorbei an den Pubs, in denen wir gesessen und Poesie gelesen hatten.  So viel schaute schön and freundlich aus in dieser schmuddeligen Londoner Art.  Dann kam unser jäher Schwung zum Fluss im Süden, die blendende Sonne flog in unsere Gesichter, als ob die Realität auf uns plötzlich eingeschlagen hätte. Jetzt lag die Stadt da in ihrer kreuzquerigen Geschäftigkeit, und mit ihr das alte dilapidierte East End. Und schließlich kamen wir zu der Gegend um St. Paul’s, überspült von seiner düsteren englischen Geschichte: der Tower, die Hinrichtungsstätte, die rostigen Käfige bei Wapping, die Hundeinsel.  Hier, wo die Themse eine Kurve macht und sich nach Norden beugt, dominiert die alte Kathedrale, die Straßen überragend, und auf ihrer grasbewachsenen Insel landet das regengebeizte Gebäude wie ein Schlachtschiff, das an Old England und ein altertümliches, übernatürliches Europa angebunden ist. Vor vielen Jahren wanderte ich in St. Paul’s herum, atmete die rauchige Luft brennender Kerzen, deren Ruß die Gemälde christlicher Märtyrer und Heiliger schwärzte; der Altar war so angestrahlt, dass er aussah wie ein Trugbild oder eine paradiesische Opfergabe, wenn man ihn von der Ferne sah, hinweg über die Reihen raumvoller Stühle.

Aber es war nur ein kurzer Weg von St. Paul’s zum Damm und über die krakelige postmoderne Milleniums-Fußbrücke zur South Bank und der Tate Modern, mit ihren ausgedienten Schornsteinen aus Backstein.  Ich erinnere mich, wie wir beide an diesem kalten Morgen Hand-in-Hand über den schlanken weißen Brückenbogen gingen.  Die Morgenbrise bewegte die Themse. Helles Sonnenlicht blendete den Schnitt der Gebäude, die die Ufer säumten, und verfing sich in den Glasfenstern dieser Architekturkomödie, dieser Gurke, weiter unten bei den Docklands.  Und in mir war das Gefühl, als ob wir durch uns selbst wandelten, als ob wir unsere eigene Haut verließen und in eine Strömung tauchten, die unsere Geschichte trug und unsere Kultur, und all ihr Entertainment, sogar die eigene Geschäftigkeit, mit ihren Jahren an Diskurs.  Dieser Gang über die Brücke war also Teil einer Meditation, nicht nur weil wir so viel über Kunst und Dichtung mit gleichem Atem gesprochen hatten, sondern auch weil es Momente gab, in denen die Bilder und unsere Worte sich so aufeinander bezogen, dass sie sich zu einer kraftvollen Illumination jener Welt ergänzten, durch die wir gehen. Und ich dachte damals nicht nur an Beckmann, dessen erschreckendes späteres Werk ich kaum kannte, sondern auch an Yeats, als dieser in Per Amica Silentia Lunae zu “Maurice,” Maud Gonne’s Tochter Iseult, sprach und ihr sagte, dass er alle Dinge niederschreiben werde, die er gesagt hatte und noch sagen wollte an dem Tag, an dem sie zusammen spazieren gingen.
Zurück zum Seiteninhalt